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Re: [ox] Entwicklungsbegriff



Hi auch,

Benni Bärmann wrote:
>>Die Frage ist also: welche Prozesse können Entwicklungsprozesse sein?
>>- psychische: ja, die Ontogenese z.B.
>
> Ich musste im Lexikon nachgucken und da stand Ontogenese als
> biologische (Das steht da so, da kann ich nix dafür ;-) Entwicklung
> von der Eizelle zum geschlechtsreifen Individuum.

Oops, sorry. Statt Ontogenese hätte ich auch Individualentwicklung sagen
können, was aber nicht für sich spricht. Es geht allerdings nicht nur um
die bloss biologische Entwicklung, sondern auch um die individuelle
Entfaltung der gesellschaftlichen Natur des Menschen (die ihm qua Geburt
zukommt).

>>- biotische: ja, die Phylogenese z.B.
>
> Blätter... Ah, Stammesgeschichte
>
>>- physikalisch: ja, die Genese des Universums (nur eine Vermutung)
>
> Hm. Na das ist ja in sich unlogisch, da ja dann das Universum aus
> etwas anderem entstanden sein müsste. Aber Galaxienbildung z.B.
> vielleicht.

Ich bin kein Physiker, aber so wie ich die Debatte um die Entstehung des
Universums mitverfolgt habe, geht es da schon um Fragen der Entstehung
aus Entwicklungswidersprüchen. Es ist ja nicht so, dass es urknallte und
dann - plopp - war alles da. Sondern gerade in den ersten Phasen war
ziemlich was los. Das ist (für mich) deswegen spannend, weil der
Gegenstand der Physik überhaupt erst entstand (samt den physikalischen
Gesetzen). Der initiale Punkt ist natürlich ein Sonderfall.

>>Die Antwort hört sich zirkulär an, aber sie lautet: Überall, wo es um
>>die Werdensgeschichte in einem bestimmten Gegenstandsbereich geht,
>>also um Entwicklung im Sinne einer zeitlichen Herausbildung, da macht
>>es Sinn den Fünfschritt zu verwenden.
>
> Aha. Gut, dann probier ich das jetzt einfach mal anhand der obigen
> Beispiele. Zur Errinnerung hier nochmal der Fünfschritt (aus Deinem
> Vortrag):
>
> (...)
> So, dann gucken wir uns doch einfach mal eines der obigen Beispiele
> an:
>
> Galaxienbildung:
>
(snip)
>
> Na, ich weiss nicht. Vielleicht bin ich ja auch zu blöd, aber ich seh
> das nicht, wie das zusammengeht und vor allem was es bringen soll. Ich
> denke, der Fünfschritt macht überhaupt nur Sinn in einem intentionalen
> Kontext (also psychisch oder gesellschaftlich) und da auch nicht
> immer.

Nein, absolut nicht. Es macht auch in nicht-intentionalen Bereichen
Sinn. In deinem Beispiel würde ich allerdings genauso rumdiletieren wie
du. Per Karikatur kann man so ziemlich alles als abstrus darstellen. Das
bringt nichts.

>> > Also definiere ich mir "System" und "wesentliche
>> > Entwicklungsdimension" so lange hin bis es passt? Das kann es ja
>> > wohl nicht sein, oder?
>>
>>Doch, das ist es. Das findet nämlich in Wissenschaft "eigentlich"
>>sowieso immer statt.
>
> Ja, da ist was dran. Aber das ist ja dann schon fast Konstruktivismus,
> oder? Hätte ich jetzt von Dir nicht erwartet. Du bist doch sonst eher
> von der objektiven Fraktion (oder verwechsel ich da jetzt schon wieder
> die beiden Stefans? Bin mir grad unsicher) ;-)

Nach meinem Eindruck suchst du immer noch nach einer passenden Schublade
für mich. Es beruhigt mich, dass du keine findest;-)

>>Der Fünfschritt macht das alles nur ganz explizit.
>>Damit liegt es offen, ist kritisier- und weiterentwickelbar.
>
> Hm, das könnte man aber auch erreichen in dem man "System" und
> "wesentliche Entwicklungsdimension" einfach benennt. Ob ich das dann
> mit einem 1, 3, 5 oder 42-Schritt mache, ist doch wurscht.

Was heisst "einfach" (im Sinne von nur) - auf jeden Fall "benennen"! Das
ist die Voraussetzung für die Nutzung von solchen Entwicklungszügen wie
dem Fünfschritt. Das wäre - 5-Schritt hin oder her - mein Anspruch an
Wissenschaft. Passiert nur sehr selten.

Es spricht auch nix dagegen, andere analytische Verfahren zu nutzen. Sie
müssen nur gegenstandsadäquat sein. Wenn du also andere Schritte machen
willst: Bitte, nur weise sie aus. Was ich nicht akzeptabel
(unwissenschaftlich) finde, ist, über dieses erkenntnistheoretische
Problem einfach hinwegzugehen. Das passiert aber zu Hauf, es wird so
getan, als sprächen die Fakten für sich. Das ist dann nur noch blödster
Positivismus. Der korrespondiert allerdings sehr gut mit der "zweiten
Natur" der totalitären "Ökonomie", in der auch die Fakten "für sich
sprechen". Ich meine das alles nicht agententheoretisch (als ob es
jemanden gäbe, der uns Lügen erzählt oder so), sondern das
positivistische Wissenschaftsverständnis ist in gewisser Weise auch die
in dieser Gesellschaft adäquate Denkform. Na, jetzt geht's off topic.

>>Wenn bürgerliche Wissenschaft anfängt mit Nachdenken, ist meistens
>>schon alles gelaufen: sprich der kategoriale Bezugsrahmen steht fest.
>>Der kommt irgendwo her, aus der Anschauung, der Erfahrung, der
>>Tradition etc. Die Kategorien sind meist nicht Gegenstand der
>>Wissenschaft selbst.
>
> Auch die Kategorien kann man in jeder beliebigen Schrittzahl oder
> unter jedem beliebigen anderen Muster klären. Auch dafür braucht man
> nicht zwingend einen Fünfschritt.

Ich habe nicht erklärt, man brauche zwingend den Fünfschritt. Ich habe
*nur* behauptet, dass man damit besonders gut Entwicklungsprozesse
begreifen kann. Das kann man nicht formal klären. Wenn du meinst, anders
geht's genauso gut oder besser: Dann mal ran. Ich lasse mich gerne von was Besserem überzeugen.

>>Deswegen verläuft die Geschichte der wissenschaftlichen Revolutionen
>>so diskontinuierlich: die Vertreter alter Paradigmen müssen erst
>>aussterben (die Sache von Kuhn, auf den sich inzwischen allerdings
>>alle berufen).
>
> Und nicht-bürgerliche Wissenschaft (so es so etwas überhaupt gibt) hat
> dieses Problem nicht? Belege? Wenn ich mir so die Geschichte des
> Marxismus angucke hat man eher den Eindruck, dass da die alten
> Paradigmen noch mehrere Generationen überleben anstatt nur eine ;-)

Ist *der* Marxismus nicht auch eine dieser bürgerlichen Wissenschaften?
Jedenfalls hat sich ausgerechnet die modernisierungstheoretische Linie
durchgesetzt, deren Hinausdenken über den Kapitalismus immer sehr
abstrakt und unvermittelt erscheint ("...und irgendwann, liebe Kinder,
haben wir dann den Kommunismus").

Vielleicht kannst du auch die Geschichte des "Marxismus" fünfschrittig
denken: Die Keimformen im "Marxismus" (->1), die den Kapitalismus
überschreiten, kommen erst in einer Situation der (Denk-) Systemkrise (->2) (wieder) zum Vorschein und können sich als Denkrichtung ausweiten (->3). Mit zunehmend erfolgreicher Praxis wird der Modernisierungsmaxismus obsolet und durch ein *ismus als dominanter Denkform abgelöst (->4), der sich mit der Aufhebung des Kapitalismus gleich mit aufhebt (->5).

Nein, man muss es nicht für alles und jedes anwenden.

>> > Ausserdem geht der Streit ja bei gesellschaftlichen
>> > Entwicklungsprozessen meist genau darum, was die wesentlichen
>> > Entwicklungsdimensionen sind.
>> >
>> > Du erhebst ja mit dem Keimformbegriff den Anspruch, dass er
>> > erkenntnisleitend sein soll. Hier klingt es aber jetzt eher so, als
>> > sei er Ziel der Erkenntnis.
>>
>>Wieso das, verwechselst du was? Die Entwicklungsdimension ist die der
>>Produktivkraftentwicklung, also die Art und Weise wie Menschen ihr
>>Leben produzieren. Der Gegenstandsbereich ist die
>>gesellschaftlich-historische Entwicklung aka Gesellschaftsgeschichte
>>(hier in dieser Debatte).
>
> Wenn jetzt aber jemand sagt, die Produktivkraftentwicklung sei
> garnicht die wesentliche Entwicklungsdimension (soll es ja geben),
> dann musst Du entweder aufhören mit demjenigen zu reden oder Du musst
> dafür Gründe liefern. Die Keimform ist in diesem entscheidenden Punkt
> aber nicht mehr hilfreich, da sie das ja schon vorraussetzt. Das
> wollte ich sagen.

Ja, exakt erfasst. Die Diskussion beginnt mit der Frage, ob denn die
Produktivkraftentwicklung die wesentliche Entwicklungsdimension ist.
Eine solche qualifizierte Diskussion hätte ich gerne. Die
Krisis-Theoretiker, die von ihrer Substanz IMHO das Zeug hätten, lassen
sich darauf nicht ein, weil sie damit eines ihrer theoretischen
Grundmotive (wir weisen nach, dass sämtliche Begriffe im Marxismus
Ontologisierungen darstellen, die aber in Wahrheit gar nicht
überhistorisch gelten - siehe Arbeit etc.) hier aufgeben müssten. Sie
betreiben leider so eine Art Anti-Ontologismus-Orthodoxie. IMHO. Nicht
dein Problem, ich weiss.

> Hm, man könnte sich aus diesem Dilemma vielleicht rauswinden, wenn man
> die Keimformthese selbst als Keimform begreift. Eigentlich logisch.
> Errinnert mich auch ein bisschen an Christophs Abschnitt über
> postmoderne Theorien.

Die Keimformthese als Keimform von was?

>> > Du hast also ein halbes vergangenes und ein möglicherweise
>> > zukünftiges Beispiel für "Keimform" untersucht und postulierst
>> > dann, dass _alle_ Entwicklungsprozesse so verlaufen? Ziemlich
>> > dünne Grundlage wie ich finde.
>>
>>Nicht alle. Sondern die für den jeweiligen Gegenstandbereich bezüglich
>>der ausgewiesenen Entwicklungsdimension. Ich habe mich mit dem o.g.
>>beschäftigt, andere mit anderen. Alles andere als dünn.
>
> Hast Du Quellen?

Die schon mal erwähnte "Grundlegung der Psychologie" führt das für die
Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen in der
Phylogenese sehr detailliert durch.

>>Ja, ist jetzt einfach zu dünn, in einer Mail ein paar Sätze
>>hinzustellen. Das ist einfach nicht so einfach;-)
>
> Tja, bekanntlich sind ja aber die einfachen Theorien die Besten ;-)

So? Vielleicht die werbebesten...

>> > Wer sagt denn, dass es da überhaupt
>> > "Gesetzmäßigkeiten" geben soll?
>>
>>Wer sagt dir, in welchem Film du bist? Ist es ein Film oder die
>>Wirklichkeit? Oder ist das das Gleiche? Na, und so weiter. Das sind
>>Grundfragen der Philosophie. Und weisst ja: Da halte ich mich an meine
>>spezielle Variante materialistisch-historischer Dialektik - stets das
>>Beste von allem;-)
>
> Dagegen ist ja nix einzuwenden. Ich wehre mich nur gegen die
> Behauptung, dass man alles damit angucken _muss_.

Habe ich nicht behauptet, nur, dass es sehr nützlich sein kann.

> Wichtig wird das durch den
> Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Charakter der Keimformthese:
> _Wenn_ nämlich die Keimform nur im Nachhinein erkennbar ist, ist
> Keimform nur erkenntnisleitend, wenn tatsächlich _alle_ wesentliche
> gesellschaftliche Entwicklung so und nicht anders abläuft.

Nein, nicht alle, sondern *nur* die bezüglich der genannten
Entwicklungsdimension wesentliche. Ok, da es uns (jeden falls mir) hier
um nichts geringeres als die Transzendenz der warenproduzierenden
Gesellschaft geht, ist das schon sehr umfassend. Aber auch hierin gibt
es gesellschaftliche Entwicklungen, die dafür ziemlich irrelevant sind.

Die Möglichkeit des Scheiterns der Keimformüberlegungen habe ich ja auch
benannt. Natürlich besteht die - wie für jede Annahme. That's life.

> Ansonsten kann es ja sein, dass wir
> wie die Blöden nach Fünfschritten und Keimformen suchen und die
> gesellschaftliche Entwicklung längst in Sieben(meilen)schritten und
> Fnurz-Formen an uns vorbeigalopiert.

Wenn sie mir die Aufhebung abnimmt - gerne. Ein Scheitern der
Keimformthese durch Aufhebung über völlig unerwartete
Entwicklungprozesse ist mir lieber als eine negative Falsifizierung
durch Aufhebung der Menschheit.

> Mich errinnert das ganze auch irgendwie sehr an Hegels Dreiertick. Ich
> kann mit sowas nicht viel anfangen. Das hat doch schon fast den
> Charakter von pythagoreischer Zahlenmystik.

Zu diesem deinem Assoziationsproblem kann ich nichts sagen. Ich kann
damit nicht viel anfangen.

Ciao,
Stefan

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