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Re: [ox] Entwicklungsbegriff



Hallo!

On Wed, Oct 17, 2001 at 06:25:26PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
Hi Benni und alle, die sich noch erinnern können,

jaja, damals in der guten alten Zeit ;-)

 > Nochmal ein paar Nachfragen zur Keimform:
 >>>Dieser Keimform-Fünfschritt, gilt der IYO nur für "neue Systeme" also
 >>>für den Kapitalismus oder die nach-Kapitalistische Gesellschaft oder
 >>>gilt der allgemein für gesellschaftliche Entwicklungen also auch
 >>>innerhalb des Kapitalismus?
 >>>
 >>Nein, der gilt IMHO ganz generell für Entwicklungsprozesse (also auch
 >>nicht nur gesellschaftliche).
 >
 > Hups? Also auch psychologische, biologische und physikalische?

Btw: Das mit dem *logische ist schwierig: Das meint die jeweilige
Wissenschaft und nicht den Gegenstand der Wissenschaft. Deswegen:
psychisch statt psychologisch, biotisch statt biologisch.

Stimmt. Werde versuchen drauf zu achten. Andererseits hängen
Untersuchungsgegenstand und Wissenschaft ja auch immer zusammen. Die
Wissenschaften suchen sich ja eine Methode, die ihrer Meinung nach dem
Gegenstand angemessen ist und passen umgekehrt ihren Gegenstand oft auch der
Methode an.

Die Frage ist also: welche Prozesse können Entwicklungsprozesse sein?
- psychische: ja, die Ontogenese z.B.

Ich musste im Lexikon nachgucken und da stand Ontogenese als biologische (Das
steht da so, da kann ich nix dafür ;-) Entwicklung von der Eizelle zum
geschlechtsreifen Individuum.

Als Beispiel für einen psychischen Entwicklungsprozeß kann man ja aber
ziemlich viel nehmen. Erkenntnisprozesse z.B. oder das Erwachsenwerden (was
immer das ist).

- biotische: ja, die Phylogenese z.B.

Blätter... Ah, Stammesgeschichte

- physikalisch: ja, die Genese des Universums (nur eine Vermutung)

Hm. Na das ist ja in sich unlogisch, da ja dann das Universum aus etwas
anderem entstanden sein müsste. Aber Galaxienbildung z.B. vielleicht.

Die Antwort hört sich zirkulär an, aber sie lautet: Überall, wo es um
die Werdensgeschichte in einem bestimmten Gegenstandsbereich geht, also
um Entwicklung im Sinne einer zeitlichen Herausbildung, da macht es Sinn
den Fünfschritt zu verwenden.

Aha. Gut, dann probier ich das jetzt einfach mal anhand der obigen
Beispiele. Zur Errinnerung hier nochmal der Fünfschritt (aus Deinem
Vortrag):

* Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten

* Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten
Gesamtprozesses (Krisen')

* Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen
Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden Funktion
(erster Qualitätssprung)

* Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den
Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)

* Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der
neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

So, dann gucken wir uns doch einfach mal eines der obigen Beispiele an:

Galaxienbildung: 

Stufe1: Hm, was ist da die Keimform? Sternhaufen vielleicht.
Stufe2: Das Universum ohne Galaxien kommt in eine Gravitationskrise?
Irgendwie schräg.
Stufe3: Sternenhaufen kollidieren und beginnen zusammenzuwachsen
Stufe4: Die ersten Galaxien entstehen. Noch nicht in einer Galaxie zu sein
wird uncool unter den Sternen.
Stufe5: Alle Sterne befinden sich in Galaxien?

Na, ich weiss nicht. Vielleicht bin ich ja auch zu blöd, aber ich seh das
nicht, wie das zusammengeht und vor allem was es bringen soll. Ich denke,
der Fünfschritt macht überhaupt nur Sinn in einem intentionalen Kontext
(also psychisch oder gesellschaftlich) und da auch nicht immer.

 > Also definiere ich mir "System" und "wesentliche
 > Entwicklungsdimension" so lange hin bis es passt? Das kann es ja wohl
 > nicht sein, oder?

Doch, das ist es. Das findet nämlich in Wissenschaft "eigentlich"
sowieso immer statt. 

Ja, da ist was dran. Aber das ist ja dann schon fast Konstruktivismus, oder?
Hätte ich jetzt von Dir nicht erwartet. Du bist doch sonst eher von der
objektiven Fraktion (oder verwechsel ich da jetzt schon wieder die beiden
Stefans? Bin mir grad unsicher) ;-)

Der Fünfschritt macht das alles nur ganz explizit.
Damit liegt es offen, ist kritisier- und weiterentwickelbar.

Hm, das könnte man aber auch erreichen in dem man "System" und "wesentliche
Entwicklungsdimension" einfach benennt. Ob ich das dann mit einem 1, 3, 5
oder 42-Schritt mache, ist doch wurscht.

Wenn bürgerliche Wissenschaft anfängt mit Nachdenken, ist meistens schon
alles gelaufen: sprich der kategoriale Bezugsrahmen steht fest. Der
kommt irgendwo her, aus der Anschauung, der Erfahrung, der Tradition
etc. Die Kategorien sind meist nicht Gegenstand der Wissenschaft selbst.

Auch die Kategorien kann man in jeder beliebigen Schrittzahl oder unter
jedem beliebigen anderen Muster klären. Auch dafür braucht man nicht
zwingend einen Fünfschritt.

Deswegen verläuft die Geschichte der wissenschaftlichen Revolutionen
so diskontinuierlich: die Vertreter alter Paradigmen müssen erst
aussterben (die Sache von Kuhn, auf den sich inzwischen allerdings alle
berufen). 

Und nicht-bürgerliche Wissenschaft (so es so etwas überhaupt gibt) hat
dieses Problem nicht? Belege? Wenn ich mir so die Geschichte des Marxismus
angucke hat man eher den Eindruck, dass da die alten Paradigmen noch mehrere
Generationen überleben anstatt nur eine ;-)

 > Ausserdem geht der Streit ja bei gesellschaftlichen
 > Entwicklungsprozessen meist genau darum, was die wesentlichen
 > Entwicklungsdimensionen sind.
 >
 > Du erhebst ja mit dem Keimformbegriff den Anspruch, dass er
 > erkenntnisleitend sein soll. Hier klingt es aber jetzt eher so, als
 > sei er Ziel der Erkenntnis.

Wieso das, verwechselst du was? Die Entwicklungsdimension ist die der
Produktivkraftentwicklung, also die Art und Weise wie Menschen ihr Leben
produzieren. Der Gegenstandsbereich ist die gesellschaftlich-historische
Entwicklung aka Gesellschaftsgeschichte (hier in dieser Debatte).

Wenn jetzt aber jemand sagt, die Produktivkraftentwicklung sei garnicht die
wesentliche Entwicklungsdimension (soll es ja geben), dann musst Du entweder
aufhören mit demjenigen zu reden oder Du musst dafür Gründe liefern. Die
Keimform ist in diesem entscheidenden Punkt aber nicht mehr hilfreich, da
sie das ja schon vorraussetzt. Das wollte ich sagen.

Hm, man könnte sich aus diesem Dilemma vielleicht rauswinden, wenn man die
Keimformthese selbst als Keimform begreift. Eigentlich logisch. Errinnert
mich auch ein bisschen an Christophs Abschnitt über postmoderne Theorien.

 > Du hast also ein halbes vergangenes und ein möglicherweise zukünftiges
 > Beispiel für "Keimform" untersucht und postulierst dann, dass _alle_
 > Entwicklungsprozesse so verlaufen? Ziemlich dünne Grundlage wie ich
 > finde.

Nicht alle. Sondern die für den jeweiligen Gegenstandbereich bezüglich
der ausgewiesenen Entwicklungsdimension. Ich habe mich mit dem o.g.
beschäftigt, andere mit anderen. Alles andere als dünn.

Hast Du Quellen?

Ja, ist jetzt einfach zu dünn, in einer Mail ein paar Sätze 
hinzustellen. Das ist einfach nicht so einfach;-)

Tja, bekanntlich sind ja aber die einfachen Theorien die Besten ;-)

 > Generell hab ich auch meine Probleme mit einem so abstrakten Prinzip,
 > dass alle (auch nur gesellschaftlichen) Entwicklungsprozesse über
 > einen Kamm schert. Wer sagt denn, dass es da überhaupt
 > "Gesetzmäßigkeiten" geben soll?

Wer sagt dir, in welchem Film du bist? Ist es ein Film oder die
Wirklichkeit? Oder ist das das Gleiche? Na, und so weiter. Das sind
Grundfragen der Philosophie. Und weisst ja: Da halte ich mich an meine
spezielle Variante materialistisch-historischer Dialektik - stets das
Beste von allem;-)

Dagegen ist ja nix einzuwenden. Ich wehre mich nur gegen die Behauptung,
dass man alles damit angucken _muss_. Wichtig wird das durch den
Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Charakter der Keimformthese: _Wenn_
nämlich die Keimform nur im Nachhinein erkennbar ist, ist Keimform nur
erkenntnisleitend, wenn tatsächlich _alle_ wesentliche gesellschaftliche
Entwicklung so und nicht anders abläuft. Ansonsten kann es ja sein, dass wir
wie die Blöden nach Fünfschritten und Keimformen suchen und die
gesellschaftliche Entwicklung längst in Sieben(meilen)schritten und
Fnurz-Formen an uns vorbeigalopiert.

Mich errinnert das ganze auch irgendwie sehr an Hegels Dreiertick. Ich kann
mit sowas nicht viel anfangen. Das hat doch schon fast den Charakter von
pythagoreischer Zahlenmystik.

Grüße, Benni
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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