Re: [ox] Entwicklungsbegriff
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Sun, 21 Oct 2001 12:05:54 +0200
Hi Benni, Stefan, alle!
3 days ago Benni Bärmann wrote:
On Wed, Oct 17, 2001 at 06:25:26PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
Die Antwort hört sich zirkulär an, aber sie lautet: Überall, wo es um
die Werdensgeschichte in einem bestimmten Gegenstandsbereich geht, also
um Entwicklung im Sinne einer zeitlichen Herausbildung, da macht es Sinn
den Fünfschritt zu verwenden.
Aha. Gut, dann probier ich das jetzt einfach mal anhand der obigen
Beispiele. Zur Errinnerung hier nochmal der Fünfschritt (aus Deinem
Vortrag):
* Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
* Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten
Gesamtprozesses (Krisen')
* Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen
Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden Funktion
(erster Qualitätssprung)
* Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den
Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
* Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der
neuen bestimmenden Entwicklungsdimension
So, dann gucken wir uns doch einfach mal eines der obigen Beispiele an:
Galaxienbildung:
Mir sind mittlerweile zwei Illustrationen eingefallen, die wir besser
beurteilen können und an denen wir vielleicht sehen können, wie der
Fünfschritt in der Praxis aussehen kann.
Das eine Beispiel ist die Entstehung von Oekonux im Verhältnis zu
Krisis und das andere die von GNU/Linux im Verhältnis zu proprietärer
Software-Entwicklung als altes Dominanzsystem.
* Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
Die Keimformen bei Oekonux liegen einerseits - nach meiner Kenntnis -
bei mir und bei StefanMz. Wir hatten wohl beide einige Zeit vor
Oekonux Gedanken, die in die Richtung gingen, die wir hier seit zwei
Jahren diskutieren. Ich hatte auch mal eine diesbezügliche Mail an die
Krisis-Liste geschickt.
Aber auch in der Krisis selbst gab es ansatzweise diese Keimform
bereits. Der "Antipolitik"-Artikel von Robert Kurz hat mich ja erst
auf diesen ganzen Trichter hier gebracht.
Bei Freier Software fällt die Entstehung der Keimform sicher mit dem
GNU-Projekt und der GPL zusammen. Dazu muß ich sicher nicht viel
ausführen.
Damals war in beiden Fällen überhaupt nicht klar, daß es sich dabei um
eine Keimform handeln könnte - mir jedenfalls nicht.
* Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten
Gesamtprozesses (Krisen')
Bei Oekonux würde ich denken, daß die Krisis mittlerweile selbst in
der Krise ist. Sie hat - nach meiner sehr entfernten Wahrnehmung -
aufgehört wirklich produktiv zu sein. Irgendwo habe ich auch mal die
Frage von Krisis-nahen Leuten gelesen, ob die Krisis 19 der Höhepunkt
gewesen sei. BTW genau die Ausgabe, in der der o.g. Artikel vorkam -
wenn ich es recht erinnere. Wenn das so analysiert wird, dann begann
sich die Krise just in dem Moment zu manifestieren, in dem die
Keimform des Neuen geboren wurde.
Bei Freier Software ist die Krise vielleicht etwas subtiler. Ich würde
denken, daß die proprietäre Software auf einer Qualitätsachse in die
Krise geraten ist. Dies wurde von Fachleuten jedenfalls deutlich so
wahrgenommen. So deutlich, daß einige dieser Fachleute anfingen, Freie
Software zu schreiben.
Interessant finde ich hier, daß die Krisenerscheinung bei der
proprietären Software *nicht* in ihrem Markterfolg lag, sondern auf
einer ganz anderen Ebene. Ich schließe daraus, daß es verschiedene
Krisenachsen geben kann, entlang derer sich Krisen entwickeln können
oder auch nicht. Dann wäre im Einzelnfall zu bestimmen, welche Achse
in eine Krise gerät und vermutlich auch, wie dominant sie für den
Gesamtprozeß ist bzw. wie sehr sie dominant werden kann.
* Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen
Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden Funktion
(erster Qualitätssprung)
Das kann ich für Oekonux nicht so klar ausmachen - vermutlich, weil
mir hier schon die Krisis-Wahrnehmung abhanden kommt. Jedenfalls war
die Gründung unseres Ladens hier sicher ein Wechsel von der
unbedeutenden Keimform zu einer wichtigen Entwicklungsdimension. Ich
denke, daß das relativ unstrittig ist.
Bei Freier Software war es m.E. die Entwicklung von Linux, die 1991
begann. Geradezu prototypisch wurde damit die Freie Software zu einer
wichtigen Entwicklungsdimension.
Auch hier möchte ich darauf verweisen, daß diese Stufe zu den
damaligen Zeitpunkten alles andere als klar war. Niemensch garantierte
z.B., daß die Oekonux-Mailing-Liste nicht innerhalb weniger Wochen
versanden würde wie so viele andere.
* Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den
Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
Wenn ich höre, daß mittlerweile doch so einige Leute von der
Krisis-Liste bei Oekonux gelandet sind und wenn ich mir anschaue, wie
die Krisis-Päpste uns mittlerweile zwar zur Kenntnis nehmen, aber
scheinbar immer noch nicht sehen können, wie sehr unser Thema (auch)
aus (auch) bei ihnen liegenden Keimformen sich entwickelt hat, wenn
ich sehe, daß wir eine Konferenz machen, wenn ich das insgesamt sehr
interessierte Echo an unserem Projekt wahrnehme, dann habe ich schon
das Gefühl, daß unser Laden in gewisser Hinsicht mittlerweile den
Gesamtprozeß bestimmt.
Bei Freier Software können wir m.E. langsam erkennen, wie sie den
Gesamtprozeß zu bestimmen beginnt. Die Bekenntnisse der Größen aus dem
vorherigen Dominanzmodell - seien sie jetzt positiv wie von IBM oder
negativ wie von M$ - sprechen hier m.E. eine deutliche Sprache.
Erst an diesem Punkt des Entwicklungsprozesses wird übrigens relativ
leicht analysierbar, was drei Stufen vorher wohl die Keimform gewesen
ist.
* Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der
neuen bestimmenden Entwicklungsdimension
Bei Oekonux sehe ich das momentan nicht, weil ich die Entwicklung bei
Krisis praktisch gar nicht mehr mitbekomme. Aber unsere Organisation
über das Internet finde ich hier einen wichtigen Anhaltspunkt. Der
Gesamtprozeß ist hier von paper-based auf Mailing-Listen etc.
umgestellt worden und damit auch der ganze Modus der Schaffensweise.
Bei Freier Software steht dies m.E. eher noch aus. Ansätze sind
vielleicht darin zu erkennen, wie sich mittlerweile insbesondere
europäische Staaten als wichtiger Teil der Gesamtstruktur positiv auf
Freie Software beziehen.
Das mal so holzschnittartig als zwei Illustrationen zu dem
Fünfschritt.
Interessant finde ich auch die unterschiedliche zeitliche Dimension:
Oekonux 3-4 Jahre von Stufe 1-5, Freie Software 18+ Jahre von Stufe
1-4. Ich denke, daß das am Gewicht des alten Dominanzsystems liegt.
Ein lange etabliertes, schwer lastendes Dominanzsystem ist eben nicht
so ohne weiteres zu beseitigen wie ein weniger etabliertes.
Interessant auch, wie die Entwicklung in den ersten drei Stufen auch
hätte anders verlaufen können. Wenn die Oekonux-Mailing-Liste damals
nicht gegründet worden wäre, dann wären wir heute zumindest nicht da,
wo wir heute sind. Wenn Richard Stallman damals nicht GNU erfunden und
hartnäckig betrieben hätte, dann wäre die Grundlage für GNU/Linux
vielleicht nie entstanden. Das keimige an beiden Keimformen hätte also
genausogut nicht aufgehen können.
Eine gesellschaftsverändernde Dimension bekommt so eine
Keimformanalyse dann, wenn mit Blick auf eine solche Veränderung von
Gesellschaft versucht wird, solche möglichen Keimformen zu
identifizieren. Mindestens um die Krisenentwicklung von Stufe 2
diagnostizieren zu können, mußt du dazu die entscheidenden
Entwicklungsdimensionen des alten Dominanzsystems richtig analysieren.
Gesellschaftsveränderndes Handeln wäre in diesem Fall nach einer
konsensfähigen Keimformanalyse dann eine Unterstützung der Keimform -
z.B. durch eine theoretische Unterfütterung wie wir das hier
versuchen.
Mit Freien Grüßen
Stefan
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