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Re: [ox-de] Re: Schlaraffenland?



Hi Hans-Gert und Liste!

4 months (132 days) ago Hans-Gert Gräbe wrote:
leider konnte ich mich nicht zeitnah an der Debatte beteiligen.

Ich auch nicht ;-) .

Hier
dennoch ein paar Bemerkungen.

Dito ;-) .

Am 05/27/10 09:31, schrieb Stefan Merten:
Ich jedenfalls denke nicht, dass es keine Konflikte mehr geben wird.

Ich gehe da sogar noch viel weiter - Konflikte sind nach meinem
Verständnis das zentrale Strukturierungselement der Welt, alle
sichtbaren Strukturen sind "Waffenstillstandslinien" in dem einen oder
anderen Sinn.

Interessanter Gedanke. Ich würde allerdings nicht so weit gehen, dass
*alle* sichtbaren Strukturen Ergebnis solcher Waffenstillstände sind -
aber vielleicht habe ich mich noch nicht genug an den Gedanken gewöhnt.

Die wirklich wichtigen (und interessanten) Konflikte
lassen sich auch nicht "lösen", sondern sind dauernde Gratwanderungen.

Könnte sein. Wichtiges Ziel wäre m.E. aber, dass vermeidbare Konflikte
auch vermieden werden. Was vermeidbar ist, ist natürlich im Detail
eine gute Frage, aber in vielen Fällen auch einfach.

Viele dieser Konflikte treten auf als Zielkonflikte zwischen kürzer-
und längerfristigen Perspektiven und damit zwischen verschiedenen
Zeitebenen.

Auch das hat was.

Sowohl die Metapher "Schlaraffenland" als auch "Selbstentfaltung"
blenden diese Konfliktebene aus bzw. betrachten sie als sekundär.

Für Selbstentfaltung bestreite ich das entschieden.

Selbstentfaltung müsste dazu wenigstens im Plural, und zwar jenseits
eines "je ich", entwickelt werden.

Das ist eigentlich StefanMz' / Holzkamps Domäne, aber nach meinem
Verständnis ist das "je ich" schon ein Plural wenn wir "ich" als
Singlular setzen. Und Wenn wir Selbstentfaltung auf "je ich" beziehen,
dann ist das schon im Plural.

Am Beispiel: Wenn ich in einem Freie-Software-Projekt oder in
Wikipedia handele, dann habe ich doch z.B. kurz- und langfristige
Perspektive ebenfalls. Im Idealfall liegt der Konflikt dann sogar in
mir und im Idealfall handele ich dann so, dass die *Maxime* meiner
Handlung als Grundlage für eine allgemeine Regel gelten könnte. So
gesehen würde sich die Qualität einer MaintainerIn genau daran messen,
ob sie dazu in der Lage ist, ein Handeln nach solchen Maximen zu
mehren.

Bist du mit anarchistischen
Ansätzen nicht zufrieden, weil sie über die "je ich" Ebene nicht
hinauskommen?

Nun, der Anarchismus ist eine breite Strömung und es gibt Schulen, die
über die "ich"-Ebene nicht hinauskommen und solche, bei der die
"ich"-Ebene kaum vorkommt.

Ich denke aber sehr wohl, dass die Konflikte

* andere Gründe haben werden,

   Ganz platt deswegen, weil die Profitinteressen weg sind. Das
   ermöglicht, dass endlich sachlogische Gründe im Vordergrund stehen.

Hinter den Profitinteressen steckt /auch/ der Spagat zwischen
kurzfristigen operativen Interessen und langfristigen
investiv-reproduktiven. Da kommen dann, wenigstens im produktiven
Anlagekapital, auch die sachlogische Gründe zum Tragen.

Hier müssen wir m.E. begrifflich sauber trennen - auch wenn das in den
konkreten Handlungen sich meist mischt. Das Profitinteresse ist nicht
an den Wirkungen der Investitionen interessiert *außer* der G -> G'.
Das Finanzkapital arbeitet in seinen abgehobeneren Sphären auf genau
dieser Ebene und ist damit frei von Sachlogik.

Das die KapitalistIn natürlich ihren Betrieb am Laufen halten muss und
dafür sorgen muss, dass ihre Produkte verkäuflich bleiben, ist
natürlich auch richtig. Hier spielt natürlich jede Menge Sachlogik mit
rein.

Wie so oft plädiere ich dafür, diese Ebenen auseinanderzuhalten. Die
erste Ebene verschwindet in der Peer Production, die zweite natürlich
nicht, auch wenn sie sich dort nicht an der Verkäuflichkeit sondern am
Nutzen orientiert.

Das mit den
"anderen Gründen" verstehe ich deshalb nicht, wenn man nicht auf die
Formen, sondern auf die Inhalte der Konflikte abstellt.

Ich hoffe, meine Anmerkungen sind hier hilfreich.

In der Peer-Ökonomie (PÖ) wird dieser Konflikt zwischen operativen und
strategischen Interessen durch unmittelbare Kommunikation aufgelöst.

Zur Peer-Ökonomie kann ich nicht viel sagen. In einer auf Peer
Production basierenden Ökonomie glaube ich in der Tat nicht, dass es
nur mit unmittelbarer Kommunikation geht. Da könnten z.B.
Download-Zahlen auch ein Kriterium sein - und damit eher Formen, die
wir aus anonymen Märkten kennen.

Das geht aber nur bis zu einer gewissen Größe  - einer (nicht nur)
meiner zentralen Einwürfe bei der Frage, in welchen Dimensionen PÖ
überhaupt funktionieren kann. In der PÖ-Theorie nicht beantwortet, so
weit ich sehe.

Vielleicht bin ich da ein bisschen weniger an der kuscheligen Gruppe
orientiert.

* andere Verlaufsformen haben werden,

   Weil der gesellschaftliche Rahmen, in dem diese Konflikte ablaufen
   werden, anders sein wird.

Das ist, denke ich, so wie es da steht eine Tautologie. Allerdings ist
bei einem solchen Herangehen - Verlaufsformen _innerhalb_ von Rahmen - 
die Frage, was ist Rahmen (also wohl, innerhalb des betrachteten
Ansatzes, eher statisch) und was ist Verlaufsform.

Na ja, Rahmen wären z.B. die Möglichkeiten, die es gesellschaftlich
gibt. Z.B. die Fähigkeiten der Menschen und die von den Akteuren
eingeübte Kultur.

Auch hier schlägt
die Granularität und Fraktalität von Welt zu.  Der (selbstredend
gesellschaftliche) sachlogische Rahmen des o.g. Konflikts zwischen
operativen und strategischen Dimensionen ändert sich mitnichten.

In der Tat. Dieser ist Element des überhistorischen Rahmens der
Notwendigkeit des Stoffwechsels mit der Natur.

Nach meinem Verständnis verschiebt sich "schlicht" die Bedeutungslinie
zwischen (operativ) produktiven und (strategisch) reproduktiven
Aspekten.

Wenn du meinst, dass wir heute nur noch auf kurzfristige
Profitmaximierung aus sind, dann gebe ich dir recht.

Die klassische (kapitalistische) Tauschwirtschaft verbannt
die reproduktiven Aspekte in die Privatsphäre der Unternehmer (bzw. - 
Wertabspaltung - in die Privatsphäre familiärer Zusammenhänge). Das
ändert sich - die Reproduktion der Produktionsbedingungen in
kooperativen bzw. kollaborativen Strukturen gewinnt an Bedeutung und
damit auch Formfragen derselben.

Warum glaubst du, dass sich hier was ändert? Ich bin da nicht so
sicher.

Damit verlassen wir vielleicht die "Tauschgesellschaft" im engeren
Sinne, dass damit auch der Kapitalismus automatisch am Ende ist, kann
ich nicht erkennen.

Hier sind wir letzlich in Definitionsfragen, aber wenn du jeden
Stoffwechsel mit der Natur als Kapitalismus bezeichnen willst, dann
gibt es denselben natürlich seit der ersten Zelle und wird es bis zum
Ende des Lebens weiter geben. Für was ein derart überdehnter Begriff
dann noch nützlich ist, weiß ich allerdings nicht.

HGG: Was ist "der Kapitalismus" und "Alternativen" angesichts der
Marxschen Aussage, dass sich diese Gesellschaft mit all ihren
Institutionen dauernd transformiert?

SMn: Die Frage stellst du nicht ernsthaft - oder? Der Kapitalismus
ist durch abstrakte Arbeit und durch eine Vergesellschaftung über
den Äquivalententausch gekennzeichnet. Und das hat bisher keine
Transformation auch nur entfernt angetastet.

Doch, das meine ich sehr ernst. Die kapitalistische Gesellschaft hat
sich etwa alle 50 Jahre sehr grundlegend transformiert und
offensichtlich sind wir Zeuge eines weiteren solchen
Transformationsprozesses.

Ich würde stets betonen, dass der Kapitalismus die bisher dynamischste
menschliche Gesellschaftsform ist - zweifellos.

Aber in den letzten 50 oder 100 Jahren hat es keinen einzigen
Transformationsprozess gegeben, der die abstrakte Arbeit oder die
Vergesellschaftung über den Äquivalententausch auch nur angetastet
hätte - inklusive der realsozialistischen im Übrigen, wiewohl die an
ein paar Stellschrauben immerhin gedreht haben.

Wenn du das anders siehst, dann wäre ich für ein Beispiel dankbar.


						Grüße

						Stefan


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