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[ox-de] Re: Schlaraffenland?



Hallo Stefan,

leider konnte ich mich nicht zeitnah an der Debatte beteiligen. Hier dennoch ein paar Bemerkungen.

Am 05/27/10 09:31, schrieb Stefan Merten:
Ich jedenfalls denke nicht, dass es keine Konflikte mehr geben wird.

Ich gehe da sogar noch viel weiter - Konflikte sind nach meinem Verständnis das zentrale Strukturierungselement der Welt, alle sichtbaren Strukturen sind "Waffenstillstandslinien" in dem einen oder anderen Sinn. Die wirklich wichtigen (und interessanten) Konflikte lassen sich auch nicht "lösen", sondern sind dauernde Gratwanderungen. Viele dieser Konflikte treten auf als Zielkonflikte zwischen kürzer- und längerfristigen Perspektiven und damit zwischen verschiedenen Zeitebenen. Zeit ist - in dem Sinn - fraktal strukturiert.

Sowohl die Metapher "Schlaraffenland" als auch "Selbstentfaltung" blenden diese Konfliktebene aus bzw. betrachten sie als sekundär. Selbstentfaltung müsste dazu wenigstens im Plural, und zwar jenseits eines "je ich", entwickelt werden. Bist du mit anarchistischen Ansätzen nicht zufrieden, weil sie über die "je ich" Ebene nicht hinauskommen?

Ich denke aber sehr wohl, dass die Konflikte

* andere Gründe haben werden,

   Ganz platt deswegen, weil die Profitinteressen weg sind. Das
   ermöglicht, dass endlich sachlogische Gründe im Vordergrund stehen.

Hinter den Profitinteressen steckt /auch/ der Spagat zwischen kurzfristigen operativen Interessen und langfristigen investiv-reproduktiven. Da kommen dann, wenigstens im produktiven Anlagekapital, auch die sachlogische Gründe zum Tragen. Das mit den "anderen Gründen" verstehe ich deshalb nicht, wenn man nicht auf die Formen, sondern auf die Inhalte der Konflikte abstellt.

In der Peer-Ökonomie (PÖ) wird dieser Konflikt zwischen operativen und strategischen Interessen durch unmittelbare Kommunikation aufgelöst. Das geht aber nur bis zu einer gewissen Größe - einer (nicht nur) meiner zentralen Einwürfe bei der Frage, in welchen Dimensionen PÖ überhaupt funktionieren kann. In der PÖ-Theorie nicht beantwortet, so weit ich sehe.

* andere Verlaufsformen haben werden,

   Weil der gesellschaftliche Rahmen, in dem diese Konflikte ablaufen
   werden, anders sein wird.

Das ist, denke ich, so wie es da steht eine Tautologie. Allerdings ist bei einem solchen Herangehen - Verlaufsformen _innerhalb_ von Rahmen - die Frage, was ist Rahmen (also wohl, innerhalb des betrachteten Ansatzes, eher statisch) und was ist Verlaufsform. Auch hier schlägt die Granularität und Fraktalität von Welt zu. Der (selbstredend gesellschaftliche) sachlogische Rahmen des o.g. Konflikts zwischen operativen und strategischen Dimensionen ändert sich mitnichten. Aus dieser Perspektive ist es spannennd, nach _anderen_ Verlaufsformen im _selben_ gesellschaftlichen Rahmen nachzudenken.

Mehr zu solchen gegensätzlichen Perspektiven aus verschiedenen Zeitrastern siehe mein Aufsatz "Wie geht Fortschritt?"
http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/fortschritt-10.pdf

* andere Akteure haben werden.

   Die realen ProduzentInnen werden hier eine sehr viel größere Rolle
   spielen - einfach weil es keine Verwerter mehr gibt, die sich in den
   Vordergrund schieben. Und die NutzerInnen werden auch eine größere
   Rolle spielen, da es ja deren Nutzen ist, der gesteigert werden
   soll.

und sie werden da *ganz anders* ausgetragen als in der
Tauschgesellschaft. Was für mich immer der wichtigste Aspekt ist: Die
Governance in Peer Production bezieht sich stets auf das Ziel des
jeweiligen Projekts - und das ist bei Peer Production stets die
Maximierung des Nutzens.

Nach meinem Verständnis verschiebt sich "schlicht" die Bedeutungslinie zwischen (operativ) produktiven und (strategisch) reproduktiven Aspekten. Die klassische (kapitalistische) Tauschwirtschaft verbannt die reproduktiven Aspekte in die Privatsphäre der Unternehmer (bzw. - Wertabspaltung - in die Privatsphäre familiärer Zusammenhänge). Das ändert sich - die Reproduktion der Produktionsbedingungen in kooperativen bzw. kollaborativen Strukturen gewinnt an Bedeutung und damit auch Formfragen derselben.

Damit verlassen wir vielleicht die "Tauschgesellschaft" im engeren Sinne, dass damit auch der Kapitalismus automatisch am Ende ist, kann ich nicht erkennen.

HGG: Was ist "der Kapitalismus" und "Alternativen" angesichts der
Marxschen Aussage, dass sich diese Gesellschaft mit all ihren
Institutionen dauernd transformiert?

SMn: Die Frage stellst du nicht ernsthaft - oder? Der Kapitalismus
ist durch abstrakte Arbeit und durch eine Vergesellschaftung über
den Äquivalententausch gekennzeichnet. Und das hat bisher keine
Transformation auch nur entfernt angetastet.

Doch, das meine ich sehr ernst. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich etwa alle 50 Jahre sehr grundlegend transformiert und offensichtlich sind wir Zeuge eines weiteren solchen Transformationsprozesses. Ob Kapitalismus bzw. die Wertkategorie wirklich allein und dauerhaft auf "abstrakte Arbeit und Äquivalententausch" zu reduzieren ist oder nicht doch der Machtförmigkeit von Herrschaftsstrukturen und Ausbeutung als strukturellem (nicht-personalem) Phänomen eine (wenigstens) komplementäre Bedeutung zukommt, und ob mit "abstrakter Arbeit und Äquivalententausch" nicht doch in allgemeinerem Sinne eine Auseinandersetzung um ein gesellschaftliches Aufwandsmaß (im Sinne der oben entwickelten "Konfliktlinien") stattfindet, die mit jeder neuen kapitalistischen Welle auch neue Formen annehmen, das wäre genauer zu untersuchen. Ich sehe bisher nur, dass bei allen Detaildebatten um PÖ die Wertkategorie aus allen Knopflöchern hervorlugt.

In der Frage eines Übergangs bin ich relativ agnostisch. Der wird
irgendwie ablaufen. Wichtiger ist für mich, ob die historischen Ziele
da klar genug sind und die historischen Kräfte stark genug. Das steht
für mich außer Frage.

Zustimmung. Im Sinne des Obigen bleibt zu fragen "welcher Übergang". Auch in *der* Frage bin ich relativ agnostisch.

Viele Grüße,
Hans-Gert
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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