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Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?



Hallo Casimir,

da habe ich mir ja was eingebrockt, aber mal sehen, vielleicht geht es
gut :-)


 > Es interessiert einfach nicht mehr das exakte Verhalten eines
 > individuellen Apfelbaumblattes an einem lauen Herbsttag des Jahres
 > 1512 in Venedig...

Mit Verlaub, da muss ich widersprechen. Gut, Das Apfelbaumblatt in
Venedig ist zugegeben wirklich nicht sonderlich spannend. Aber wenn ich
zur Universität fahre, dann interessiert mich tatsächlich der konkrete
Elektromotor der indivuduellen U-Bahmn, die um 09:05 von Hansaplatz
richtung Rathaus Steglitz fährt. Und in der Psychologie interessiert
mich möglicherweise genau Karl-Heinz und kein anderer. Praktisch
relevant ist immer der Einzelfall, dass sich die Wissenschaft mit
Gesetzen beschäftig, liegt daran, dass Gesetze häufig den Einzelfall
erklären können.

Für Elektromotoren mag es nun eine schlaue Idee sein, von einem
allgemeine Gesetz auf den speziellen Fall zu schließen. In der
Psychologie geht das gerne mal schief. Es haben schon so viele Leute
allgemeine Gesetze aufgestellt, dass man gar nicht weiß, welches man
anwenden soll. Zudem ist es bei den meisten Gesetzen unklar, unter
welchen Bedingungen sie angewendet werden können. Und dann gibt es ja
noch den freien Willen.

Was ist nun Psycho*logie*, wenn die Anwendung von allgemeinen Gesetzen
nicht wirklich funktioniert ?
Nun zum einen finde ich diese Erkenntnis an sich schon einmal relativ
wertvoll. Zum anderen aber bleibt m.E. als einzige Möglichkeit den
Vorgang des Schlusses vom Allgemeinen auf das Konkrete zu überdenken.
Der übliche Modus ist, die Bedingungen zu messen, daraus zu schließen,
welches Gesetz zutrifft, und fertig ist die Lauge. Dies geht nun bei der
Psychologie nicht.
Die Psychologie hat aber den Vorteil, dass ihre "Untersuchungsobjekte"
der Sprache mächtig sind, und dass sie so etwas wie eine
Selbstwahrnehmung besitzen, dass sie also zumindest im Prinzip erkennen
können, welche Vorgänge "an ihnen" wirken (oder, um das ganze ein wenig
aktiver auszudrücken: aus welchen Gründen sie so und nicht anders
handeln). Das heißt, es ist zwar nicht *von außen* feststellbar, welche
Gesetze wirken, aber das betreffende Subjekt *selber* kann (zumindest im
Prinzip) diese Feststellung treffen.

Die Erkenntnisse Kritischer Psychologie bestehen in dem Sinne aus zwei
Teilen. Zum einen aus einem Methodenkanon, der angibt, wie Erkenntnis zu
gewinnen ist (nämlich nur durch das Untersuchen, welche
Gesetze/Begründungen im konkreten Einzelfall wirksam sind). Zum anderen
aus einer Menge von "Gesetzen" (oder in ihren eigenen Worten
"Begründungsmustern"), die dem Individuum helfen sollen, seine eigene
Position zu begreifen. Verallgemeinerung läuft dabei nicht über die
Aufstellung von Gesetzen allgemeiner Gültigkeit, sondern über das genaue
Beschreiben von Situationen, welches anderen Individuen dabei helfen
soll, ihre je eigene Situation besser zu verstehen.



	Joost


P.S: Falls das Posting hier eher unverständlich bleibt, bitte ich um
Nachsicht, verständlicher konnte ich es beim besten Willen nicht
formulieren.

P.P.S: Ich beziehe mich besser nur auf die Psychologie, weil das das
Gebiet ist, in dem ich halbwegs zu hause bin. Die Humanwissenschaften
können aus meinen Ausführungen also gestrichen werden.

P.P.P.S: Zu konkreten Punkten von Casimirs Mail:

 > Doch: wenn ich den Gegenstand meiner Untersuchung einschränken würde,
 > dann könnte ich ihn offenbar auch systematisch untersuchen;

These: Der Gegenstand "Menschliches Handeln" kann nicht eingeschränkt
und insofern auch nicht systematisch untersucht werden.

> Kann ich Regeln beobachten, wenn es Ausnahmen gibt?

Natürlich kann man. Man sollte sich aber vergewissern, dass die Regeln
nicht vollständig von Ausnahmen überwuchert werden.

 > Warum sollte ich das nicht können?  Nur damit sich
 > Karl-Heinz nicht auf den Schlips getreten fühlt, darf ich nicht
 > versuchen, seine Lage objektiv zu beurteilen?

Man kann auch versuchen, Karl-Heinz Lage objektiv (also "von außen") zu
beurteilen. Aber ob die Lage in Karl-Heinz' Interesse ist, wird man von
außen wohl kaum beurteilen können.

 >  Anliegen / Gegenstand der kritischen Psychologie ...
 > Kannst Du das vielleicht in kurzen Worten umreißen?

Das mit den kurzen Worten ist mir vermutlich mißlungen, aber ich habe
mein bestes gegeben ...


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