Re: Wertabspaltung (war: Re: [ox] Re: Kooperation und den "Keimformen" auf der Spur)
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Thu, 24 May 2001 20:36:00 +0200
Annette Schlemm schrieb u.a.:
Hallo Uli,
...
Kannst du diese Wert-Abspaltung mal so erklären, dass mans verstehen kann?
Liebe Annette,
Ein gewagtes Unterfangen, daß nun ausgerechnet ich als wertförmig geprägtes
Mannsbild und heiliger Mann der Arbeit, zudem mehr ahnend als theoretisch
analysierend durch die Warenwelt gehend, dir dieses Problem besser erklären
können soll, als diejenigen, die sich sehr eingehend und über Jahre hinweg
damit beschäftigt und letztlich das Phänomen entdeckt und begrifflich zu fassen
versucht haben, wofür es wohl weder bei Marx noch bei anderen Vorlagen oder
einfach aufzugreifende Vorarbeiten gab.
Dennoch will ich nicht kneifen, und da ich ja ohnehin ständig das Problem
bewältigen muß, solch schwierige und wenig anerkannte Überlegungen, wie ich
sie bei Krisis sehr einleuchtend finde, in meiner gesellschaftlichen Tätigkeit
zu vermitteln, sei's drum, aber mit Hilfe eines anderen: Diesmal also nicht
"Der Wert ...", sondern "Der Versuch ist ein anderer Mann".
Ich finde das "Mausebär" auf seiner homepage
"http://homepages.compuserve.de/mbaer12/Wert.html"
die Sache in kurzer und dafür aber guter Weise zu erkären versucht.
Zumindest könnte ich nichts gleichwertiges oder gar bessser sagen und
allenfalls auf Aufzeichnungen zurückgreifen, die ich mir bei meiner ersten
Lektüre des ganzen Krisis-Materials, dem ich seit ca. 3 Jahren ziemlich
systematisch und vollständig auf der Spur bin, gemacht habe. Dabei handelt es
sich vorwiegend um mir plausible Formulierungen und Gedanken von Kurz, Lohoff
oder Scholz, die im wesentlichen aus den Aufsätzen in Heft 12 sind, die Du aber
wohl auch schon gelesen hast. Deshalb bin ich skeptisch, daß mein Versuch Dich
weiterbringen würde.
Also "mein" Versuch mit Holger "mausebär", dessen homepage ihr Euch sowieso
einmal anschauen solltet, und der in "ot" schon das Projekt "Krisentheorie"
zur Sprache gebracht hat.
"Wert/Abspaltung-Dialektik
Die Wertabspaltungstheorie wurde von Roswitha Scholz in die Krisis-Diskussionen
eingebracht.
Sie besagt kurzgefasst folgendes: Mit der Entstehung des warenproduzierenden
Patriarchats der Moderne, zu dem Zeitpunkt als abstrakte Arbeit und Verwertung
des Werts das Gesellschaftsregime übernahmen, wurde Frauen ein Komplex von
Tätigkeiten zugewiesen, der ausserhalb (aber nicht unbeeinflusst von!) der
Tätigkeit in der wertschaffenden Sphäre der abstrakten Arbeit war:
"Reproduktionstätigkeiten" wie Mahlzeitzubereitung, Betreuung, Pflege,
Kindererziehung, aber auch Liebe, Zärtlichkeit, Zuwendung allgemein. Da diese
Tätigkeiten sich nicht unters allgemeine Formprinzip warenproduzierender
Systeme bringen ließen (Scholz knüpft hier an die zwei Zeitlogiken nach F. Haug
an, Zeitsparlogik der abstrakten Arbeit und Logik der Zeitverausgabung bei den
o. g. abgespaltenen Tätigkeiten), wurden sie automatisch abgedrängt ins Private
und ihre Ausübenden, die Frauen, als minderwertig behandelt.
Dem Einwand, hier werde doch lediglich die Differenz Tauschwert/Gebrauchswert
neu entfaltet begegnet die Autorin mit der Ansicht, dass der Begriff
"Gebrauchswert" selber noch in der Wertsphäre befangen bleibe, mithin eine
Stärkung dieser Seite der Differenz keinerlei emanzipatorisches Potenzial haben
könne. So kommt es bspw. dem Kapital beim Einsatz von sog. Investitionsgütern,
also Produktionsmitteln zur Herstellung von Produktions- oder
Konsumtionsmitteln ja auch "nur" auf deren Gebrauchswert an. Vielmehr,
argumentiert sie, sind die abgespaltenen Tätigkeiten in der Sphäre des
abschließenden Konsums des Gebrauchswerts beheimatet. Dass der "Wert der Mann"
ist, deutet schon Alfred Sohn-Rethel in seinem Buch "Geistige und
körperliche Arbeit: Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte" (VCH,
Weinheim, 1989) an:
Die Männer nehmen ihre Funktion als Rechtssubjekte des Austauschs für
sich in Anspruch und damit den bestimmenden Einfluss auf die öffentliche Sphäre
und die Verfassung des Staates. Der Frau dagegen verbleibt die häusliche Sphäre
und die Pflege des Konsums und Gebrauchs der Dinge im familialen Rahmen, der
Zeugung der Kinder und ihrer Aufzucht im zarten Alter. (S. 71)
Weshalb nun bedarf es einer abgespaltenen Sphäre? Wenn in der gegenwärtigen
Gesellschaft jede individuelle Reproduktion unmöglich ist, die sich dem Diktat
des Werts nicht unterwirft, wieso dann ein Bereich, der von dieser Wertlogik
ausgenommen ist? M. E. liesse sich folgendes antworten:
1.Das Ergebnis der abgespaltenen Tätigkeiten ist -im Gegensatz zu denen
der Wertproduktion- meist nicht in Geld darstellbar. Auch im durchgeknallten
Spätkapitalismus ist noch keine Kalkulation für "Liebe" im Gebrauch, auch hier
würde es wohl noch als bizarr gelten, wenn der Ehefrau nach der
Mahlzeitzubereitung die "Opportunitätskosten" der Imbissbude um die Ecke
vorgerechnet würden. Andererseits: Betreuung und Pflege von Angehörigen werden
sukzessive der Wertsphäre einverleibt (Pflegedienste, Altenheime).
Charakteristikum dieser besonderen Sphäre aber bleibt mindestens, dass sich eben
nicht genau berechnen lässt, was geleistet wurde, dass man nicht
auseinanderhalten kann, was
"verpflichtende Tätigkeit [m. E.: wertformnah - MB] und existentielle
Lebensäußerung [m. E.: außerhalb der Wertform - MB]" (vgl. "Das Geschlecht...",
20) ist.
2.Jedes Individuum lebt seiner Reproduktion. Diese als solche ist nicht
direkt an die Verwertungssphäre gekoppelt. Liebe ist dann Liebe, wenn sie sich
unökonomisch Zeit lässt und für sie Verrücktheiten begangen werden. Es ist
geradezu Ausweis des besonders guten Gelingens, wenn ein üppiges Mahl viel
Vorbereitungszeit gekostet hat. (vgl. auch die Ausführungen zur
Zeitverausgabungslogik im Anschluß an Frigga Haug in: "Das Geschlecht...", 92
ff. Auch wenn das wertförmig (aber eben durch die und in der Wertsphäre!)
deformierte Individuum noch so zwanghaft seinen Alltag "organisiert" und bspw.
zum manischen Schnäppchenjäger wird: Es kann nach dem individuellen Konsum
"sich" nicht als Wert + x (wie eine Ware also) realisieren. Die Reproduktion
des Menschen ist also nicht voll quantifizierbar, in seine
Reproduktionskosten gehen auch wesentlich nicht- berechenbare Faktoren ein.
3.Im abschließenden Konsum wird der Gebrauchswert und der Tauschwert
der konsumierten Ware vernichtet. Also kann die Sphäre, in der dies geschieht,
nicht wieder selbst wertförmig konstituiert sein. Das System von Ware und Wert
braucht aber dieses Abflußloch "Konsum", sonst kann die "schöne Maschine" nicht
weiterklappern. Nicht-Wertförmigkeit einer Sphäre ist also Voraussetzung für
die total gewordene Wertproduktion. Bestritten sei nicht, dass wertförmige
Verhaltensweisen auch in diesen Bereich vorzudringen versuchen und oft
aberwitzige Folgen hervorrufen (eine vgl.-weise harmlose: die Gespräche bei
Tisch über die günstigsten Angebote der diversen Supermärkte; von Zeit zu Zeit
wähnt man sich durchaus in einer Einkaufsabteilung).
Die Autorin betont immer wieder, dass die abgespaltenen Tätigkeiten nicht als
irgendwie gleichberechtigt neben den Wert gestellt werden könnten/sollten, sie
sich lediglich gleichberechtigte Aufmerksamkeit sichern müssten und auch, dass
"Frauentätigkeiten" keineswegs irgendwelche größeren moralischen Qualitäten
innewohnten, sondern dass Wert und Abspaltung eine Dialektik bilden, die eine
den andern und umgekehrt bedingt. Somit könne auch eigentlich nicht mehr
schlicht von fundamentaler Wertkritik die Rede sein, sondern es sollte
stattdessen von der Kritik der Wert-Abspaltung-Dialektik gesprochen
werden.
Obwohl ich der Autorin im grundsätzlichen Ansatz zustimme, scheint mir ihre
Kritik an Judith Butler und Queer-Politics zu harsch. Ich denke, hier entgehen
Roswitha Scholz die Erfolge, die diese Bewegung -ganz praktisch- bei der
Zurückschlagung von Homophobie vorweisen kann. Und auch Butlers Buch "Gender
Trouble" lässt sich eben nicht auf postmoderne, geschwätzige Theoriesimulation
zurechtstutzen.
Echte Emanzipation hieße: "Aufhebung von Wert, Warenform, Marktwirtschaft,
abstrakter Arbeit und Abspaltung" ("Das Geschlecht des Kapitalismus...", S. 23)
und damit die Überwindung sozialer Männlichkeit und Weiblichkeit (ebd., S.
120). Wahrscheinlicher als das Erreichen dieses emanzipatorischen Ziels ist
jedoch das weitere Abgleiten in eine "Verwilderung des Patriarchats". Das
heisst, die Frauen der "dritten" Welt werden zunehmend zum Vorbild für die der
"ersten", sie haben nicht nur unmittelbare Reproduktionstätigkeiten zu leisten,
sondern werden zudem in die Sphäre der abstrakten Arbeit genötigt. Die
Erosion traditioneller Lebensformen, die Tatsache, dass sich das Patriarchat
"aus seinen institutionellen Halterungen löst" (ebd., 133) hat in der Krise
eben keine emanzipatorischen, sondern regressive Potenziale: Verrohung des
Umgangs, sinkendes Verantwortungsgefühl zwischen Menschen, Verlust jeder
sozialen Sicherheit. Die Flexi-Zwangsidentitäten gleichen ihren Gefühlscode
einander an, um für jede neue Zumutung gerüstet zu sein, sofort im Sinne der
neuen Tugenden zu reagieren. Das Formprinzip der Wert-Abspaltung selbst bleibt
unangetastet, die neue Lockerheit des Patriarchats ist lediglich negative
Emanzipation, polemisch: Vorstufe der Barbarei.
Literatur:
Scholz, Roswitha
Das Geschlecht des Kapitalismus: Feministische Theorien und die
postmoderne Metamorphose des Patriarchats,
HORLEMANN edition krisis, 2000
die Präzisionen der Thesen ihres u. a. Aufsatzes; nicht ganz einfach
Scholz, Roswitha
Der Wert ist der Mann: Thesen zu Wertvergesellschaftung und
Geschlechterverhältnis IN: Krisis: beiträge zur kritik der
warengesellschaft 12, 1992, S. 19-52 gut lesbar
Kurz, Robert
Geschlechtsfetischismus: Anmerkungen zur Logik von Männlichkeit und
Weiblichkeit IN: Krisis: beiträge zur kritik der warengesellschaft 12,
1992, S. 117-169
siehe auch:
innere Schranke - finale Krise
subjektlose Herrschaft
Gegen den Arbeiterbewegungsmarxismus!
Arbeit ist Scheiße!
Für eine Aufhebung des warenproduzierenden Systems
Annette Schlemm schrieb:
Hallo Uli,
aber auch Eigengesetzlichkeiten folgende "Aspekte" nennt, und ich mit
Krisis in
Anlehnung an Marx "Sphären" nennen würde. Dabei wird die wichtigste gar
nicht
erwähnt: die geschlechtsspezifische nicht wertförmige abgespaltene Sphäre,
die
die Grundvoraussetzung für die Arbeit wie für das Funktionieren des ganzen
warenproduzierende Systems ist, nämlich die der eigentlichen
"Reproduktionstätigkeiten", des Bereichs des Privaten und Sinnlichen, des
Weiblichen.
Kannst du diese Wert-Abspaltung mal so erklären, dass mans verstehen kann?
Ich habe mittlerweile Scholz und auch Kurz dazu gelesen, mir klingt das
alles ganz plausibel. Ich merke aber, daß ichs eigentich niemandem anderen
so ganz richtig erklären kann - was heißt, daß ich es selber noch nicht
verstanden habe (wobei R. Scholz in einem Wochenendseminar bei Bekannten
auch recht wenig wirklich rüberbringen konnte).
Ich denke aber schon, daß wir das künftig insgesamt mit bedenken sollten,
deshalb bitte ich hier um genauere Erläuterungen und hoffentlich auch
Diskussionen dazu. Ich werde in Kürze einiges dazu in OT stellen
(http://www.opentheory.org/proj/feminismen ). Dort wird das dann ziemlich am
Ende mit vorkommen.
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