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Re: Wertabspaltung (war: Re: [ox] Re: Kooperation und den "Keimformen" auf der Spur)



Annette Schlemm schrieb u.a.:

Hallo Uli,
...
Kannst du diese Wert-Abspaltung mal so erklären, dass mans verstehen kann?


Liebe Annette, 

Ein gewagtes Unterfangen, daß nun ausgerechnet ich als wertförmig geprägtes 
Mannsbild und heiliger Mann der Arbeit, zudem mehr ahnend als theoretisch 
analysierend durch die Warenwelt gehend, dir dieses Problem besser erklären 
können soll, als diejenigen, die sich sehr eingehend und über Jahre hinweg 
damit beschäftigt und letztlich das Phänomen entdeckt und begrifflich zu fassen 
versucht haben, wofür es wohl weder bei Marx noch bei anderen Vorlagen oder 
einfach aufzugreifende Vorarbeiten gab.
Dennoch will ich nicht kneifen, und da ich ja ohnehin ständig das Problem 
bewältigen muß, solch schwierige und wenig anerkannte Überlegungen, wie ich 
sie bei Krisis sehr einleuchtend finde, in meiner gesellschaftlichen Tätigkeit 
zu vermitteln, sei's drum, aber mit Hilfe eines anderen: Diesmal also nicht 
"Der Wert ...", sondern "Der Versuch ist ein anderer Mann".

Ich finde das "Mausebär" auf seiner homepage 
"http://homepages.compuserve.de/mbaer12/Wert.html"; 
die Sache in kurzer und dafür aber guter Weise zu erkären versucht. 

Zumindest könnte ich nichts gleichwertiges oder gar bessser sagen und 
allenfalls auf Aufzeichnungen zurückgreifen, die ich mir bei meiner ersten 
Lektüre des ganzen Krisis-Materials, dem ich seit ca. 3 Jahren ziemlich 
systematisch und vollständig auf der Spur bin, gemacht habe. Dabei handelt es 
sich vorwiegend um mir plausible Formulierungen und Gedanken von Kurz, Lohoff 
oder Scholz, die im wesentlichen aus den Aufsätzen in Heft 12 sind, die Du aber 
wohl auch schon gelesen hast. Deshalb bin ich skeptisch, daß mein Versuch Dich 
weiterbringen würde. 

Also "mein" Versuch mit Holger "mausebär", dessen homepage ihr Euch sowieso 
einmal anschauen solltet, und der in "ot" schon das Projekt "Krisentheorie" 
zur Sprache gebracht hat.


"Wert/Abspaltung-Dialektik


Die Wertabspaltungstheorie wurde von Roswitha Scholz in die Krisis-Diskussionen 
eingebracht.

Sie besagt kurzgefasst folgendes: Mit der Entstehung des warenproduzierenden 
Patriarchats der Moderne, zu dem Zeitpunkt als abstrakte Arbeit und Verwertung 
des Werts das Gesellschaftsregime übernahmen, wurde Frauen ein Komplex von 
Tätigkeiten zugewiesen, der ausserhalb (aber nicht unbeeinflusst von!) der 
Tätigkeit in der wertschaffenden Sphäre der abstrakten Arbeit war: 
"Reproduktionstätigkeiten" wie Mahlzeitzubereitung, Betreuung, Pflege, 
Kindererziehung, aber auch Liebe, Zärtlichkeit, Zuwendung allgemein. Da diese 
Tätigkeiten sich nicht unters allgemeine Formprinzip warenproduzierender 
Systeme bringen ließen (Scholz knüpft hier an die zwei Zeitlogiken nach F. Haug 
an, Zeitsparlogik der abstrakten Arbeit und Logik der Zeitverausgabung bei den 
o. g. abgespaltenen Tätigkeiten), wurden sie automatisch abgedrängt ins Private 
und ihre Ausübenden, die Frauen, als minderwertig behandelt.

Dem Einwand, hier werde doch lediglich die Differenz Tauschwert/Gebrauchswert 
neu entfaltet begegnet die Autorin mit der Ansicht, dass der Begriff 
"Gebrauchswert" selber noch in der Wertsphäre befangen bleibe, mithin eine 
Stärkung dieser Seite der Differenz keinerlei emanzipatorisches Potenzial haben 
könne. So kommt es bspw. dem Kapital beim Einsatz von sog. Investitionsgütern, 
also Produktionsmitteln zur Herstellung von Produktions- oder 
Konsumtionsmitteln ja auch "nur" auf deren Gebrauchswert an. Vielmehr, 
argumentiert sie, sind die abgespaltenen Tätigkeiten in der Sphäre des 
abschließenden Konsums des Gebrauchswerts beheimatet. Dass der "Wert der Mann" 
ist, deutet schon Alfred Sohn-Rethel in seinem Buch "Geistige und
körperliche Arbeit: Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte" (VCH, 
Weinheim, 1989) an: 
     Die Männer nehmen ihre Funktion als Rechtssubjekte des Austauschs für 
sich in Anspruch und damit den bestimmenden Einfluss auf die öffentliche Sphäre 
und die Verfassung des Staates. Der Frau dagegen verbleibt die häusliche Sphäre 
und die Pflege des Konsums und Gebrauchs der Dinge im familialen Rahmen, der 
Zeugung der Kinder und ihrer Aufzucht im zarten Alter. (S. 71) 

Weshalb nun bedarf es einer abgespaltenen Sphäre? Wenn in der gegenwärtigen 
Gesellschaft jede individuelle Reproduktion unmöglich ist, die sich dem Diktat 
des Werts nicht unterwirft, wieso dann ein Bereich, der von dieser Wertlogik 
ausgenommen ist? M. E. liesse sich folgendes antworten: 

   	1.Das Ergebnis der abgespaltenen Tätigkeiten ist -im Gegensatz zu denen 
der Wertproduktion- meist nicht in Geld darstellbar. Auch im durchgeknallten 
Spätkapitalismus ist noch keine Kalkulation für "Liebe" im Gebrauch, auch hier   
würde es wohl noch als bizarr gelten, wenn der Ehefrau nach der 
Mahlzeitzubereitung die "Opportunitätskosten" der Imbissbude um die Ecke 
vorgerechnet würden. Andererseits: Betreuung und Pflege von Angehörigen werden 
sukzessive der Wertsphäre einverleibt (Pflegedienste, Altenheime). 
Charakteristikum dieser besonderen Sphäre aber bleibt mindestens, dass sich eben 
nicht genau berechnen lässt, was geleistet wurde, dass man nicht 
auseinanderhalten kann, was
"verpflichtende Tätigkeit [m. E.: wertformnah - MB] und existentielle 
Lebensäußerung [m. E.: außerhalb der Wertform - MB]" (vgl. "Das Geschlecht...", 
20) ist. 
	2.Jedes Individuum lebt seiner Reproduktion. Diese als solche ist nicht 
direkt an die Verwertungssphäre gekoppelt. Liebe ist dann Liebe, wenn sie sich 
unökonomisch Zeit lässt und für sie Verrücktheiten begangen werden. Es ist 
geradezu Ausweis des besonders guten Gelingens, wenn ein üppiges Mahl viel 
Vorbereitungszeit gekostet hat. (vgl. auch die Ausführungen zur 
Zeitverausgabungslogik im Anschluß an Frigga Haug in: "Das Geschlecht...", 92 
ff. Auch wenn das wertförmig (aber eben durch die und in der Wertsphäre!) 
deformierte Individuum noch so zwanghaft seinen Alltag "organisiert" und bspw. 
zum manischen Schnäppchenjäger wird: Es kann nach dem individuellen Konsum 
"sich" nicht als Wert + x (wie eine Ware also) realisieren. Die Reproduktion 
des Menschen ist also nicht voll quantifizierbar, in seine     
Reproduktionskosten gehen auch wesentlich nicht- berechenbare Faktoren ein. 
   	3.Im abschließenden Konsum wird der Gebrauchswert und der Tauschwert 
der konsumierten Ware vernichtet. Also kann die Sphäre, in der dies geschieht, 
nicht wieder selbst wertförmig konstituiert sein. Das System von Ware und Wert   
braucht aber dieses Abflußloch "Konsum", sonst kann die "schöne Maschine" nicht 
weiterklappern. Nicht-Wertförmigkeit einer Sphäre ist also Voraussetzung für 
die total gewordene Wertproduktion. Bestritten sei nicht, dass wertförmige     
Verhaltensweisen auch in diesen Bereich vorzudringen versuchen und oft 
aberwitzige Folgen hervorrufen (eine vgl.-weise harmlose: die Gespräche bei 
Tisch über die günstigsten Angebote der diversen Supermärkte; von Zeit zu Zeit 
wähnt man sich durchaus in einer Einkaufsabteilung). 

Die Autorin betont immer wieder, dass die abgespaltenen Tätigkeiten nicht als 
irgendwie gleichberechtigt neben den Wert gestellt werden könnten/sollten, sie 
sich lediglich gleichberechtigte Aufmerksamkeit sichern müssten und auch, dass
"Frauentätigkeiten" keineswegs irgendwelche größeren moralischen Qualitäten 
innewohnten, sondern dass Wert und Abspaltung eine Dialektik bilden, die eine 
den andern und umgekehrt bedingt. Somit könne auch eigentlich nicht mehr 
schlicht von fundamentaler Wertkritik die Rede sein, sondern es sollte 
stattdessen von der Kritik der Wert-Abspaltung-Dialektik gesprochen
werden.

Obwohl ich der Autorin im grundsätzlichen Ansatz zustimme, scheint mir ihre 
Kritik an Judith Butler und Queer-Politics zu harsch. Ich denke, hier entgehen 
Roswitha Scholz die Erfolge, die diese Bewegung -ganz praktisch- bei der 
Zurückschlagung von Homophobie vorweisen kann. Und auch Butlers Buch "Gender 
Trouble" lässt sich eben nicht auf postmoderne, geschwätzige Theoriesimulation 
zurechtstutzen.

Echte Emanzipation hieße: "Aufhebung von Wert, Warenform, Marktwirtschaft, 
abstrakter Arbeit und Abspaltung" ("Das Geschlecht des Kapitalismus...", S. 23) 
und damit die Überwindung sozialer Männlichkeit und Weiblichkeit (ebd., S. 
120). Wahrscheinlicher als das Erreichen dieses emanzipatorischen Ziels ist 
jedoch das weitere Abgleiten in eine "Verwilderung des Patriarchats". Das 
heisst, die Frauen der "dritten" Welt werden zunehmend zum Vorbild für die der 
"ersten", sie haben nicht nur unmittelbare Reproduktionstätigkeiten zu leisten, 
sondern werden zudem in die Sphäre der abstrakten Arbeit genötigt. Die
Erosion traditioneller Lebensformen, die Tatsache, dass sich das Patriarchat 
"aus seinen institutionellen Halterungen löst" (ebd., 133) hat in der Krise 
eben keine emanzipatorischen, sondern regressive Potenziale: Verrohung des 
Umgangs, sinkendes Verantwortungsgefühl zwischen Menschen, Verlust jeder 
sozialen Sicherheit. Die Flexi-Zwangsidentitäten gleichen ihren Gefühlscode 
einander an, um für jede neue Zumutung gerüstet zu sein, sofort im Sinne der 
neuen Tugenden zu reagieren. Das Formprinzip der Wert-Abspaltung selbst bleibt 
unangetastet, die neue Lockerheit des Patriarchats ist lediglich negative
Emanzipation, polemisch: Vorstufe der Barbarei.

Literatur: 

     	Scholz, Roswitha
     	Das Geschlecht des Kapitalismus: Feministische Theorien und die 		
postmoderne Metamorphose des Patriarchats,
     	HORLEMANN edition krisis, 2000
     	die Präzisionen der Thesen ihres u. a. Aufsatzes; nicht ganz einfach 
     
	Scholz, Roswitha
     	Der Wert ist der Mann: Thesen zu Wertvergesellschaftung und 		
Geschlechterverhältnis IN: Krisis: beiträge zur kritik der
     	warengesellschaft 12, 1992, S. 19-52 gut lesbar 
     	
	Kurz, Robert
     	Geschlechtsfetischismus: Anmerkungen zur Logik von Männlichkeit und 		
	Weiblichkeit IN: Krisis: beiträge zur kritik der warengesellschaft 12, 		
1992, S. 117-169


siehe auch: 

     innere Schranke - finale Krise 
     subjektlose Herrschaft 
     Gegen den Arbeiterbewegungsmarxismus! 
     Arbeit ist Scheiße! 
     Für eine Aufhebung des warenproduzierenden Systems 

                     






Annette Schlemm schrieb:
Hallo Uli,

aber auch Eigengesetzlichkeiten folgende "Aspekte" nennt, und ich mit
Krisis in
Anlehnung an Marx "Sphären" nennen würde. Dabei wird die wichtigste gar
nicht
erwähnt: die geschlechtsspezifische nicht wertförmige abgespaltene Sphäre,
die
die Grundvoraussetzung für die Arbeit wie für das Funktionieren des ganzen
warenproduzierende Systems ist, nämlich die der eigentlichen
"Reproduktionstätigkeiten", des Bereichs des Privaten und Sinnlichen, des
Weiblichen.

Kannst du diese Wert-Abspaltung mal so erklären, dass mans verstehen kann?
Ich habe mittlerweile Scholz und auch Kurz dazu gelesen, mir klingt das
alles ganz plausibel. Ich merke aber, daß ichs eigentich niemandem anderen
so ganz richtig erklären kann - was heißt, daß ich es selber noch nicht
verstanden habe (wobei R. Scholz in einem Wochenendseminar bei Bekannten
auch recht wenig wirklich rüberbringen konnte).
Ich denke aber schon, daß wir das künftig insgesamt mit bedenken sollten,
deshalb bitte ich hier um genauere Erläuterungen und hoffentlich auch
Diskussionen dazu. Ich werde in Kürze einiges dazu in OT stellen
(http://www.opentheory.org/proj/feminismen ). Dort wird das dann ziemlich am
Ende mit vorkommen.





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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
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