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[ox] re: notizen zur keimform



2. Teil

Ciao alle miteinander

Die Dinge gehen mir ziemlich im Kopf herum, daher noch ein paar
Überlegungen, wahrscheinlich Wiederholungen, auch wenn die Listen-Karawane schon längst weitergezogen ist. Leider hab ich nicht alle Mails lesen koennen und hab derzeit auch nicht Zugang zu allen, weil ich in Dublin sitze. Ich geh auf alles Mögliche ein, was mich von dem hier von verschiedenen Leuten so Geschriebenen "angesprungen" ist.
Wer's bis zum End durchliest, tut's eh auf eigene Verantwortung. 
;-))

zuerst eine Kleinigkeit zum folgenden Absatz von Annette:

In der realen Geschichte stehen wir immer im Moment der Gegenwart. Die Zukunft ist zwar durch das jeweils Gegebene bedingt, aber das Gegebene (die Bedingungen) ändern sich selbst ständig mit und deshalb ist immer nur die Gegenwart (und Vergangenheit) bestimmt, mit Notwendigkeit realisert - aber jede Zukunft relativ (nicht absolut) offen. Blicke ich jedoch analytisch in die Vergangenheit, zeigt sich, daß nichts Gewordenes "aus Nichts" oder einem Wunder heraus entstand, sondern ich immer in der relativen Vergangenheit gerade jene Bedingungen realiert sehe, die das Gewordene ermöglicht und bestimmt haben. So, wie die Menschheit in Europa sich entwickelt hat, war halt die Sklaverei eine Grundlage des Gegenwärtigen. Das ist eine analytische Aussage, die noch gar nicht automatisch alles Gewesene rechtfertigt!!!
Diese Unterscheidung von Analyse und Wertung geht bei Trenkle m.M. 
nach verloren, wenn er aus lauter Angst, wir könnten den Kapitalismus rechtfertigen, wenn wir irgendwas von ihm positiv nutzen wollen, die positiven Anknüpfungsmöglichkeiten negiert.

So, von hier schreib ich:

Naja, kann ich wirklich Analyse und Wertung so trennen? Ich möchte es einmal so anschauen: Die Analyse ergibt doch auch, welche Möglichkeiten in der Vergangenheit abgeschnitten, nicht realisiert wurden. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen enden auch in Sieg und Niederlage. Wenn ich die Bedingungen dafür analysiere, komme ich immer wieder einmal zum Schluss, dass es auch ganz anders hätt ausgehen können. Ist es blödsinnig, 
lässt es sich überhaupt vermeiden, dass ich dabei Partei ergreife, also werte?

Jetzt
komme ich wieder zu meiner Hauptsache: Produktivkraftentwicklung, Keimform, 
Freie Software.
Stefan Mz. Unterscheidet zwischen Inhalt - Produktivkraftentwicklung und Form - Vergesellschaftungsmodus.

Auf der "Inhalt-Seite" (Produktivkraftentwicklung) scheint mir die Akkumulation der Erfahrung mit dem, des Wissens über den "Stoffwechsel mit der Natur" der Kern zu sein. Die zunehmende "Verwissenschaftlichung" von Produktion liegt in der "Logik" von Produktivkraftentwicklung überhaupt, indem sie auf dem zunehmenden Verständnis des Menschen von Natur und möglichen Mitteln beruht - nehm ich jedenfalls einmal so an. Ich 
meine, das ist so von Anbeginn, nicht erst im industriellen Zeitalter. Im "Meretz-Dreieck" Mensch-Mittel-Natur geht die Dynamik eben vom Menschen aus und bezieht sich auf ihn als "Speicher" und Actor der Akkumulation von Erfahrung und Wissen zurück. Auch Stefans "gnadenlose Vereinfachung" einer Abfolge der Schwerpunkte in der Entwicklung von
"Natur" auf "Mittel" und schließlich "Mensch" will ich hier (noch?) gar nicht in
Frage stellen. Soweit liegt das wohl in der "Natur" des Vorgangs Produktivkraftentwicklung, ohne dass ich die “Form-Seite” noch betrachtet habe.

Für diese “Form-Seite” besteht ein breiter Horizont auch gegensätzlicher Möglichkeiten [m.E. übrigens alle "bewertbar" und von mir ziemlich ungeniert bewertet]. Das fängt schon damit an, dass die "historische" (im klassischen Sinn: seit Erfindung der Schrift) Produktivkraftentwicklung so ziemlich seit der Sesshaftwerdung in der Form von gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen stattgefunden hat, was ja auch keineswegs determiniert war und von vielen Menschen aller Zeiten nicht akzeptiert, sondern in vielfältiger Weise in Frage gestellt und bekämpft
wurde. [Und wieder: Wenn ich das zu analysieren versuche, ist mein "erkenntnisleitendes Interesse" mit einer sehr heftigen Wertung verbunden. Auch die "verbotene Frage" des "Was wäre, wenn ..." ist in diesem Zusammenhang so dumm nicht, auf jeden Fall aber ist die Frage "Was haben 'wir' falsch gemacht" m.E. unumgänglich. Bei den Gräueln bin ich
tatsächlich prüde, wie Stefan Mn. (für mich ein wenig halb-)lustig bemerkt hat.]

Die in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung durchgesetzten Formen der Vergesellschaftung lenken den Inhalt Produktivkraftentwicklung, z.B. indem Herrschaft Ressourcen kontrolliert und Bedürfnisbefriedigung reglementiert. Umgekehrt sehe ich keinen sehr bestimmenden Einfluss der Entwicklung der "Natur-Mittel-Mensch"-Beziehung auf die gesellschaftliche Entwicklung bis zur "Modernisierung" ab der Renaissance. Oder kann hier jemand aus seiner Kenntnis der Geschichte heraus anderes dazu sagen?

Die auf der Grundlage des "Sündenfalls" der Etablierung von Herrschafts- und damit Eigentumsverhältnissen aufkommende Geldwirtschaft wird als "auri sacra fames" (verfluchter Hunger nach Gold) in den "personal - konkreten" Vergesellschaftungsformen weithin noch als destruktiv beschrieben (von den biblischen Propheten über die griechische und römische Dichtung bis zur mittelalterlichen Predigt). Sie blieb eher marginal und hatte auf die Produktivkraftentwicklung keinen für mich sichtbaren großen Einfluss. 
Doch die von der Herrschaft blutig etablierte "Ökonomie der Feuerwaffen" 
schuf ab der Renaissance ein merkwürdiges neues Verhältnis, geboren aus dem Zweck
der Finanzierung militärischer Eroberung: Kauf und Verkauf, Marktkonkurrenz
als grundlegende gesellschaftliche Verkehrsform, Vermehrung des Geldes mittels
"Verwertung" "abstrakter Arbeit" als Produktionszweck. Damit wurde aber Produktivkraftentwicklung ein Vehikel der Kapitalakkumulation, ja ein Kriterium ihres Gelingens. Wirtschaft wurde abstrahiert von menschlicher Bedürfnisbefriedigung und jeglicher ökologischer Rücksichtnahme, sie wurde Selbstzweck. Produktivkraftentwicklung in dieser Form ist kastriert, ihrer menschlichen Antriebskraft beraubt. 
Es ist eine merkwuerdige Herrschaft der Form ueber den Inhalt, die die Dinge umdreht. Vielleicht die letzte Konsequenz von Herrschaft ueberhaupt.

Marx hat eine Bruchstelle dieses Selbstzweck-Kreislaufs der Verwertung in der Verwissenschaftlichung und damit Entwertung von Produktion ausgemacht.
Aus beiden Grenzen der kap. Entwicklung ergibt sich aber keineswegs, dass das danach Kommende besser, freier ist. Die Selbstentfaltung antiker Sklavenhalter führte ev. zur besseren Behandlung der Sklaven ihrer Umgebung, nicht zur Abschaffung der Sklaverei. Wenn nun der Zwang zur Geldvermehrung die geistigen und psychischen Potenzen der Menschen zum Zentrum der PKE macht, ist deren Kastration nicht aufgehoben, deren Perversion vielmehr auf die Spitze getrieben, die “Verwertung des Werts” internalisiert, kritische Distanz tendenziell unmoeglich gemacht. 
Gilt das fuer Informatiker, ja selbst fuer Freie Software in irgendeiner Weise weniger? Kann ich nicht sehen! Auch der legendaere druckertreiber von rms war da nichts Neues [aber vielleicht erklaert mir’s noch jemensch ;-)  ].

Die Bedeutung von “allgemeiner Arbeit”, von “Netzen”, von Wissenschaft fuer Produktion nimmt zu, die fuer die Verwertung unerlaessliche “Privatarbeit” fuer den Markt nimmt ab. Das bringt m.E. zwar eine Wirtschaftsordnung ans Ende, fuer die der “Wert” der einzige Massstab ist, das heisst aber keineswegs, dass nicht die “Zugaenge” (Rifkins “access”) monopolisiert werden. Aus der Marktwirtschaft entwickelt sich m.E. eine neue Struktur in der Art einer globalen Mafia, in der dann begabte Informatiker etc. als technokratische Elite ihren Platz haben, an dem sie auch open source, ja Freie Software entwickeln koennen – waehrend die grosse Masse der Menschen [jeder 2. Mensch hat noch nicht einmal ein Telefon benuetzt] “draussen” gehalten werden. Graham hat da m.E. Richtiges gegen Stefan Mn.s Optimismus eingewandt. Kryzmanski hat in diesem Zusammenhang einmal auf die Lektuere der Neuromancer-Trilogie empfohlen ;-)

Fuer mich heute Lebenden hat der Stand der “Verwissenschaftlichung” der Produktion, die Herstellungsart Freier Software und z.T. ihre Ergebnisse doch die Bedeutung, dass ich sie mit den von mir ebenfalls aus dem Gang der Geschichte uebernommenen Bemuehungen um ein gesellschaftliches Leben in Freiheit und Selbstbestimmung in der Weise verknuepfe, dass sie fuer mich sozusagen “Bausteine, Elemente” sein koennen, die ich fuer den Bau eines “neuen Hauses” nuetze. Die Strukturen und die meisten “Bausteine” des Vorhandenen sind fuer ein Leben jenseits von Herrschaft nicht verwendbar. Wirklich positiv “anknuepfen” kann ich doch nur an die Widerstaende gegen Unterdruekung etc., die die Geschichte der Herrschaft immer begleitet haben. 

Naja, ich muss aufhoeren und wieder ein paar Voraussetzungen fuer die Verwertung von Arbeitskraft foerdern ;-(
Ciao,
Lorenz




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