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Re: [ox-de] "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo Jobst,

Zitat von Jobst Quis <wuwei nadir.org>:
Die Verkürzung des Kapitalismus auf Ausbeutungssystem ist deine
Interpretation. Abgesehen davon, daß es unmöglich ist, den Kapitalismus
in wenigen Sätzen unverkürzt darzustellen, halte ich nicht die Ausbeutung
für das wesentliche an der Sklaverei, sondern den Verlust der
Selbstbestimmung. Oder ihre Pervertierung in Selbstbeherrschung am
Kapitalismus, der durch Geld und Markt vermittelten erwachsenen
Sklaverei.

Das Betteln nach Ausbeutung und Fremdbestimmung widerlegt doch nicht die
Sklaverei, es zeigt wie tiefgreifend diese Zurichtung ist. Die
Selbstverständlichkeit, mit der auf Selbstbestimmung und Eigensinn
verzichtet wird, aber geglaubt wird, auf materielle Bedürfnisse nicht
verzichten zu können, ist Ausdruck dieser Versklavung.

Auf welche Bedürfnisse ich verzichte und auf welche nicht, ist eine
Entscheidung, die ich schon selbst treffen möchte. Bedürfnisverzicht als
Ideal zu propagieren* ist genauso fragwürdig wie das kapitalistische
Propagieren des "immer mehr und immer besser" -- beides spricht den anderen
Menschen das Recht ab, selbst über ihre Bedürfnisse zu entschieden.

*Nicht dass ich dir unterstellen will, das zu tun.

Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die von ihrem Vermögen leben
können oder könnten, ohne daß es weniger wird. Doch auch wenn sie mehr
ver-dienen wollen und deshalb auch ein bißchen Sklaven sind, ändert das
nichts daran, daß sie Sklavenhalter sind und von der Sklaverei
profitieren. Nahezu jedeR, der/die sich am Wirtschaftssystem beteiligt,
ist zugleich Sklave und SklavenhalterIn, jedoch in unterschiedlichem
Maße. Als ProduzentIn oder AnbieterIn ist er/sie Sklave, als KonsumentIn
oder AuftraggeberIn ist er/sie SklavenhalterIn.

Wohingegen in einem echten Sklavenhaltersystem Sklavenhalter und Sklaven
normalerweise strikt getrennt sind -- Sklaven sind keine Sklavenhalter, und
andersrum genauso wenig. Insofern ist deine Analogie nicht hilfreich, weil
sie diese Begriffe in einer historisch ausgesprochen irreführenden Weise
umdeutet.

Sehen wir daraufhin nochmal den von dir zitierten Text von HGG an: "Und
ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit sich: Er
*zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten, sich - unter
Androhung des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage - für die Bedürfnisse
anderer Produzenten zu interessieren, und legt so den Keim für ein neues
WIR, das erst in einer wirklich Freien Gesellschaft zur vollen Entfaltung
kommen wird." Niemand interessiert sich für die Bedürfnisse der
Arbeiterinnen in den Billiglohnländern. Der Markt zwingt keineswegs, sich
für ihre Bedürfnisse zu interessieren. Im Gegenteil zwingt er geradewegs
dazu, ihre Bedürfnisse zu ignorieren, weil sie wegen der schlechten
Bezahlung nicht kaufkräftig sind.

Genau, das habe ich HGG ja auch schon vorgeworfen
[http://www.oekonux.de/liste/archive/msg11956.html].

Der Markt zwingt dazu, sich für die Bedürfnisse der Konsumenten bzw
Geldbesitzer zu interessieren. Er zwingt die Sklaven dazu, sich nach den
Bedürfnissen der Sklavenhalter zu richten, auch ohne sie jemals zu
Gesicht zu bekommen. Einem "neuen WIR", das aus solchem Zwang keimt, kann
ich nur mit äußerster Skepsis begegnen.

Dem letzten Satz stimme ich zu, aber vorher hakts wieder mit der Analogie.
Tatsächlich zwingt der Markt ja die "Sklaven" (und auch die
"Sklavenhalter") dazu, sich zumindest teilweise und auf sehr indirekte
Weise auch nach den Bedürfnissen der anderen "Sklaven" (nicht nur nach
denen der "Sklavenhalter") zu richten, denn auch diese verfügen ja über
eine gewisse Kaufkraft -- nur die Weder-Sklaven-noch-Sklavenhalter (die
"Nichtgebrauchten") sind im Kapitalismus halt richtig schlecht dran, was
die Bedürfnisbefriedigung betrifft.

Ich hab ja garnichts dagegen Begriffe wie "Freiheit" zu gebrauchen, nur
haben sie gerade wegen der allgemein positiven Besetzung keine Präzision.
Alle wollen Freiheit, alle wollen Gerechtigkeit, aber jeder versteht
etwas anderes darunter, weil jeder die positive Besetzung für seine Ziele
nutzen will. Deshalb werden solche Begriffe gern für Wahlparolen oder
Verfassungen benutzt, aber für geistige Auseinandersetzung mit den Zielen
Erkenntnisgewinn und Bewußtmachung sind sie erst geeignet, wenn noch
Parameter zur Präzisierung mitgeliefert werden. Im Falle von "Freiheit"
sind das Antworten auf die Fragen "für wen?" und "wovon?".

Klar, das stimmt. "Für wen?" kann IMHO nur mit "für alle" (bzw. alle, die
wollen) beantwortet werden, alles andere wäre zynisch -- und daraus ergibt
sich dann eben, dass man um die "Freie Gesellschaft" letztlich nicht
rumkommt, und nicht nur an sich selbst und die eigenen Freund/innen denken
sollte. Und neben dem "wovon?" ist auch das "wozu?" wichtig. Diese Fragen
kann man ja beantworten, siehe z.B.
http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Freie_Gesellschaft .

"Freiheit von der Gesellschaft" als Richtung, in die ich gehen will,
heißt unabhängiger zu werden, und zwar geistig, emotional und materiell.
Von dem, was die Leute sagen, vom "man", von der Normalität usw. Es
heißt, mit Freunden und Freundinnen schon mal losgehen zu können, wo wir
hinwollen, und nicht zu warten bis alle dorthin wollen.

Klingt erstmal gut, aber was heißt das konkret?

Ciao
Christian

-- 
Freie Gesellschaft: http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Hauptseite
--
I suspect the only taboos that are more than taboos are the ones that are
universal, or nearly so. Murder for example. But any idea that's
considered harmless in a significant percentage of times and places, and
yet is taboo in ours, is a good candidate for something we're mistaken
about.
	-- Paul Graham, Hackers and Painters

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Kontakt: projekt oekonux.de



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