[ox-de] Re: [ox] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"
- From: Jobst Quis <wuwei nadir.org>
- Date: Mon, 24 Jul 2006 23:26:11 +0200
Am Samstag, 15. Juli 2006 14:00 schrieb Christian:
Hallo Jobst, hallo alle,
Zitat von Jobst Quis <wuwei nadir.org>:
Als Unsinn erscheint dir die These, dass "Sklaverei eine pubertäre Form
der
Freiheit" ist, nur deshalb, weil du dabei an Freiheit für die Sklaven
denkst.
Meta-Beobachtung: ganz egal, wie absurd eine These, auf [ox] wird sich
immer jemand finden, der sie verteidigt :-)
Die These ist nicht absurder als die Gesellschaft, in der wir leben. Und um
die Absurdität leichter zu verstehen ist ein Perspektivenwechsel ganz
hilfreich. Wobei Verstehen keineswegs Einverstandensein bedeutet.
Denk doch mal an die Freiheit der Sklavenhalter, und die These wird in
sich
konsequent und stimmig. Die heutigen Sklavenhalter haben mindestens
denselben
Nutzen durch die Sklaven wie früher, dabei aber viel mehr Freiheit. Sie
sind
frei von diesen schrecklichen Begriffen, keiner nennt sie mehr
Sklavenhalter
und die wenigsten Sklaven erkennen sich als solche. Sie sind frei vom
schlechten Gewissen, sie müssen nicht mehr den Umgang mit der Peitsche
und
andere direkte Herrschaftstechniken lernen, sie müssen ihre Sklaven nicht
mehr sehen, sie brauchen sie nicht einmal zu kennen.
Die Sklaverei hat sich beim Erwachsenwerden entpersönlicht, ist zum
allgegenwärtigen, aber undurchschaubaren System geworden und nennt sich
jetzt
Wirtschaft. Die Sklaven haben gelernt, sich selbst zu beherrschen
(gegenseitig und jeder für sich) und entlasten dadurch die Nutznießer der
Herrschaft von der undankbaren Aufgabe des Herrschens. Diese
Selbstbeherrschung (das zivilisatorische Moment) ist genau der
Unterschied
zwischen Pubertierenden und Erwachsenen, deshalb find ich die These
garnicht
so unsinnig.
Mir scheint, du vertritts die These, dass offene Sklaverei eine pubertäre
Form der sehr viel subtileren Ausbeutung ist, die heute praktiziert wird
(und die ihrerseits möglicherweise einen Freiheitszuwachs für die
Ausbeutenden bedeutet). Kapitalismus nur als Ausbeutungssystem zu
begreifen, greift aber viel zu kurz, zumal diejenigen, die heute am meisten
unter dem Kapitalismus leiden, ja nicht die Ausgebeuteten, sondern vielmehr
die Nicht-(mehr-)Ausgebeutenden sind, die nicht "gebraucht" werden und
keine Erwerbsarbeit mehr finden können. Innerhalb des Kapitalismus ist es
normalerweise (von besonders schlimmen Arbeitsverhältnissen abgesehen)
tatsächlich angenehmer, als Erwerbsarbeiter/in "ausgebeutet" zu werden
(d.h. für andere Mehrwert zu generieren) als nicht "gebraucht" zu werden
und deshalb (mangels Kaufkraft) auf die Befriedigung vieler materieller
Bedürfnisse verzichten zu müssen.
Die Verkürzung des Kapitalismus auf Ausbeutungssystem ist deine
Interpretation. Abgesehen davon, daß es unmöglich ist, den Kapitalismus in
wenigen Sätzen unverkürzt darzustellen, halte ich nicht die Ausbeutung für
das wesentliche an der Sklaverei, sondern den Verlust der Selbstbestimmung.
Oder ihre Pervertierung in Selbstbeherrschung am Kapitalismus, der durch Geld
und Markt vermittelten erwachsenen Sklaverei.
Das Betteln nach Ausbeutung und Fremdbestimmung widerlegt doch nicht die
Sklaverei, es zeigt wie tiefgreifend diese Zurichtung ist. Die
Selbstverständlichkeit, mit der auf Selbstbestimmung und Eigensinn verzichtet
wird, aber geglaubt wird, auf materielle Bedürfnisse nicht verzichten zu
können, ist Ausdruck dieser Versklavung.
Die These, dass der Kapitalismus tatsächlich zu einem Freiheitszuwachs für
die "ausbeutenden" Kapitalist/innen führt, ist im Übrigen auch
fragwürdig, weil ja ironischerweise die kapitalistische Arbeitsideologie
mittlerweile die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Die frühere "leisure
class", die sich auf Kosten der für sie schaffenden Lohnarbeiter/innen ein
schönes Leben frei von Arbeit und Mühsal macht, gibt es heute ja praktisch
nicht mehr, da der Arbeitswahn auch die Kapitalist/innen selbst in Atem
hält.
Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die von ihrem Vermögen leben können
oder könnten, ohne daß es weniger wird. Doch auch wenn sie mehr ver-dienen
wollen und deshalb auch ein bißchen Sklaven sind, ändert das nichts daran,
daß sie Sklavenhalter sind und von der Sklaverei profitieren. Nahezu jedeR,
der/die sich am Wirtschaftssystem beteiligt, ist zugleich Sklave und
SklavenhalterIn, jedoch in unterschiedlichem Maße. Als ProduzentIn oder
AnbieterIn ist er/sie Sklave, als KonsumentIn oder AuftraggeberIn ist er/sie
SklavenhalterIn. Doch durch die extrem ungleiche Verfügung über Geld sind da
viele, die faktisch nur Sklave sind und einige, die in erster Linie
Sklavenhalter sind. Wenn jemand ein hundertfach höheres Einkommen hat als
andere, kommt das auf dasselbe hinaus, als ob er über 100 Sklaven zu
bestimmen hat, was sie tun sollen.
Sehen wir daraufhin nochmal den von dir zitierten Text von HGG an:
"Und ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit sich: Er
*zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten, sich - unter Androhung
des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage - für die Bedürfnisse anderer
Produzenten zu interessieren, und legt so den Keim für ein neues WIR, das
erst in einer wirklich Freien Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommen
wird." Niemand interessiert sich für die Bedürfnisse der Arbeiterinnen in
den Billiglohnländern. Der Markt zwingt keineswegs, sich für ihre Bedürfnisse
zu interessieren. Im Gegenteil zwingt er geradewegs dazu, ihre Bedürfnisse
zu ignorieren, weil sie wegen der schlechten Bezahlung nicht kaufkräftig
sind.
Der Markt zwingt dazu, sich für die Bedürfnisse der Konsumenten bzw
Geldbesitzer zu interessieren. Er zwingt die Sklaven dazu, sich nach den
Bedürfnissen der Sklavenhalter zu richten, auch ohne sie jemals zu Gesicht zu
bekommen. Einem "neuen WIR", das aus solchem Zwang keimt, kann ich nur mit
äußerster Skepsis begegnen.
....
IMHO bringt es aber nichts, umkämpfte Begriffe wie "Freiheit" und "Rechte"
aufzugeben, nur weil sie oft auf fragwürdige oder irreführende Weise
gebraucht werden. Langfristig riskierst du damit, alle positiv besetzten
Begriffe aus der Hand zu geben, und deine Ersatzbegriffe sind ja keineswegs
davor gefeit, auf ähnliche Weise instrumentalisiert zu werden.
Ich hab ja garnichts dagegen Begriffe wie "Freiheit" zu gebrauchen, nur haben
sie gerade wegen der allgemein positiven Besetzung keine Präzision. Alle
wollen Freiheit, alle wollen Gerechtigkeit, aber jeder versteht etwas anderes
darunter, weil jeder die positive Besetzung für seine Ziele nutzen will.
Deshalb werden solche Begriffe gern für Wahlparolen oder Verfassungen benutzt,
aber für geistige Auseinandersetzung mit den Zielen Erkenntnisgewinn und
Bewußtmachung sind sie erst geeignet, wenn noch Parameter zur Präzisierung
mitgeliefert werden. Im Falle von "Freiheit" sind das Antworten auf die
Fragen "für wen?" und "wovon?".
Ein Grund für mich, die "Freiheit von der Gesellschaft" gegenüber der
"Freien Gesellschaft" zu bevorzugen.
Ohne die Gesellschaft anderer Menschen zu leben, ist aber nicht möglich
oder macht zumindest keinen Spaß. Da es ohne Gesellschaft nicht geht,
sollte sie auch frei sein.
Um nicht allein zu sein und Spass zu haben, brauch ich Freundschaft(en), aber
keine Gesellschaft. Natürlich ist sie um mich herum und ich kann sie nicht
völlig ignorieren. Ich muß mich auf sie einstellen, so wie ich mich auch auf
einen Mückenschwarm einstellen muß, wenn er um mich rumschwirrt.
Eine absolute "Freiheit von der Gesellschaft" ist genauso utopisch wie eine
absolut "freie Gesellschaft". Doch wie Sterne können gerade unerreichbare
Ziele gut als Richtungsweiser und Orientierungspunkte sein.
"Freiheit von der Gesellschaft" als Richtung, in die ich gehen will, heißt
unabhängiger zu werden, und zwar geistig, emotional und materiell. Von dem,
was die Leute sagen, vom "man", von der Normalität usw. Es heißt, mit
Freunden und Freundinnen schon mal losgehen zu können, wo wir hinwollen, und
nicht zu warten bis alle dorthin wollen.
Gruß, Jobst
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