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Re: [ox-de] "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo Jobst,

danke für den Input, auch wenn ich es als Plädoyer gegen meine These
lese. Aber ich versuche mal, mich bei ein paar deiner Argumente
"einzuhaken".

Jobst Quis wrote:
Die Verkürzung des Kapitalismus auf Ausbeutungssystem ist deine 
Interpretation. Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, den 
Kapitalismus in wenigen Sätzen unverkürzt darzustellen, halte ich 
nicht die Ausbeutung für das wesentliche an der Sklaverei, sondern 
den Verlust der Selbstbestimmung. Oder ihre Pervertierung in
Selbstbeherrschung am Kapitalismus, der durch Geld und Markt
vermittelten erwachsenen Sklaverei.

Womit du den Bogen schon weit jenseits der Grenzen des Kapitalismus
spannst.  Die Frage, die an dieser Stelle nahe liegt: Bedurfte es damals
(im alten Rom oder - besser - Athen) der Sklaven, um EIN PAAR Leuten
(eben den "Freien") zu ermöglichen, schon mal wie in einer Freien
Gesellschaft zu leben? Im Übrigen sind von diesen "Freien" vor allem
wissenschaftliche Leistungen überliefert, die auf die (fernere) Nachwelt
einen großen Einfluss hatten. Insofern könnte man schon mal vermuten,
dass sich "der Weltgeist" was "dabei gedacht" hatte (ich verwende die
Personalisierung nur mal, um diesen meinen Gedanken zu verkürzen).

Sind die Unternehmer als die "Sklavenhalter von heute" im von dir
herausgearbeiteten Sinn in direkter Fortsetzung dieser (exklusiven)
"Freien Gesellschaft" zu denken? Schließlich verfügen bzw. verfügten sie
über Mittel, die ihnen eine weitgehend freie Selbstentfaltung im hier
auf der Liste gebrauchten Sinne - natürlich auf Kosten der Ausbeutung
anderer - ermöglichte?

Es sind ja die "freien Freien", die sich historisch aus den "doppelt
Freien" abgehoben haben, wobei ihre Zahl (die der Unternehmer) schon mal
deutlich höher ist als im alten Rom (vermute ich mal).

(Jobst)
Das Betteln nach Ausbeutung und Fremdbestimmung widerlegt doch nicht 
die Sklaverei, es zeigt wie tiefgreifend diese Zurichtung ist. Die 
Selbstverständlichkeit, mit der auf Selbstbestimmung und Eigensinn 
verzichtet wird, aber geglaubt wird, auf materielle Bedürfnisse nicht
verzichten zu können, ist Ausdruck dieser Versklavung.

Jeder Unternehmer und jede Ich-AG versucht, aus diesem "Betteln nach
Ausbeutung und Fremdbestimmung" auszubrechen (und insofern habe ich ein
großes Problem mit Plakaten und Losungen "Arbeit her!"). Im mawi-paper
heißt es bei mir dazu weiter:

(mawi-paper)
Kapitalismus bricht mit dieser Tradition [des Bettelns], im freien 
Unternehmertum einerseits radikal, global andererseits halbherzig,
denn es wird das alte (und wenigstens auf psychischer Ebene
wohlfeile) Kommandoverhältnis auf der letzten der möglichen Stufen
reproduziert, dem Verhältnis zwischen dem "freien" Unternehmer und
den von ihm ausgebeuteten Arbeitskräften. Das mag auch Gründe im
Stand der Produktivkräfte haben, zeigt aber, dass gegenüber
vorkapitalistischen Verhältnissen nur noch ein kleiner Schritt zu
einer wirklich freien Gesellschaft erforderlich ist: Diese letzte
Bastion autoritativer Kommandostrukturen ist zu schleifen.

Und vorher:

Er (der Markt) zwängt damit in einer jahrtausendelangen Entwicklung 
auch psychologisch ganz anders konstituierte, obrigkeits- und 
kommandogewohnte Individuen auf den Weg der Selbstfindung, der später
- reflektiert - in die bewusste politische Gestaltung von
Gesellschaft münden kann, in die "Produktion der Verkehrsformen 
selbst", ...

Hier sind wir dann bei der zentralen These von "Kapitalismus als
pubertäre Form": Mit dem Unternehmertum hat sich ein Teil der Menschen
bereits MIT dem BEGINN des Kapitalismus aus diesem Betteln befreit, sehr
rudimentär und noch im Morast watend. Nun ist die Zeit gekommen, dass
auch der Rest das Betteln lässt. Dass die Zeit gekommen ist begründe ich
nicht ethisch-normativ, sondern funktional, aus den technologischen
Erfordernissen der Zeit.

(Jobst)
Nahezu jedeR, der/die sich am Wirtschaftssystem beteiligt, ist 
zugleich Sklave und SklavenhalterIn, jedoch in unterschiedlichem 
Maße. Als ProduzentIn oder AnbieterIn  ist er/sie Sklave, als
KonsumentIn oder AuftraggeberIn ist er/sie SklavenhalterIn.

Das belegt noch einmal, dass bereits MIT dem Kapitalismus gegenüber
allen vorherigen Gesellschaften irgendwas anders ist. Einziges
"Problem": Der Markt regiert über die Menschen und nicht die Menschen
über den Markt.

Sehen wir daraufhin nochmal den von dir zitierten Text von HGG an: 
"Und ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit 
sich: Er *zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten, sich 
- unter Androhung des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage - für die
Bedürfnisse anderer Produzenten zu interessieren, und legt so den 
Keim für ein neues WIR, das erst in einer wirklich Freien 
Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommen wird." Niemand interessiert
 sich für die Bedürfnisse der Arbeiterinnen in den Billiglohnländern.
 Der Markt zwingt keineswegs, sich für ihre Bedürfnisse zu 
interessieren. Im Gegenteil zwingt er geradewegs dazu, ihre 
Bedürfnisse zu ignorieren, weil sie wegen der schlechten Bezahlung
nicht kaufkräftig sind.

Das widerspricht meiner These nicht, denn ich behaupte ja nicht, dass
das "für die Bedürfnisse anderer Produzenten interessieren" umfassend
geschieht. Die zentrale Frage lautet m.E. also: Warum werden Bedürfnisse
ignoriert? Die Antwort ".. nicht kaufkräftig" trägt keinerlei
transzendierende Potenz in sich. Also frag ich mal anders: Werden auch
Bedürfnisse ignoriert, obwohl kaufkräftig? Bzw. gibt es
Bedürfnisbereiche, wo es gar nicht um Kaufkraft geht, und trotzdem
ignoriert wird.

Vielleicht verstehst du jetzt auch besser, warum ich mich so brennend
für Ignoranz auf dieser Liste interessiere, von wem und wo sie auch
immer ausgeht und wie und wo sie auch immer wahrgenommen wird
("ignorant" ist ja ein subjektives Urteil).

Und bin gespannt, ob die Antworten nicht weitgehend orthogonal zur
"Wertkritik" ausfallen werden.

"Freiheit von der Gesellschaft" als Richtung, in die ich gehen will,
 heißt unabhängiger zu werden, und zwar geistig, emotional und
materiell. Von dem, was die Leute sagen, vom "man", von der
Normalität usw. Es heißt, mit Freunden und Freundinnen schon mal
losgehen zu können, wo wir hinwollen, und nicht zu warten bis alle
dorthin wollen.

Sich auf diesem Weg nicht ALLER geistigen Schätze und greifbaren
Erfahrungen der anderen und der Menschheit insgesamt zu versichern ist
für mich schlicht Dummheit. Insofern stehen die beiden Aussagen, die du
hier in einem Atemzug nennst, für mich in diametralem Widerspruch
zueinander.

Viele Grüße, Hans-Gert

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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