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Re: [ox-de] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo HGG,

Hans-Gert Gräbe schrieb (am 3. August):
Dabei sind aber z.B. bei den neueren Entwicklungen wie dem Übergang
vom Fordismus zum Postfordismus bzw. Neoliberalismus solche Einflüsse
unübersehbar (etwa in Form der "Chicago Boys" oder in Deutschland
z.B. der Bertelsmann Stiftung).

Auch da müsste man genau hinschauen, inwieweit diese Leute
Trend<nb>setter</b> und inwieweit "nur" Trend<b>aufspürer</b> sind.
Machtspielchen als Strippenziehen setzt ja das Vorhandensein der
Strippen, an denen gezogen, wird voraus. Ich will dich damit nicht
entkräften, sondern nur sagen, dass hier eine *analytische* Leistung
auch von uns erforderlich ist statt zu *glauben*, was die erzählen.

Ich glaube ja auch nicht, was die erzählen -- im Gegenteil ;-)

Das mit dem Trendaufspürern vs. Trendsettern finde ich eine eher
uninteressante Unterscheidung -- sicher liefern solche neoliberalen Think
Tanks den Kapitalist/innen (und den von diesen abhängigen Politiker/innen)
häufig nur die Argument zur Begründung dessen, was diese sowie gern gemacht
hätten. Wobei zusätzliche, halbwegs plausibel klingende Argumente natürlich
immer auch die Durchsetzung von Maßnahmen erleichtern, die sonst weniger
einfach durchzusetzen wären. Von daher gibt's da keine so klare Trennung
von "Aufspürern" und "Settern".

Nein, die heutige Zeit ist aufgeladen mit *beidem*, den Relikten der
Barbarei und dem bereits Kommendem. Denn sie ist auf der anderen Seite
gelegentlich auch eine sehr zivilisierte Gesellschaft mit vielfältigen
Möglichkeiten sich zur Wehr zu setzen ohne anderen gleich den Schädel
einschlagen zu müssen. Das ist der Kern meiner These "Kapitalismus als
pubertäre Form" - Übergang (in einer 2000-jährigen historischen Spanne)
von den "rohen Umgangsformen der Kindheit (der Menschheit)" zu den
"zivilisierten Umgangsformen der Erwachsenen".

Das impliziert nun (abgesehen von dem wenig schmeichelhaften und auch
wenig realistischen Bild, das du von Kindern zu haben scheinst) die Idee,
dass alle früheren Gesellschaften (vor dem Kapitalismus) von Barbarei und
gegenseitigem Sich-den-Schädel-einschlagen geprägt waren. Ohne die
Vorgangenheit verklären zu wollen, ist das doch eine sehr ahistorische
Idee, die einem empirischen Überprüfung mit Sicherheit nicht
standhält. Schon Hobbes' Naturzustand, in dem ein "Krieg aller gegen alle"
geherrschaft haben soll, ist ja ein Mythos, den es in Wirklichkeit so nie
gab (oder zumindest gibt es keinerlei Belege dafür).

Du weitest diesen Naturzustand jetzt von dem vor-gesellschaftlichen Menschen
(für den Hobbes ihn annahm) auch noch auf _alle_ vorkapitalistischen
Gesellschaften aus, ohne genauer hinzugucken. Das ist nicht sehr seriös!
(Wenn man genauer hingucken würde, könnte man eigentlich nur schließen,
dass er früher sehr gewalttätige und sehr friedliche Gesellschaften gegeben
hat, und alles mögliche dazwischen. Das ist nicht wirklich überraschend,
aber es passt nicht in dein Bild, also verzichtest du aufs Hingucken.)

Ist es nicht auch umgekehrt, dass sich die Bedürfnisbefriedigung im
 Kapitalismus durch die Wertverwertung prozessiert?

Nein. Die Bedürfnisbefriedigung ist Mittel, die Wertverwertung Zweck.

Hmm, gehst du zum Bäcker, weil du ein Brot fürs Abendessen brauchst oder
um Geld auszugeben? Und wenn es nebenan ganz billige Fähnchen für's Auto
gibt, dann vergisst du das Brot-kaufen und kaufst Fähnchen, weil das
unter Wertverwertungsgesichtspunkten mehr bringt?

Natürlich nicht -- sonst gäbe es ja keine Bedürfnisse. Aber der Bäcker
verkauft mir die Brötchen, weil's der Wertverwertung dient und nicht aus
Interesse an meinen Bedürfnissen. Und wenn es zwischen meinem Bedürfnissen
und seiner Wertverwertung zum Konflikt kommt, dann _kann_ er auf meine
Bedürfnisse kaum Rücksicht nehmen, ohne in Schwierigkeiten zu
kommen. Deswegen riskiert die Verkäuferin, die dem Kunden erzählt, dass er
ein bestimmtes (teures) Produkt gar nicht braucht und mit einem billigeren
(oder einem der Konkurrenz) besser fahren würde, einen Anschiss (oder
schlimmeres). Deswegen sind Softwareentwickler in Firmen oft unglücklich
darüber, dass sie die zur Vermarktung bestimmte Software aus Zeit- und
Geldgründen nicht so gut machen können, wie sie werden konnte, sondern
aufhören müssen "bevor sie fertig ist". Usw.

Ich halte deine These für eine arg reduktionistische Betrachtung der
Welt. Die gleichwohl hier auf der Liste weit verbreitet ist.

Betrachtet wird nicht die Welt, sondern nur der Kapitalismus -- das ist,
glücklicherweise, nicht dasselbe.

Aber werd doch mal konkreter: worin und auf welche Weise
unterscheidet sich denn deine Vision einer Gesellschaft, in der "auch
der 'dressierte Gorilla am Fließband' zu der Reflexionsleistung
gezwungen wird, zu der heute nur die Unternehmer gezwungen werden",
von Postfordismus?

Ich stelle nur fest, dass es den "dressierten Gorilla am Fließband"
immer weniger gibt, (auch) dort immer mehr Mitdenken und Eigeninitiative
verlangt wird, Menschen sich mit diesen Herausforderungen schwer tun -
aus Kommandoverhältnissen herauszutreten. Manche mehr, manche weniger.
Auch und gerade im Bereich der Arbeitslosen - wo ich durch persönliche
Umstände einen ganz guten Einblick habe. Das ist neu für eine Etappe der
Entwicklung der Gesellschaft nach dem Fordismus. Postfordismus bringt
also die nächsten "Eiterbeulen" mit sich - etwa: was fange ich mit mir
an, wenn niemand mehr was mit mir anfangen kann.

Wobei es den "dressierten Gorilla am Fließband" in vorkapitalistischen
Zeiten nicht gab, und genauso wenig das Konzept (oder den Begriff)
Arbeitslosigkeit. Keine frühere Gesellschaft wäre ja auf die Idee
gekommen, die Menschen so über die Erwerbsarbeit zu definieren, wie der
Kapitalismus das tut (wieso auch?).

Die sich wandelnden Einstellungen zu Arbeit und Muße wurden ja z.B. von
Hannah Arendt "Vita activa" untersucht. Wobei das, was aus
innerkapitalistischer Sicht für viele Menschen ein
Fluch für ist (die Abnahme der notwendigen Arbeit dank höherer
Produktivität), aus Sicht früherer Gesellschaften (und ebenso vermutlich
aus Sicht künftiger Gesellschaften) ja als Segen erscheint, da so mehr
Zeit und Gelegenheiten für Muße und andere selbstbestimmte Aktivitäten
bleiben.

Nur dass der Kapitalismus selbst nicht in der Lage ist, dieses von ihm
selbst geschaffene Potenzial zu realisieren, da er noch immer auf der (bei
Entstehung des Kapitalismus vielleicht noch einigermaßen realistischen)
Annahme basiert, dass wer nicht arbeitet, auch nicht essen kann (oder
jedenfalls kein gutes Leben führen kann). Der Kapitalismus hat selbst dazu
führt, dass diese Annahme heute obsolet ist, kann sich dieser Entwicklung
aber nicht anpassen (da sie ein Abkoppeln der Möglichkeit des guten Lebens
von der Notwendigkeit der Erwerbsarbeit impliziert, während das
Gezwungensein der meisten Menschen zur Erwerbsarbeit einer seiner
Grundpfeiler des Kapitalismus ist).

Insofern ist die Frage nach der "Freien Gesellschaft" (oder wie immer man
das Kind nennt) durchaus keine "Träumerei und Phantasterei", sondern
entspringt der ganz pragmatischen Notwendigkeit, die (wie üblich
hinterherhinkenden) gesellschaftlichen Strukturen mit den neu entstanden
Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Dass das früher oder später passieren
wird, ist denke ich auch keine große Frage -- bislang war kein
gesellschaftliches System von ewiger Dauer, und es gibt wenig Gründe,
anzunehmen, dass das beim Kapitalismus anders sein sollte.

Trotzdem sind gesellschaftliche Veränderungen, auch wenn sie sich auf Dauer
nicht verhindern lassen, natürlich kein Selbstläufer -- ein Nachdenken über
die Gesellschaft, in der man leben möchte, ist schon dafür wichtig, dass man
nicht eines Tages in einer Gesellschaft aufwacht, in der man _nicht_ (oder
noch weniger gern) leben würde.

Ciao
	Christian

-- 
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--
Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klassen.
        -- Oscar Wilde

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