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Re: [ox-de] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo HGG, hallo alle,

Zitat von Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>:
(Christian 10.7.)
Ah, der wiederholte positive Bezug auf "zwingen" ist schon mal
interessant. Zwang ist also deiner Ansicht nach die Grundlage der
Freiheit? Komisch, dass ich dabei an Orwell denken muss...

Zwang nicht als strukturelle Gewalt wie bei Orwell, sondern "Zwang der
Verhältnisse".

Klar, der "Zwang der Verhältnisse" ist innerhalb des Kapitalismus in vielen
Fällen sehr real vorhanden, weswegen die beliebte verkürzte
Kapitalismuskritik, die "bösen" oder "unfähigen" Investoren/ Manager/
Unternehmer etc. zu beschuldigen, ins Leere geht. Aber wieso sollte ein
solcher "Zwang der Verhältnisse" besser sein als direkte Gewalt? Wäre es
nicht besser, eine Gesellschaft zu haben, in der die Menschen selbst
entscheiden können, was sie tun und was sie lassen?

Wobei ich da wohl ein deutlich anderes Verständnis habe
als du. Dass nämlich gesellschaftliche Verhältnisse nur in sehr
bescheidenem Umfang "konstruiert" sind und sich (normalerweise) als
Attraktor eines dynamischen Prozesses "von selbst" einstellen. Insofern

Damit übersiehst oder leugnest du, dass gesellschaftliche Veränderungen ja
nicht vom Himmel fallen, sondern immer von Menschen gestaltet werden, die
sich argumentativen oder ideologischen Einflüssen nie ganz entziehen können
(oder wollen). Dabei sind aber z.B. bei den neueren Entwicklungen wie dem
Übergang vom Fordismus zum Postfordismus bzw. Neoliberalismus solche
Einflüsse unübersehbar (etwa in Form der "Chicago Boys" oder in Deutschland
z.B. der Bertelsmann Stiftung). Das heißt selbstverständlich nicht, dass es
für gesellschaftliche Veränderungen nicht _auch_ "objektive" Gründe gibt
(z.B. den technischen Fortschritt, der die fordistische Fließbandarbeit
obsolet machte) -- aber eben nicht _nur_ ...

Hier also die (u.a. an Marx anknüpfende) Aussage, dass mit *Beginn* des
Kapitalismus autonom agierende Produzenten (eben Unternehmer, weitgehend
zunächst im Handelsbereich) als Markteinheiten erstmals in *umfassender*
Weise gesellschaftlich in Erscheinung treten und "die gesellschaftlichen
Verhältnisse" Druck aufbauen, genau so zu agieren. Dies ist eine
ANALYTISCHE Aussage, mit der ich mich - im Rahmen des mir (zeitlich und
intellektuell) möglichen Dilettantentums - der empirischen Grundlage
meiner weiteren Aussagen versichern möchte. Dass solcher Druck tief in
die Privatsphäre eingreift und den Entzug der Existenzgrundlagen androht
oder exekutiert - also "barbarisch" ist - ist m.E. kein Charakteristikum
des aufstebenden Kapitalismus, sondern zu der Zeit eher allgegenwärtig
(Belege: Umgang mit Sklaven, etwa im Film "Roots" dargestellt, Recht der
"ersten Nacht" usw.)

Mag sein -- aber dann wäre der Kapitalismus eben ein Relikt aus einer
barbarischen Zeit, die wir ansonsten glücklicherweise bereits überwunden
haben.

Und dann ignoriert deine Argumentation vollkommen den Unterschied
zwischen Mittel und Zweck -- die Bedürfnisbefriedigung der anderen
ist im Kapitalismus ja immer nur Mittel für den Zweck der
Wertverwertung, für die möglichst effiziente Verwertung von Kapital
und anderen Ressourcen. Das ist ja unter anderem gerade, was wir
kritisieren ...

Ist es nicht auch umgekehrt, dass sich die Bedürfnisbefriedigung im
Kapitalismus durch die Wertverwertung prozessiert? Dass auf "wundersame

Nein. Die Bedürfnisbefriedigung ist Mittel, die Wertverwertung Zweck. Das
sieht man sehr deutlich immer dann, wenn Bedürfnisbefriedigung und
Wertverwertung divergieren -- dann ist es nämlich fast (und alle Ausnahmen
müssen mühsam erkämpft und noch mühsamer verteidigt werden) immer
Wertverwertung, die gewinnt.

Weise" Dinge auf dem Markt zusammenfinden, die zusammengehören (und
*dingliche* Bedürfnisse so eine Befriedigung erfahren), obwohl *nur* das
abstrakte Wertmaß regiert? Wolfs "Tasse Kaffee" ist da ein sehr gutes
Beispiel. Und dass alle Versuche, hinter diese zivilisatorische
Errungenschaft zurückzufallen (etwa im Realsozialismus) kläglich
gescheitert sind?

Welche Versuche gab's denn außer dem Realsozialismus noch, die an sich
selbst gescheitert sind und nicht (wie z.B. Räterepublik in Spanien 1936)
von außen zerschlagen wurden? Und der Realsozialismus ist ein ganz
schlechtes Beispiel. Denn er hat ja an den Prinzipien der Warenproduktion
und des Warenaustausches (Primat des Tauschwerts über den Gebrauchswert)
weiter festgehalten und war eher der Versuch, die Wirtschaft eines Landes
wie einen kapitalistischen Großbetrieb zu organisieren als der Versuch
einer nicht-kapitalistischen und nicht-Tauschwert-basieren Wirtschaft
(siehe auch  http://de.wikipedia.org/wiki/Zentralverwaltungswirtschaft und
http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Sozialistische_Warenproduktion_ist_auch_keine_Alternative
).

Dass dies heute immer schlechter geschieht, bestreite ich auf keine
Weise, aber bei der Suche nach Antworten versuche ich, dieses
zivilisatorische Potenzial zunächst zu verstehen und es in (m)einer
Vision einer "Freien Gesellschaft" zu berücksichtigen.

Klar, dass z.B. Subsistenz keine überzeugende Alternative wäre und es keinen
guten Grund gibt, auf das heute erreichte technische Niveau und die (damit
einhergehende) hochgradige Arbeitsteilung zu verzichten, sehe ich auch so
(und ich denke die meisten bei Oekonux sehen dass so, in erfreulicher
Abgrenzung zu vielen früheren Kapitalismuskritikern). Zu sagen, "es ist
alles schlecht", wäre genauso naiv und irreführend wie dein "es entwickelt
sich schon alles (im Wesentlichen) ok, wir müssen nur zusehen und
analysieren".

... weswegen im Kapitalismus Millionen von Kindern verhungern müssen,
obwohl genug Essen für alle produziert wird.

Wenn also das die pubertäre Form deiner "Freien Gesellschaft" ist,
dann möchte ich lieber nicht wissen, wie sie im erwachsenen Stadium
aussehen wird!

Wenn jemand in der Pubertät pfenniggroße Eiter-Pusteln hat, dann heißt
das noch nicht, dass sie nach der Pubertät Eurogröße haben werden.

Sorry, ist kein wirkliches Argument gegen deinen Einwand, aber du
verstehst vielleicht selbst, dass du hier ein Totschlag-Argument gegen
JEDEN Gedanken in meiner Richtung bringst. Weil du damit jedes Argument
meinerseits abschneiden kannst.

Eigentlich zeigt es nur, wie schief bzw. nichtssagend dein Bild ist. Wenn du
"pubertäre Form" auf diese Weise verwendest, kannst du also nach Belieben
immer sagen: "tja das ist ein Übergangsphänomen was später verschwinden
wird" oder aber "das wird sich später ganz prächtig weiterentwickeln", und
was nun was ist, entscheidest du nach Belieben. Solche inhaltsleeren
Vergleiche kann man sich auch sparen.

... dass, was den Kapitalismus (heute noch) von der "Freien
Gesellschaft" trennt, die Tatsache ist, dass heute noch nicht _alle_
gezwungen sind, die Bedürfnisbefriedigung der anderen zum Mittel für
den Zweck der eigenen Existenzerhaltung zu machen...

*Bedürfnisbefriedigung*, davon habe ich an keiner Stelle geschrieben,
sondern nur "für die Bedürfnisse anderer interessieren".

Damit unterstellst du allerdings, dass dafür erst der Kapitalismus notwendig
war und sich in früheren Zeiten jede/r nur für sich selbst interessiert
hätte. Hast du irgendwelche Belege für diese kühne These?

Jedenfalls verstehe ich jetzt auch, warum dir jede Erwähnung der
Tatsache, dass man sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht
blindlings unterwerfen muss, sondern sie auch gezielt in eine andere
Richtung steuern könnte (wie sie etwa dem Freie-Gesellschaft-Wiki
zugrunde liegt), ein Graus ist, da sie dein Ideal einer
spätkapitalistischen "Freien Gesellschaft" als "bester aller Welten"
in Frage stellt...

Von der Idee einer auch nur in weiteren Grenzen möglichen
"Steuerbarkeit" gesellschaftlicher Prozesse in dem hier von dir
gebrauchten Sinn habe ich mich in der Tat verabschiedet. Der letzte Teil
des Satzes ist eine Unterstellung.

Das bezweifle ich, denn meine entsprechende Argumentation hast du ja
weitgehend kommentarlos gelöscht statt ihr zu widersprechen. Aber werd doch
mal konkreter: worin und auf welche Weise unterscheidet sich denn deine
Vision einer Gesellschaft, in der "auch der 'dressierte Gorilla am
Fließband' zu der Reflexionsleistung gezwungen wird, zu der heute nur die
Unternehmer gezwungen werden", von Postfordismus?

Ciao
Christian

-- 
Freie Gesellschaft: http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Hauptseite
--
Für besonders fragwürdig halte ich die Ansicht, dass man selbst dann noch
kapitalistisch wirtschaften sollte, wenn die Voraussetzung
(Ressourcenknappheit) nicht mehr gegeben ist. Das stellt die Grundlage des
Kapitalismus auf den Kopf und macht aus ihm nicht mehr als eine weitere
Wirtschaftsform, die aus lediglich ideologischen Gründen aufrechterhalten
wird.
        -- Thorsten Haude

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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