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"Kapitalismus als pubertäre Form" (war Re: [ox] Re: Viele auf der Liste...)



Hallo HGG,

Zitat von Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>:
Christian wrote:
Z.B. hatte ich ja seinerzeit versucht, die Fragen zur Freien
Gesellschaft hier zu diskutieren (parallel zur Dokumentation im Wiki)
und das dann aufgegeben, weil es fast keine Resonanz gab, v.a. keine von
Listen"älteren" (mit der erfreulichen Ausnahme von Karl), was mit das
Gefühl vermittelte, hier fehl am Platz zu sein.

Zählst du da die Masse der mails in loc? Gerade zum Thema "Freie
Gesellschaft" habe auch ich (und ich zähle mich zu den Listen"älteren")
einiges geschrieben. Allerdings nicht mit dem Fokus, über eine Utopie
oder Vision zu "spinnen", sondern über real ablaufende Prozesse an Hand
realer Fakten zu reflektieren.

OK, vielleicht hatte ich ja auch zu früh aufgegeben, weil ich die in ox
gelegentlich vorkommende "Zeitverzögerung" nicht einkalkuliert hatte.
Tatsächlich erinnere ich mich an einen teilweise durchaus spannenden Thread
(hauptsächlich zwischen dir und El Casi) unter dem Titel "Noch mal zur
Freien Gesellschaft", der allerdings IMHO erst etwa sechs Wochen nach
meinen ursprünglichen Mails zum Thema begann. Und auch dann ging es
keineswegs über die von mir angesprochenen Fragen (und du deutest oben ja
selbst an, dass sie dich nicht interessieren), deshalb brachte er mich auch
nicht dazu, Oekonux dann doch noch für das richtige Forum für gerade diese
Fragen zu halten.

Über meine Lieblingsgrundthese - eben
weil sie so schön provokant ist - "Kapitalismus als pubertäre Form der
Freien Gesellschaft" habe ich auch in Hütten einen (sehr mäßig
besuchten) Arbeitskreis gemacht. Meine Argumente sind lange publiziert,
etwa im mawi-Paper, auf das ich ja auch gebetsmühlenartig immer wieder
hingewiesen habe. Auch die Tatsache, dass DIESE Argumente bei eurer
www.freie-gesellschaft.de - wie im Übrigen auch hier - absolut ignoriert
werden, hatte mich seinerzeit den ja nun wenigstens gut aufgegriffenen
Begriff "Phaenomen C." in leicht anderer Konnotation prägen lassen als
ihr ihn gerade gebraucht. Nämlich immer berücksichtigend, dass du, wenn
du mit dem einen Finger auf andere zeigst, zugleich mit vier Fingern auf
dich selbst verweist (*).

Wir ignorieren ja auch Christophs P/P-These (obwohl er sie ebenfalls
gebetsmühlenartig wiederholt), und die Gesell'sche Freiwirtschaftslehre,
und die Theorie dass die Sonne sich um die Erde dreht, und die These dass
"Sklaverei eine pubertäre Form der Freiheit" ist (die vermutlich auch mal
irgendjemand irgendwo geäußert hat). Spricht das nun gegen uns? Vermutlich
schon, aber andererseits, wenn man jeden Unsinn immerfort auseinandernehmen
müsste, käme man zu überhaupt nix Konstruktivem mehr...

Aber ok, wie wird denn die "provokante These" begründet?

'Und ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit sich:
Er *zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten, sich - unter
Androhung des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage - für die Bedürfnisse
anderer Produzenten zu interessieren, und legt so den Keim für ein neues
WIR, das erst in einer wirklich Freien Gesellschaft zur vollen Entfaltung
kommen wird. Er zwängt damit in einer jahrtausendelangen Entwicklung auch
psychologisch ganz anders konstituierte, obrigkeits- und kommandogewohnte
Individuen auf den Weg der Selbstfindung, der später - reflektiert - in die
bewusste politische Gestaltung von Gesellschaft münden kann, in die
"Produktion der Verkehrsformen selbst", die "alle naturwüchsigen
Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen
Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der
vereinigten Individuen unterwirft" - mit einem Wort: zu Kommunismus im
Verständnis des jungen Marx (MEW 3, S. 70).

Kapitalismus ist in diesem Sinne das pubertäre Stadium einer solchen
Freien Gesellschaft, denn er zwingt, wenigstens bis zum Fordismus, nur
die Unternehmer zu dieser Reflexionsleistung. Vom "dressierten Gorilla
am Fließband" wird sie (noch) nicht abgefordert.'
[http://www.opentheory.org/mtb-mawi/v0002.phtml]

Ah, der wiederholte positive Bezug auf "zwingen" ist schon mal interessant.
Zwang ist also deiner Ansicht nach die Grundlage der Freiheit? Komisch,
dass ich dabei an Orwell denken muss...

Und dann ignoriert deine Argumentation vollkommen den Unterschied zwischen
Mittel und Zweck -- die Bedürfnisbefriedigung der anderen ist im
Kapitalismus ja immer nur Mittel für den Zweck der Wertverwertung, für die
möglichst effiziente Verwertung von Kapital und anderen Ressourcen . Das ist
ja unter anderem gerade, was wir kritisieren, siehe
http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Bed%C3%BCrfnis .

Was allerdings nicht so schlimm wäre, wenn die Bedürfnisbefriedigung der
einen mit der Wertverwertung der anderen optimal zusammenfallen würde - aber
da hakt es eben schon ganz gewaltig. Das mag vielleicht noch halbwegs (aber
keinesfalls optimal) hinkommen, wenn die anderen über die für ihre
Bedürfnisbefriedigung nötige Kaufkraft verfügen. Alle anderen bleiben aber
grundsätzlich außen vor, weswegen im Kapitalismus Millionen von Kindern
verhungern müssen, obwohl genug Essen für alle produziert wird.

Wenn also das die pubertäre Form deiner "Freien Gesellschaft" ist, dann
möchte ich lieber nicht wissen, wie sie im erwachsenen Stadium aussehen
wird!

Wobei man ja allerdings vermutlich gar nicht lange warten muss, um sie zu
erleben, denn der zweite Teil des Zitats sagt ja aus, dass, was den
Kapitalismus (heute noch) von der "Freien Gesellschaft" trennt, die
Tatsache ist, dass heute noch nicht _alle_ gezwungen sind, die
Bedürfnisbefriedigung der anderen zum Mittel für den Zweck der eigenen
Existenzerhaltung zu machen: 'Kapitalismus ist in diesem Sinne das pubertäre
Stadium einer solchen Freien Gesellschaft, denn er zwingt, wenigstens bis
zum Fordismus, nur die Unternehmer zu dieser Reflexionsleistung. Vom
"dressierten Gorilla am Fließband" wird sie (noch) nicht abgefordert.'

Das heißt, deine "Freie Gesellschaft" ist dann anscheinend eine, wo _alle_
"unter Androhung des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage" dazu gezwungen
sind, die eigene Verwertung zu optimieren -- und jeder/jedem, die das nicht
kann oder gar nicht will, der Verlust der eigenen (zumindest
menschenwürdigen) Existenz droht!

Aber das ist nunmal genau die Richtung, wohin sich der "postfordistische"
Kapitalismus sowieso entwickelt. "Freie Gesellschaft" als Euphemismus für
die moderne Entwicklung des Kapitalismus... Toll!

Und was die "Reflexionsleistung" begrifft, beklagt ja (nicht nur) der junge
Marx, dass der Kapitalismus die reflektierte, "bewusste politische
Gestaltung von Gesellschaft" gerade unmöglich macht, und insofern das
Gegenteil einer Freien Gesellschaft (die den Namen verdient) ist. Die
Unternehmer/in _muss_ sich so verhalten, wie es nötig ist, um die beste
Rendite zu erzielen, selbst wenn sie weiß, dass sie dadurch der Umwelt oder
anderen massiven Schaden zufügt, da eben andersfalls der Verlust der
Konkurrenzfähigkeit und dadurch der "Entzug der eigenen Existenzgrundlage" 
droht. Und was für Unternehmen gilt, gilt sie globalisierten "Postfordismus"
eben auch für jede/n einzelne/n "Arbeitskraftunternehmer/in" und sogar für
Staaten -- ihnen allen droht der Verlust der kapitalistischen
Konkurrenzfähigkeit mit potenziell fatalen Folgen, sollten sie tatsächlich
auf die Idee kommen, es mit "bewusster politischer Gestaltung" zu tun statt
zu tun, was der Markt verlangt.

Jedenfalls verstehe ich jetzt auch, warum dir jede Erwähnung der Tatsache,
dass man sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht blindlings unterwerfen
muss, sondern sie auch gezielt in eine andere Richtung steuern könnte (wie
sie etwa dem Freie-Gesellschaft-Wiki zugrunde liegt), ein Graus ist, da sie
dein Ideal einer spätkapitalistischen "Freien Gesellschaft" als "bester
aller Welten" in Frage stellt...

Ciao
Christian

-- 
Freie Gesellschaft: http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Hauptseite
--
Whenever philosophy has been taken seriously, it has always been assumed
that it signified achieving a wisdom which would influence the conduct of
life.
        -- John Dewey, Democracy and Education

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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