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[ox-de] Re: [ox]: "Kapitalismus als pubertäre Form"



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Am Samstag, 15. Juli 2006 14:00 schrieb Christian:

Hallo Jobst, hallo alle,

Zitat von Jobst Quis <wuwei nadir.org>:
Als Unsinn  erscheint dir die These, dass "Sklaverei eine pubert=C3=83=
=C2=A4re Form
der
Freiheit" ist, nur deshalb, weil du dabei an Freiheit f=C3=83=C2=BCr di=
e Sklaven
denkst.

Meta-Beobachtung: ganz egal, wie absurd eine These, auf [ox] wird sich
immer jemand finden, der sie verteidigt :-)

Die These ist nicht absurder als die Gesellschaft, in der wir leben. Und um
die Absurdit=C3=83=C2=A4t leichter zu verstehen ist ein Perspektivenwechsel=
 ganz
hilfreich. Wobei Verstehen keineswegs Einverstandensein bedeutet.


Denk doch mal an die Freiheit der Sklavenhalter, und die These  wird in
sich
konsequent und stimmig. Die heutigen Sklavenhalter haben mindestens
denselben
Nutzen durch die Sklaven wie fr=C3=83=C2=BCher, dabei aber viel mehr Fr=
eiheit. Sie
sind
frei von diesen schrecklichen Begriffen, keiner nennt sie mehr
Sklavenhalter
und die wenigsten Sklaven erkennen sich als solche. Sie sind frei vom
schlechten Gewissen, sie m=C3=83=C2=BCssen nicht mehr den Umgang mit de=
r Peitsche
und
andere direkte Herrschaftstechniken lernen, sie m=C3=83=C2=BCssen ihre =
Sklaven nicht
mehr sehen, sie brauchen sie nicht einmal zu kennen.

Die Sklaverei hat sich beim Erwachsenwerden entpers=C3=83=C2=B6nlicht, =
ist zum
allgegenw=C3=83=C2=A4rtigen, aber undurchschaubaren System geworden und=
 nennt sich
jetzt
Wirtschaft. Die Sklaven haben gelernt, sich selbst zu beherrschen
(gegenseitig und jeder f=C3=83=C2=BCr sich) und entlasten dadurch die N=
utznie=C3=83=C2=9Fer der
Herrschaft von der undankbaren Aufgabe des Herrschens. Diese
Selbstbeherrschung  (das zivilisatorische Moment) ist genau der
Unterschied
zwischen Pubertierenden und Erwachsenen, deshalb find ich die These
garnicht
so unsinnig.

Mir scheint, du vertritts die These, dass offene Sklaverei eine pubert=C3=
=83=C2=A4re
Form der sehr viel subtileren Ausbeutung ist, die heute praktiziert wird
(und die ihrerseits m=C3=83=C2=B6glicherweise einen Freiheitszuwachs f=C3=
=83=C2=BCr die
Ausbeutenden bedeutet). Kapitalismus nur als Ausbeutungssystem zu
begreifen, greift aber viel zu kurz, zumal diejenigen, die heute am meist=
en
unter dem Kapitalismus leiden, ja nicht die Ausgebeuteten, sondern vielme=
hr
die Nicht-(mehr-)Ausgebeutenden sind, die nicht "gebraucht" werden und
keine Erwerbsarbeit mehr finden k=C3=83=C2=B6nnen. Innerhalb des Kapitali=
smus ist es
normalerweise (von besonders schlimmen Arbeitsverh=C3=83=C2=A4ltnissen ab=
gesehen)
tats=C3=83=C2=A4chlich angenehmer, als Erwerbsarbeiter/in "ausgebeutet" z=
u werden
(d.h. f=C3=83=C2=BCr andere Mehrwert zu generieren) als nicht "gebraucht"=
 zu werden
und deshalb (mangels Kaufkraft) auf die Befriedigung vieler materieller
Bed=C3=83=C2=BCrfnisse verzichten zu m=C3=83=C2=BCssen.

Die Verk=C3=83=C2=BCrzung des Kapitalismus auf Ausbeutungssystem ist deine =
Interpretation. Abgesehen davon, da=C3=83=C2=9F es unm=C3=83=C2=B6glich ist=
, den Kapitalismus in wenigen S=C3=83=C2=A4tzen unverk=C3=83=C2=BCrzt darzu=
stellen, halte ich nicht die Ausbeutung f=C3=83=C2=BCr das wesentliche an d=
er Sklaverei, sondern den Verlust der Selbstbestimmung. Oder ihre Pervertie=
rung in Selbstbeherrschung am Kapitalismus, der durch Geld und Markt vermit=
telten erwachsenen Sklaverei.

Das Betteln nach Ausbeutung und Fremdbestimmung widerlegt doch nicht die Sk=
laverei, es zeigt wie tiefgreifend diese Zurichtung ist. Die Selbstverst=C3=
=83=C2=A4ndlichkeit, mit der auf Selbstbestimmung und Eigensinn verzichtet =
wird, aber geglaubt wird, auf  materielle Bed=C3=83=C2=BCrfnisse nicht verz=
ichten zu k=C3=83=C2=B6nnen, ist Ausdruck dieser Versklavung.


Die These, dass der Kapitalismus tats=C3=83=C2=A4chlich zu einem Freiheit=
szuwachs f=C3=83=C2=BCr
die "ausbeutenden" Kapitalist/innen f=C3=83=C2=BChrt, ist im =C3=83=C2=9C=
brigen auch
fragw=C3=83=C2=BCrdig, weil ja ironischerweise die kapitalistische Arbeit=
sideologie
mittlerweile die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Die fr=C3=83=C2=BChere=
 "leisure
class", die sich auf Kosten der f=C3=83=C2=BCr sie schaffenden Lohnarbeit=
er/innen ein
sch=C3=83=C2=B6nes Leben frei von Arbeit und M=C3=83=C2=BChsal macht, gib=
t es heute ja praktisch
nicht mehr, da der Arbeitswahn auch die Kapitalist/innen selbst in Atem
h=C3=83=C2=A4lt.

Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die von ihrem Verm=C3=83=C2=B6gen l=
eben k=C3=83=C2=B6nnen oder k=C3=83=C2=B6nnten, ohne da=C3=83=C2=9F es weni=
ger wird. Doch auch wenn sie mehr ver-dienen  wollen und deshalb auch ein b=
i=C3=83=C2=9Fchen Sklaven sind, =C3=83=C2=A4ndert das nichts daran, da=C3=
=83=C2=9F sie Sklavenhalter sind und von der Sklaverei profitieren. Nahezu =
jedeR, der/die sich am Wirtschaftssystem beteiligt, ist zugleich Sklave und=
 SklavenhalterIn, jedoch in unterschiedlichem Ma=C3=83=C2=9Fe. Als Produzen=
tIn oder AnbieterIn  ist er/sie Sklave, als KonsumentIn oder AuftraggeberIn=
 ist er/sie SklavenhalterIn. Doch durch die extrem ungleiche Verf=C3=83=C2=
=BCgung =C3=83=C2=BCber Geld sind da viele, die faktisch nur Sklave sind un=
d einige, die in erster Linie Sklavenhalter sind. Wenn jemand ein hundertfa=
ch h=C3=83=C2=B6heres Einkommen hat als andere, kommt das auf dasselbe hina=
us, als ob er =C3=83=C2=BCber 100 Sklaven zu bestimmen hat, was sie tun sol=
len.

Sehen wir daraufhin nochmal den von dir zitierten Text von HGG  an:
"Und ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit sich: Er =
*zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten, sich - unter Androhu=
ng des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage - f=C3=83=C2=BCr die Bed=C3=83=
=C2=BCrfnisse anderer Produzenten zu interessieren, und legt so den Keim f=
=C3=83=C2=BCr ein neues WIR, das erst in einer wirklich Freien Gesellschaft=
 zur vollen Entfaltung kommen wird."  Niemand interessiert sich f=C3=83=C2=
=BCr die Bed=C3=83=C2=BCrfnisse der Arbeiterinnen in den Billiglohnl=C3=83=
=C2=A4ndern. Der Markt zwingt keineswegs, sich f=C3=83=C2=BCr ihre Bed=C3=
=83=C2=BCrfnisse zu interessieren. Im Gegenteil  zwingt er geradewegs dazu,=
 ihre Bed=C3=83=C2=BCrfnisse zu ignorieren, weil sie wegen der schlechten B=
ezahlung nicht kaufkr=C3=83=C2=A4ftig sind.

Der Markt zwingt dazu, sich f=C3=83=C2=BCr die Bed=C3=83=C2=BCrfnisse der K=
onsumenten bzw Geldbesitzer  zu interessieren. Er zwingt die Sklaven dazu, =
sich nach den Bed=C3=83=C2=BCrfnissen der Sklavenhalter zu richten, auch oh=
ne sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Einem "neuen WIR", das aus solchem Zw=
ang keimt, kann ich nur mit =C3=83=C2=A4u=C3=83=C2=9Ferster Skepsis begegne=
n.
....

IMHO bringt es aber nichts, umk=C3=83=C2=A4mpfte Begriffe wie "Freiheit" =
und "Rechte"
aufzugeben, nur weil sie oft auf fragw=C3=83=C2=BCrdige oder irref=C3=83=
=C2=BChrende Weise
gebraucht werden. Langfristig riskierst du damit, alle positiv besetzten
Begriffe aus der Hand zu geben, und deine Ersatzbegriffe sind ja keineswe=
gs
davor gefeit, auf =C3=83=C2=A4hnliche Weise instrumentalisiert zu werden.

Ich hab ja garnichts dagegen Begriffe wie "Freiheit" zu gebrauchen, nur hab=
en sie gerade wegen der allgemein positiven Besetzung keine Pr=C3=83=C2=A4z=
ision. Alle wollen Freiheit, alle wollen Gerechtigkeit, aber jeder versteht=
 etwas anderes darunter, weil jeder die positive Besetzung f=C3=83=C2=BCr s=
eine Ziele nutzen will.
Deshalb werden solche Begriffe gern f=C3=83=C2=BCr Wahlparolen oder Verfass=
ungen benutzt, aber f=C3=83=C2=BCr geistige Auseinandersetzung mit den Ziel=
en Erkenntnisgewinn und Bewu=C3=83=C2=9Ftmachung sind sie erst geeignet, we=
nn noch Parameter zur Pr=C3=83=C2=A4zisierung mitgeliefert werden. Im Falle=
 von "Freiheit" sind das Antworten auf die Fragen "f=C3=83=C2=BCr wen?" und=
 "wovon?".

Ein Grund f=C3=83=C2=BCr mich, die "Freiheit von der Gesellschaft" gege=
n=C3=83=C2=BCber der
"Freien Gesellschaft" zu bevorzugen.

Ohne die Gesellschaft anderer Menschen zu leben, ist aber nicht m=C3=83=
=C2=B6glich
oder macht zumindest keinen Spa=C3=83=C2=9F. Da es ohne Gesellschaft nich=
t geht,
sollte sie auch frei sein.

Um nicht allein zu sein und Spass zu haben, brauch ich Freundschaft(en), ab=
er keine Gesellschaft. Nat=C3=83=C2=BCrlich ist sie um mich herum und ich k=
ann sie nicht v=C3=83=C2=B6llig ignorieren.  Ich mu=C3=83=C2=9F mich auf si=
e einstellen, so wie ich mich auch auf einen M=C3=83=C2=BCckenschwarm einst=
ellen mu=C3=83=C2=9F, wenn er um mich rumschwirrt.

Eine absolute "Freiheit von der Gesellschaft" ist genauso utopisch wie eine=
 absolut "freie Gesellschaft".  Doch wie Sterne k=C3=83=C2=B6nnen gerade un=
erreichbare Ziele gut als Richtungsweiser und Orientierungspunkte sein.

"Freiheit von der Gesellschaft" als Richtung, in die ich gehen will, hei=C3=
=83=C2=9Ft unabh=C3=83=C2=A4ngiger zu werden, und zwar geistig, emotional u=
nd materiell. Von dem, was die Leute sagen, vom "man", von der Normalit=C3=
=83=C2=A4t usw. Es hei=C3=83=C2=9Ft, mit Freunden und Freundinnen schon mal=
 losgehen zu k=C3=83=C2=B6nnen, wo wir hinwollen, und nicht zu warten bis a=
lle dorthin wollen.

Gru=C3=83=C2=9F, Jobst



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
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