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Entfaltung von Kooperationen und individuell (was: Re: [ox-de] Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!)



Hallo Hans- Gert,

zum zweiten Teil deiner inhaltsreichen Mail. Ich bin mir bewusst, dass 
ich hier eher eine Minderheitsmeinung vertrete, wenn ich in der 
theoretische Debatte nicht das Konsensmodell als glücklich-machende 
Form unterstütze. Ich bitte trotzdem, das zu akzeptieren (hoffentlich 
habe ich irgendwann nicht mehr das Gefühl, so was vorweg schreiben zu 
müssen).

Am Wednesday 26 July 2006 11:30 schrieb Hans-Gert Gräbe:
s.mz: Was ich damit betone, ist die individuelle Verantwortung,
was ich tendenziell obsolet machen möchte, sind dir von dir
vorgeschlagenen "gemeinsamen Entscheidungen egalitärer Natur".

Warum beziehst Du andere Vorschläge ein, warum diskutierst Du
Deinen Vorschlag mit anderen?

Indem Du andere Vorschläge einbeziehst und Deinen Vorschlag anderen
zur Beurteilung und zur Diskussion mitteilst, handelst Du schon im
Sinne gemeinsamer Entscheidungen egalitärer Natur. Denn dies läßt
vermuten, daß Dir die Meinung anderer wichtig ist, daß Du auf ihr
Einverständnis mit Deinem Vorschlag hoffst und bereit bist,
Änderungen Deines Vorschlages zuzulassen oder ihn durch einen
anderen Vorschlag eines anderen Menschen zu ersetzen, damit auch
andere einverstanden sein können. Ist dies der Fall, so wird durch
die Entscheidung für diesen modifizierten Vorschlag eine ihrer
Tendenz nach egalitäre Entscheidung getroffen, die auf einem
consensualem Diskussionsergebnis beruht.

Ich möchte Jac hier - auch auf dem Hintergrund meiner eigenen
Oekonux-Erfahrungen - unbedingt zustimmen. Der Versuch, "tausend
Primadonnen" zu gemeinsamem Handeln über "gemeinsame Entscheidungen"
zu bringen, birgt die Gefahr in sich, beide Modi des Gebrauchs der
Vernunft miteinander zu verquicken. Der Grat ist extrem schmal und
birgt die Gefahr in sich, entweder entscheidungsunfähig zu sein, weil
das Raisonnieren nicht bis zu einer Entscheidung verdichtet werden
konnte, oder aber "einsame Entscheidungen" wie meine im Vorfeld von
Chemnitz oder Hütten zu "brandmarken", weil sie den egalitären
Spielregeln widersprechen.  In den beiden genannten konkreten Fällen
haben sich nach meinem Verständnis zudem beide "Abweichungen"
aufgeschaukelt. Ist für mich ein zentrales Thema, wenn wir über "New
Culture" nachdenken (also raisonnieren).

Das sehe ich genauso. Lass uns also von den Aufschaukelungen weg gehen 
und allgemeiner die Struktur von sozialen Prozessen diskutieren.

s.mz: Ok, es handelt sich trotzdem nicht um eine gemeinsame
Entscheidung, sondern um meine Entscheidung. Ich stelle meine
Vorschläge zur Diskussion, lasse sie kritisieren, erwäge andere
Vorschläge etc., weil ich mich entfalten will - und dazu brauche
ich die Anderen. Sie sind meine Entfaltungsvoraussetzung, wie ich
ihre bin. Konsens hilft mir da nicht viel weiter, eher, wenn
andere meine Gründe verstehen und meine Entscheidung auf dieser
Grundlage als meine Entscheidung akzeptieren können. Ich bin mehr
an einer Dynamik der Unterschiedlichkeit als an einem
kompromissigen statischen Konsens interessiert. Wie du merkst und
im Archiv nachlesen kannst, bin ich kein Verfechter des
Konsensprinzips (Debatte mit StefanMn).

Und die Anderen?

Andere verstehen Deine Gründe und Du willst die Gründe anderer
verstehen. Dadurch, daß andere Deine Entscheidung akzeptieren
sollen, Du jedoch nichts verlauten läßt, ihre Entscheidung als ihre
zu akzeptieren, etablierst Du einen versteckten absolut
diktatorischen Anspruch und führst durch die Hintertür eine
Hierarchie anhand der Akzeptanz Deiner Entscheidung als
ausschließlich Deiner ein. Andere dürfen Dich kritisieren und Dich
durch ihre Kritik bereichern, aber sie sollen allein Dir die
Entscheidung überlassen und diese Entscheidung als Deine
akzeptieren.

Ja, das ist eine wichtige Bemerkung. Ein solcher Zugang hat die
Beförderung der EIGENEN Entfaltung im Auge und geht davon aus, damit
auch die "je eigene Entfaltung" zu befördern. Es ist aber m.E. kein
"versteckter absolut diktatorischer Anspruch", sondern schlicht ein
ausbeuterischer dahinter, wenn es in einem solchen Diskurs primär um
die eigene Bereicherung ("weil ich mich entfalten will - und da
brauche ich die Anderen") geht. Ein m.E. SEHR subtiles Moment, das
tief im Grund meines Frusts über Hütten liegt.

Ich kann nur schwer nachvollziehen, wie Jac und auch du zu diesem 
Schluss kommen. Wie kann ich das Verhältnis so ausdrücken, dass es mir 
nicht als "instrumentell" ausgelegt wird? Grundsätzlich als Referenz 
zum Verhältnis von "intersubjektiv" und "instrumentell":
http://www.opentheory.org/proj/gegenbilder_2-3/text.phtml#c

Ich versuche es nochmal, schlage aber ein größeren Bogen. Das ist auch 
nichts Fixes, sondern lautes Denken.

Ausgangspunkt ist der bekannte Satz "Je meine Selbstentfaltung hat die 
Entfaltung der Anderen zur Voraussetzung und umgekehrt". Darin steckt 
eine grundsätzlich positive Rückkopplung, die ein instrumentelles 
Verhältnis ausschließt. Eine einseitige instrumentelle Ausbeutung - 
ganz recht, das wäre es - zerstörte die positive Rückkopplung. Und das 
geht unter dominant "ausbeuterischen Strukturen" (=sich auf Kosten 
Anderer durchzusetzen) ganz schnell. Nach meiner Wahrnehmung macht das 
einen Gutteil der Konflikte aus.

Ich bin dennoch überzeugt davon, dass diese positive Rückkopplung die zu 
etablierende neue gesellschaftliche Vermittlungslogik 
darstellt: "Selbstentfaltung" ist nicht eine bloße individuelle 
Handlungsvorschrift (als das lesen es die meisten), sondern ein 
gesellschaftlicher Kommunikations- und Kooperationsmodus. Sie 
beantwortet die Frage, wie ein lokale Logik etabliert werden kann, die 
gesellschaftliche Kohärenz erzeugt. Der Wert kann das, in dem er lokal 
ein quantifizierbares Maß bereitstellt, an dem ich meine Handlungen 
ausrichten kann. Er ist nur ignorant gegenüber menschlichen 
Bedürfnissen und gegenüber gesellschaftlichen ohnehin. Er stellt auch 
nur eine Art ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit her etc. - das 
ist jetzt nicht das Thema.

Stellen wir uns mal vor (wie das ein Workshop in Hütten getan hat), dass 
es die Freie Gesellschaft schon 20 Jahre gibt. Kein Wert nirgends. Wie 
stellt sich gesellschaftliche Kohärenz her? Wenn ich mal die stoffliche 
Seite ausblende (wozu es viel zu sagen gäbe), dann "im Prinzip" genauso 
wie bisher (mal nur auf die "produktive" Seite geguckt): In 
arbeitsteiliger Weise kommunizieren personale Kooperationen, also im 
allgemeinen Fall Gruppen (Teams, Betriebe, Projekte etc.). Das 
vermittelnde Medium ist nun jedoch nicht mehr der Wert, sind nun nicht 
mehr Tauschbeziehungen, und ist natürlich auch nicht ein Rückfall 
hinter den erreichten Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung 
(etwa: "alle machen alles selbst"). Ich kann mir meinen 
Kooperationspartner nun nicht mehr durch erfolgreiche (sich rechnende) 
ökonomische Beziehungen erhalten - das steht ja nicht mehr zur 
Verfügung -, sondern nurmehr dadurch, dass ich mich für die Bedingungen 
interessieren muss, die mein Partner braucht, um für mich weiterhin 
Kooperationspartner sein zu können. Ansätze solcher auch schon heute 
bestehender im Kern nicht-ökonomischer Beziehungen positiver 
Reflexivität fallen jedem vermutlich sofort ein (etwa innerhalb der 
Familie). In so einer Struktur kann Konsens eine Rolle spielen, das 
wäre der optimale Fall. Aber er muss es nicht. Es wird selbstredend 
weiterhin Konflikte geben, und es geht m.E. nicht darum, diese von 
vornherein zu vermeiden, sondern es geht darum, Austragungsformen zu 
finden, die die positive reflexive Struktur nicht zerstören. Auch hier 
kann Konsens helfen, aber ist kein Allheilmittel. Ein Element, was mir 
dabei einfällt, ist Redundanz und/oder Konkurrenz. Redundanz bedeutet, 
dass ich nicht auf einen speziellen Kooperationspartner angewiesen bin, 
sondern auch die Partnerschaft auflösen kann. Und Konkurrenz bedeutet 
umgekehrt, dass es einen Wettbewerb mehrerer Gruppen um einen 
Kooperationspartner gibt. Diese konkurrieren nun um die besten 
Entfaltungsbedingungen für den Partner. (wen der Begriff "Konkurrenz" 
an dieser Stelle stört, der möge dafür "Wettbewerb" einsetzen - klar 
ist, das es nicht um das Durchsetzen auf Kosten Anderer geht).

Ich meine nun, dass keimförmig eine solche positiv rückgekoppelte 
Struktur bei Freier Software existiert. Auch dort gibt es Formen der 
Redundanz und der Konkurrenz, Formen der Austragung von Konflikten (zum 
Beispiel den Fork). Ich habe hier diese Struktur, die wir bei FS auf 
individueller Ebene beobachten können und die Christoph Spehr ganz gut 
[mit Einschränkungen] in der Theorie der freien Kooperation beschrieben 
hat, auf die Ebene der personalen Kooperationen (der Gruppen) 
übertragen - das ist läuft dort nämlich IMHO ganz analog.

So. An dieser groben Vorstellung orientiere ich mich nun. Daran richte 
ich mein Handeln aus. Mir geht es also - um nun die Kritik von oben 
aufzugreifen - mitnichten um meine eigene Bereicherung auf Kosten 
Anderer - ganz einfach, weil ich weiss, dass das nicht funktioniert. 
Sondern es geht mir um meine Bereicherung, die die Bereicherung der 
Anderen zur Voraussetzung hat, weil es sonst mit meiner Bereicherung 
auch nichts wird. Das ist ganz einfach: Ich brauche die ox-de, weil mir 
sonst ein Reflexions- und Lernraum fehlt. Und ich bemühe mich seit 
meinem Wiedereinstieg (quasi als Neuling nach so langer Zeit), diesen 
wieder herzustellen. Deswegen schrieb ich, die Anderen "sind meine 
Entfaltungsvoraussetzung, wie ich ihre bin". Wäre es so, wie ihr beide 
das offensichtlich spontan gelesen hab, dass ihr bitte mit Kritik und 
anderen Nettigkeiten mir meine Entfaltung bereiten möget, scheissegal, 
was mit zum Beispiel euch ist, und ihr dann noch obendrein 
Entscheidungen von mir für euch hinzunehmen habt, dann würde es schnell 
knallen. Hat es verbal ja auch getan - m.E. beruhend auf einer 
misstrauensgegründeten Fehlinterpretation.

Uh, ich muss jetzt wohl deutlicher "je ich" und "ich" trennen.
Sorry, mein Fehler. Mit "ich" meine ich in der Regel das
verallgemeinerte "ich", das "jeweils ich" (aber nicht: "wir"). Es
geht also nicht ausschließlich um mich persönlich, sondern um den
allgemeinen Standpunkt erster Person.

Dies hilft hier nicht weiter, weil das "je ich" im privaten Gebrauch
der Vernunft dann doch das "ich" ist.

Mir geht es nicht um den privaten, sondern um den gesellschaftlichen 
Gebrauch.

(ebenda) Also: Jede/r entscheidet für sich selbst - das ist doch
elementar, oder?

Geht es es dir um die Mittel der Entscheidung, die Konsequenzen,
die Reichweite, die Betroffenheit? Darüber hab ich in der Tat noch
nichts gesagt.

In der Tat; und ich will auch gleich anfügen: "Wie sollen wir die(se)
Freiheit verstehen, wenn sie nicht die törichte Freiheit sein soll,
das Falsche zu tun?" Also - hier wäre ganz viel zu sagen. Das
bedeutete zugleich, die Inhalte von "New Culture" zu schärfen.

Ok. Was sind denn für dich Inhalte einer "New Culture"?

s.mz: ... wir sollten (sie) kritisch reflektieren und überlegen,
was wir tun können, um es jeder Person zu ermöglichen, sich in
Oekonux einzubringen, um etwa so etwas wie "bedeutend/weniger
bedeutend" nicht entstehen zu lassen, so dass manche meinen, sich
daran ausrichten zu müssen etc.

Genau dies war mein Anliegen. Gegenmaßnahmen sind nur durch
gemeinsame Organisation eines anderen Miteinanders möglich, d.h.,
durch Entstehen einer strukturierten Gruppe.

"Bedeutend/weniger bedeutend" hat m.E. (wenigstens in ihrer
psychologischen Wohlfeilheit) die eindimensionale Skala des
abstrakten Werts als Quelle.  Sie hat eine TRIVIALE Auflösung in einer
MEHRdimensionalen Welt, in der jede(r) IHRE/SEINE Bedeutsamkeit
entwickeln kann und diese Bedeutsamkeiten nicht in einer LINEAREN
Ordnung stehen.  Wir brauchen eine MEHRDIMENSIONAL strukturierte
Gruppe und sind diese, sobald jede(r) hier ihre/seine je eigenen
Qualitäten entfalten kann. Und zwar nicht irgendwelche, sondern
solche, die "Oekonux-relevant" sind.  Allerdings nicht im Sinne von
on-topic/off-topic, sondern als Entfaltung in einen und in einem
"Oekonux-Raum".  Was auch wieder nur die halbe Wahrheit ist, denn es
geht nicht um Entfaltung IN diesen Raum, sondern um Konstituierung
und Reproduktion dieses "Oekonux-Raum" ALS RESULTAT der Interaktion
dieser Entfaltungsprozesse. Das geht aber nur, wenn man Oekonux von
den LEUTEN her denkt und nicht von den IDEEN her.

Ok, darauf kann ich mich einlassen (auch wenn ich Leute und Ideen nicht 
trenne). Jetzt aber Butter bei die Fische: Was heisst das? Würdest du 
zustimmen, dass das, was wir gerade jetzt hier betreiben, 
die "Konstituierung und Reproduktion dieses "Oekonux-Raum" als Resutat 
der Interaktion dieser Entfaltungsprozesse" _ist_? Ist das ein Weg?

Ciao,
Stefan

-- 
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