Message 10247 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT10167 Message: 22/75 L4 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Konkreteres zur Freien Gesellschaft?



Hallo Uli, hallo Liste,

ulifrank wrote:
Die Entwertung/ Befreiung von der Warenform kann wohl kaum "mit einem
Schlag" gehen. Sie hat bereits im virtuellen Bereich, in der
Wissenschaft, Kunst, "Care- economy " usw. begonnen und kommt vielleicht
nie aber jedenfalls erst viel später in den Bereich der "positionellen
Güter" (wie die VWL das nennt) also der schwierigen Reproduzierbarkeit
(Villa am Meer usw). Ich stelle mir vor, dass im Zuge der
Produktivitätsentwicklung und der hoffentlich massenhaften
Bewußtseinsveränderungen der wertbefreite Bereich sich immer weiter
ausdehnen kann bei gleichzeitig (mehr oder weniger) funktionierender
Wertverwertung. Es ist wie eine ständige Verschiebung der Übergangszone
zwischen FS und kommerzieller (Aus-) Nutzung: zB. ein Programm, ein Text
ist frei im Internet erhältlich. Wenn ich den Text als schönes Buch
haben will, muss ich vorläufig noch dafür zahlen. Wenn es die ersten
freien Drucker gibt, die Lust haben solche schönen Ausgaben frei
herzustellen, könnten auch hier die Waren freie Güter werden usw.

Ja, da ist was dran. Es ist vielleicht weniger wichtig, sich zu fragen,
wie eine Gesellschaft aussehen würde, die ganz ohne Tausch- und Geldlogik
auskommt, sondern eher wie man die schon klar erkennbaren bestehenden
Tendenzen zum Überwinden dieser Logik bzw. insbesondere ihrer negativen
Aspekte (künstliche Knappheit, wo keine nötig ist; entfremdete, fremdbestimmte
Arbeit; Ausgrenzung von Menschen, die nicht genug zum Tauschen anzubieten
haben, weil sie z.B. keine Arbeit finden etc.) ausbauen und verstärken kann.
Vielleicht wird am Ende eines solchen Prozesses die Tauschlogik völlig
verschwunden sein, oder aber sie wird sich auf Bereiche zurückgezogen haben,
wo sie Sinn macht und keinen Schaden anrichtet. Wir wissen es noch nicht, und
heutige Antworten auf diese Frage könnten natürlich nur spekulativ ausfallen.

Andererseits aber ist so eine eine graduelle Entwertung, eine anmähliche
"Verschiebung der Übergangszone" natürlich mit ganz praktischen Problemen
verbunden, insbesondere für Leute deren Lieblingsbeschäftigungen/Stärken schon
entwertet wurden, während sie ihrerseits aber noch Geld zum Überleben brauche.
Dass Musiker, die gehofft haben, mit Albumverkäufen genügend Geld zu verdienen
zu damit einigermaßen über die Runden zu kommen, nicht gerade glücklich sind,
wenn sie ihr Werk in Tauschbörsen wiederfinden, kann ich gut verstehen. Und
für mich als Softwareentwickler ist das z.B. auch eine ganz konkrete Frage:
einerseits möchte ich nicht, dass die von mir entwickelte Software
geheimhalten wird und nur einem kleinen Kreis zugute kommt, statt allen die
sich dafür interessieren; andererseits muss ich von irgendwas leben. Wie geht
man mit sowas um?


Doch nochmal zurück zum Leitbild einer tauschfreien Gesellschaft:

Wo wirklich noch "natürliche" Knappheit verwaltet werden muss, ließen
sich auch einfache Abstimmungsverfahren bei der Verteilung denken (wie
die Abstimmungen in der Schweiz). Denn die Verteilung über Geld und
entsprechende Ansprüche ist ja auch nicht sooo elegant wie es auf den
ersten Blick aussieht (Verwaltungsaufwand, juristische Abwicklungen,
emotionale Friktionen  (Unzufriedenheit, Neid, Aggressionen) mit dem
entsprechenden Behandlungsaufwand....

Ja, knappe Resourcen für Projekte könnten auf diese Weise verteilt werden,
aber ich denke, im Privatleben sollten sowas möglichst weitgehend vermieden
werden, damit keine Bittsteller-Kultur entsteht. Die Möglichkeit, sich einfach
nehmen oder kaufen zu können, was man will, ohne dass einem andere reinreden
können, ist eine wichtige Errungenschaft, die man nicht leichtfertig opfern
sollte. Im Kapitalismus hat man im Allgemeinen diese Möglichkeit, sofern und
soweit man sie sich leisten kann, und bei der Freien Software hat man sie
praktisch unbeschränkt.

Wenn man dagegen erst einen Antrag stellen muss mit Begründung, warum man
etwas bestimmtes will, und dann hoffen, dass die anderen das akzeptieren, dann
ist das latent immer erniedrigend. Derartige Situationen hat man heute z.B.
bei der Aufnahme in WGs, wo man intensive "Passt die/der auch zu
uns?"-Gespräche über sich ergehen lassen muss. Klar, in solchen Fällen geht es
nicht anders, aber ich finde es doch gut, dass es noch die Alternative gibt,
sich einfach eine eigene Wohnung zu mieten, ohne dass einem jemand reinreden kann.

Viele Szenarien ließen sich wahrscheinlich nach der Regel "Besondere Wünsche
erfordern besondere Projekte" behandeln, entsprechend Raymonds "scratching an
itch"-Motto. Der öffentliche Nahverkehr wird vermutlich allen frei zur
Verfügung stehen, darüber hinaus dürften Gemeinden eine Reihe von Fällen
beschließen, in denen ohne weiteres ein Privatauto gestellt wird (z.B. für
Familien mit Kindern, die auswärts wohnen; für Versorgung + Transport
Schwerkranker/Behinderter; ...). Wer sonst noch ein Auto will, kann dann einen
Antrag bei der Gemeinde mit entsprechender Begründung stellen u. hoffen dass
der akzeptiert wird, sie/er kann sich aber auch einfach in einem Projekt
engagieren, das alte Autos renoviert oder neue baut und seinen Mitgliedern zur
Verfügung stellt und sich darüber hinaus auch an der Pflege der Straßen
beteiligt (wenn sie letzteres verweigern, werde ihnen die Gemeinden wohl kaum
die benötigten Resourcen gewähren).

Ähnlich könnte es bei Wohnraum aussehen: wer umziehen will, sucht sich unter
den leerstehenden Wohnungen eine aus bzw. sucht sich eine WG, die sie/ihn
aufnimmt. Wem die vorhandene Auswahl nicht reicht, sucht sich oder gründet ein
Projekt, aus sich gezielt um den Bau oder Ausbau besonders
schöner/großer/gutgelebener Wohnungen bzw. Wohnhäuser kümmert. Wobei so ein
Projekt natürlich, sofern es schöne/gutgelegene Wohnungen/Freiflächen nutzen
will, mit den betreffenden Gemeinden beiderseitig akzeptierte Bedingungen
aushandeln müsste, um die dann auch zu kriegen (z.B. entsprechendes
Mehr-Engagement der Projektmitglieder bei den "unangenehmen Aufgaben" o.ä.).

Ciao
	Christian

--
|------------ Christian Siefkes ------------- christian siefkes.net -----|
|    Web: http://www.siefkes.net/     |     Jabber: hc jabber.ccc.de     |
|  Graduate School in Distributed IS:   http://www.wiwi.hu-berlin.de/gkvi/
|------------ OpenPGP Key: http://www.siefkes.net/key.txt (ID: 0x346452D8)
Newsreaders still feel it is worth a special and rather worrying mention
if, for instance, a crime was planned by people over the Internet. They
don't bother to mention when criminals use the telephone or the M4, or
discuss their dastardly plans over a cup of tea.
	-- Douglas Adams

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT10167 Message: 22/75 L4 [In index]
Message 10247 [Homepage] [Navigation]