Re: [ox] Re: DDR und GPL-Gesellschaft
- From: Thomas Uwe Gruettmueller <sloyment gmx.net>
- Date: Sun, 9 Nov 2003 13:21:43 +0100
Hi, Joost und alle!
On Freitag 07 November 2003 16:15, Joost Klüßendorf wrote:
ich darf vielleicht nochmal an den Anfang dieses Mailwechsels
erinnern.
In irgendeiner Mail kam der Satz vor:
>> Vom Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft wäre meiner
>> Meinung nach ein friedlicher Übergang möglich gewesen. So
>> wie es derzeit aussieht, erleben wir eine GPL-Gesellschaft
>> erst nach einem Bürgerkrieg oder einem dritten Weltkrieg -
>> wenn wir es überleben.
Ein paar Überlegungen hierzu:
1. Situation im Kapitalismus:
* In den Bereichen, in die freie Software vordringt, macht sie
den kommerziellen Anbietern den Markt kaputt: Microsoft ist
z.B. nicht sehr froh über GNU/Linux.
* Freie Software schafft hingegen neue Möglichkeiten in
benachbarten Bereichen Geld zu verdienen, z.B. mit
proprietären Informationsgütern, und wird von entsprechenden
Firmen teilweise sogar gefördert. Es gibt proprietäre
Softwareangebote für GNU/Linux, proprietäre Distributionen,
proprietäre Dokumentationen usw. Aber auch in diese Bereiche
dringt freie Software vor: Programme werden geclont, es gibt
mindestens eine vollständig freie Distribution, immer mehr
freie Dokumentation. Je weiter FS vordringt, um so weniger
Teile des Kapitalismus hat sie für und um so mehr gegen sich.
* Freie-Software-Entwicklung ist momentan vom Kapitalismus
abhängig: die Programmierer brauchen etwas zum Essen,
Anziehen, Wohnen usw. einerseits, sowie Computer,
Internetzugang usw. andererseits. Wird sie als eine den
Kapitalismus überwindende Keimform betrachtet, so muß erstmal
geklärt werden, wie sie den Kapitalismus überwinden soll, wenn
sie von ihm abhängig ist.
* Im Kapitalismus dient der technische Fortschritt nicht der
Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Bevölkerung, sondern der Profitsteigerung. Rationalisierungen
führen so nicht zu Arbeitserleichterungen, sondern zu
Entlassungen. Da freie Software an der Spitze des technischen
Fortschritts herumhandtiert, ist sie irrsinnigerweise für die
Arbeitslosigkeit vieler Menschen mitverantwortlich. (An
Arbeitslosigkeit ist nicht etwa die Langeweile o.ä.
auszusetzen, sondern, daß sie im Kapitalismus mit sozialem
Abstieg verbunden ist.)
* Eine Übertragung der Organisationsprinzipien (z.B.
Organisation durch Mailinglisten, freiwillige, sinn- und
lusterfüllte Mitarbeit, Bedarfsorientierung usw.) auf
materielle Bereiche, d.h. Herstellung (nicht nur Entwicklung)
von Gütern, wäre mit noch größeren Hindernissen verbunden, da
in diesen Bereichen die Produktionsmittel nicht für jeden
erschwinglich sind (außer solche, die hoffnungslos veraltet
sind).
2. Freie Software und Sozialismus -- Pro
* Entwicklung freier Software stünde nicht im Gegensatz zu den
kommerziellen Interessen der Entwickler proprietärer Software,
einfach weil es innerhalb des Sozialismus keine kommerziellen
Interessen zu geben hat. Konsequenterweise sollte jede im
Sozialismus entwickelte Software freie Software sein.
* Eine Unterstützung durch Konzerne wie IBM ist nicht nötig,
wenn der Staat so schlau ist, freie Software zu unterstützen.
* Wenn Freie-Software-Entwicklung in sozialistischen Staaten
stattfände und von dort auch die nötige Versorgung der
Programmierer käme, d.h. nicht nur mit den Lebensgrundlagen,
sondern auch mit Arbeitsmaterialien (Computer usw.) aus
heimischer Produktion, wäre freie Software nicht mehr vom
Kapitalismus abhängig, sondern wahlweise vom Sozialismus
*oder* Kapitalismus. Ersteres halte ich für weniger tragisch.
* Das Resultat freier Software wäre eine Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsbedingungen ohne Nebenwirkungen.
* Die Ziele freier Software sind kompatibel mit denen des
Sozialismus, die Umgestaltung seiner Organisationsprinzipien
nach denen freier Software nur von Vorteil.
3. Freie Software und Sozialismus -- Contra
* Momentan wird von den letzten sozialistischen Staaten wie
China und Kuba zwar auf freie Software gesetzt, jedoch ist
noch nicht klar, ob sie die damit verbundenen Chancen erkennen
werden. Freie Software bloß als billige Alternative zu
betrachten, ist wohl ein bißchen dürftig.
* Es fragt sich, was z.B. China momentan an Hardware herstellen
kann. Zu DDR-Zeiten haben sie z.B. 286er-PCs nachgebaut, von
daher traue ich denen eine Menge zu. Sollten aber heutzutage
z.B. Prozessoren und sonstige Teile aus kapitalistischen
Ländern importiert werden müssen, wäre keine Unabhängigkeit
gegeben.
Die Frage, ob die DDR ein geeigneter Ort für freie Software
geworden wäre, ist schwer zu beantworten, da sie nicht mehr
existiert. Einiges spricht jedoch dagegen:
* Als die DDR noch existierte, gab es Linux noch nicht.
* Die DDR war aufgrund des Embargos technisch um einige Jahre
zurück. In den Haushalten waren damals 8-Bit-Rechner zu
finden: Robotron KC-85er, selbstgebaute Sinclair-Z80er, sowie
importierte C64er und Atari800er. Heute wären es
wahrscheinlich Pentium-1-Rechner oder vergleichbare.
* Es ist fraglich, ob es in der DDR Internetzugang für alle
gegeben hätte. Dagegen sprechen drei mögliche Gründe: das
Technikembargo gegen den Ostblock, Befürchtungen des Verlustes
an Kontrolle seitens der DDR, sowie das katastrophale
Telefonnetz, das nicht gerade auf Investitionsfreude im
Bereich Kommunikationstechnik deutete.
* Die rechtliche Seite ist völlig unklar. Bekanntermassen gab es
keine gesetzlich festgeschriebene Pressefreiheit, d.h. alle
Druckerzeugnisse benötigten eine staatliche Lizenz, der
Sputnik wurde vorübergehend verboten usw. Andererseits wurde
aber Software praktisch ungehindert kopiert; ebenso gab es
fotokopierte Computerbücher (ohne daß es Fotokopierer gab).
Dieser Punkt ist mir unklar, könnte aber möglicherweise ein
Showstopper sein.
Ob die DDR jetzt ein "totalitäres Regime mit rotlackierten
Faschisten" war, oder ein guter oder böser Staat, ist es
glaube ich nicht.
Der Punkt, was die DDR war und welche Vor- und Nachteile sie
hatte, ist für eine Antwort auf die Frage, ob vom
Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft ein friedlicher Übergang
möglich gewesen wäre, IMHO sehr wichtig. Der Vergleich mit dem
Faschismus zeigt, daß im Westen noch immer die irrsinnigsten
Bildzeitungs-Horrorvorstellungen vom Sozialismus vorherrschen.
cu,
Thomas }:o{#
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"Look! They have different music on the dance floor..."
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