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Re: [ox] Re: DDR und GPL-Gesellschaft



Thomas Uwe Gruettmueller <sloyment gmx.net> writes:

On Freitag 07 November 2003 16:15, Joost Klüßendorf wrote:

ich darf vielleicht nochmal an den Anfang dieses Mailwechsels
erinnern.

In irgendeiner Mail kam der Satz vor:
 >> Vom Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft wäre meiner
 >> Meinung nach ein friedlicher Übergang möglich gewesen. So
 >> wie es derzeit aussieht, erleben wir eine GPL-Gesellschaft
 >> erst nach einem Bürgerkrieg oder einem dritten Weltkrieg -
 >> wenn wir es überleben.

Ein paar Überlegungen hierzu:

1. Situation im Kapitalismus:

* In den Bereichen, in die freie Software vordringt, macht sie
  den kommerziellen Anbietern den Markt kaputt: Microsoft ist
  z.B. nicht sehr froh über GNU/Linux.

* Freie Software schafft hingegen neue Möglichkeiten in
  benachbarten Bereichen Geld zu verdienen, z.B. mit
  proprietären Informationsgütern, und wird von entsprechenden
  Firmen teilweise sogar gefördert. Es gibt proprietäre
  Softwareangebote für GNU/Linux, proprietäre Distributionen,
  proprietäre Dokumentationen usw. Aber auch in diese Bereiche
  dringt freie Software vor: Programme werden geclont, es gibt
  mindestens eine vollständig freie Distribution, immer mehr
  freie Dokumentation. Je weiter FS vordringt, um so weniger
  Teile des Kapitalismus hat sie für und um so mehr gegen sich. 

Ist das den wirklich so? Gerade eben kommen wirklich massenhaft die
ConsumerPCs
mit Open Office in die Geschäfte. Jetzt erst wird FS wirklich zum
Bestandtteil von
Business - Strategien.

* Freie-Software-Entwicklung ist momentan vom Kapitalismus
  abhängig: die Programmierer brauchen etwas zum Essen,
  Anziehen, Wohnen usw. einerseits, sowie Computer,
  Internetzugang usw. andererseits. Wird sie als eine den
  Kapitalismus überwindende Keimform betrachtet, so muß erstmal
  geklärt werden, wie sie den Kapitalismus überwinden soll, wenn
  sie von ihm abhängig ist.

Theoretisch ist uns das allen klar: wenn der "nicht-knapope" und
"autopoetische"
Charakter der FS sich in irgendeiner Form auf die materielle Welt
übertragen
läßt. Wir streiten eigentlich sehr oft darum wie das geht.

* Im Kapitalismus dient der technische Fortschritt nicht der
  Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
  Bevölkerung, sondern der Profitsteigerung. Rationalisierungen
  führen so nicht zu Arbeitserleichterungen, sondern zu
  Entlassungen. Da freie Software an der Spitze des technischen
  Fortschritts herumhandtiert, ist sie irrsinnigerweise für die
  Arbeitslosigkeit vieler Menschen mitverantwortlich. (An
  Arbeitslosigkeit ist nicht etwa die Langeweile o.ä.
  auszusetzen, sondern, daß sie im Kapitalismus mit sozialem
  Abstieg verbunden ist.)

Der Irrsinn ist also von freier Software unabhängig. Arbeit, die dazu gut
ist, 
künftige Arbeit zu ersparen (das ist das Wesen von Arbeit), ist zugleich
das
Maß des Reichtums. Dieser Widerspruch tritt nun in sein historisches
Reifestadium ein.

* Eine Übertragung der Organisationsprinzipien (z.B.
  Organisation durch Mailinglisten, freiwillige, sinn- und
  lusterfüllte Mitarbeit, Bedarfsorientierung usw.) auf
  materielle Bereiche, d.h. Herstellung (nicht nur Entwicklung)
  von Gütern, wäre mit noch größeren Hindernissen verbunden, da
  in diesen Bereichen die Produktionsmittel nicht für jeden
  erschwinglich sind (außer solche, die hoffnungslos veraltet
  sind). 

Das ist kein Argument: denn auch Computer etc. sind nicht ohne weiteres
erschwinglich. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, daß Werkstätten,
in denen freie Designs automatisch realisiert werden, von vielen Menschen
gemeinsam betrieben werden. Das hat es in der Geschichte immer gegeben, 
früher gab es auch keine Kühlschränke, sondern Kühlhäuser etc.

In der materiellen Welt spielt physische Nähe und Verfügbarkeit eine
entscheidende Rolle. 

Es geht also um:

+ Rationellen Umgang mit Material- und Energieaufwand durch Lokalisierung
und Stoffkreisläufe
+ Nicht-Knappheit (also nachwachsende Rohstoffe, solare Technologien)

Hochtechnologie erlaubt uns zunehmende "Verkreislaufung" der
gesellschaftlichen 
Produktion und die bessere Nutzung von solarer und abgeleiteter (Biomasse)
Energie. Deswegen sind gesellschaftliche Alternativen durchaus machbarer 
geworden, und dies ganz grundsätzlich.

2. Freie Software und Sozialismus -- Pro

* Entwicklung freier Software stünde nicht im Gegensatz zu den
  kommerziellen Interessen der Entwickler proprietärer Software,
  einfach weil es innerhalb des Sozialismus keine kommerziellen
  Interessen zu geben hat. Konsequenterweise sollte jede im
  Sozialismus entwickelte Software freie Software sein.

Siehe die Leichtigkeit mit der sich China und Vietnam dafür entschieden
haben.


* Eine Unterstützung durch Konzerne wie IBM ist nicht nötig,
  wenn der Staat so schlau ist, freie Software zu unterstützen.  

genau.


* Wenn Freie-Software-Entwicklung in sozialistischen Staaten
  stattfände und von dort auch die nötige Versorgung der
  Programmierer käme, d.h. nicht nur mit den Lebensgrundlagen,
  sondern auch mit Arbeitsmaterialien (Computer usw.) aus
  heimischer Produktion, wäre freie Software nicht mehr vom
  Kapitalismus abhängig, sondern wahlweise vom Sozialismus
  *oder* Kapitalismus. Ersteres halte ich für weniger tragisch.

mit der heimischen Produktion haperts. Irgendwie sind 
natürlich alle Hardwarekomponenten dem Produktivitätsvergleich
ausgesetzt....

Aber im Prinzip hast Du recht. Mehr als das: die Produktivität des 
kapitalistischen Auslandes kann gratis mitbenutzt werden.


* Das Resultat freier Software wäre eine Verbesserung der
  Lebens- und Arbeitsbedingungen ohne Nebenwirkungen.

Warum? zunächst gibts nur Software. Da hast Du geschummelt!!


* Die Ziele freier Software sind kompatibel mit denen des
  Sozialismus, die Umgestaltung seiner Organisationsprinzipien
  nach denen freier Software nur von Vorteil.

Moment. Der Sozialismus ist seiner Natur nach staatliche Wertproduktion,
die er zum Nutzen des Volkes anwenden und verteilen will. 
Das ist zwar ein Irrsinns - Programm (unterliegt dem oben skizzierten
Widerspruch) aber fakt. Daraus ergeben sich auch alle Brutalitäten.

anders gefragt:
Warum hat Fidel Castro den Gebrauchswert freier Software nicht entdeckt?
Weil er darin keinen Beitrag für die nationale Devisenbilanz sieht.
Oder vielleicht auch:  darin sieht er vielleicht den relativen begrenzten 
Nutzen von FS. Aber auch nicht mehr.

3. Freie Software und Sozialismus -- Contra

* Momentan wird von den letzten sozialistischen Staaten wie
  China und Kuba zwar auf freie Software gesetzt, jedoch ist
  noch nicht klar, ob sie die damit verbundenen Chancen erkennen
  werden. Freie Software bloß als billige Alternative zu
  betrachten, ist wohl ein bißchen dürftig.

genau. deswegen wird vermutlich nicht viel draus.


* Es fragt sich, was z.B. China momentan an Hardware herstellen
  kann. Zu DDR-Zeiten haben sie z.B. 286er-PCs nachgebaut, von
  daher traue ich denen eine Menge zu. Sollten aber heutzutage
  z.B. Prozessoren und sonstige Teile aus kapitalistischen
  Ländern importiert werden müssen, wäre keine Unabhängigkeit
  gegeben.

Da mußt Du schon dafür argumentieren warum das wichtig ist. Lustig:
Stefan Meretz und ich hatten grade diese Diskussion bei einem persönlichen
Treffen. 
Mein Argument ist: die scheinbare Billigkeit des Löcher-Stopfens hat dem
realen Sozialismus den HAls gebrochen.
"Man kann ja dafür bezahlen, also warum eine Industrie aufbauen"
Nachteil: die Devisen sind Weg. Man muß also Devisenbringer-Industrien
haben. Diese Devisenbringer-Industrien sind dann aber genau so teuer,
wie sie der Weltmarkt macht. Sprich: sie bringen immer weniger ein
und sie produktiv zu halten kostet eine Menge. Dafür braucht man wieder
neue Produkte vom Weltmarkt etc. Nimmt Kredite und setzt sich 
damit unkalkulierbarem Zwang aus. denn jetzt braucht man Devisen um
Devisen zu bedienen.
Am Schluß landen die Weihnachtsgänse in den westlichen Supermärkten um
die Kredite zu bedienen. Volksfreundliche Exekution des Wertgesetzes.


Die Frage, ob die DDR ein geeigneter Ort für freie Software 
geworden wäre, ist schwer zu beantworten, da sie nicht mehr 
existiert. Einiges spricht jedoch dagegen:

warum nimmst Du nicht Cuba? Oder China? oder Vietnam?


* Als die DDR noch existierte, gab es Linux noch nicht.

* Die DDR war aufgrund des Embargos technisch um einige Jahre
  zurück. In den Haushalten waren damals 8-Bit-Rechner zu
  finden: Robotron KC-85er, selbstgebaute Sinclair-Z80er, sowie
  importierte C64er und Atari800er. Heute wären es
  wahrscheinlich Pentium-1-Rechner oder vergleichbare.

* Es ist fraglich, ob es in der DDR Internetzugang für alle
  gegeben hätte. Dagegen sprechen drei mögliche Gründe: das
  Technikembargo gegen den Ostblock, Befürchtungen des Verlustes
  an Kontrolle seitens der DDR, sowie das katastrophale
  Telefonnetz, das nicht gerade auf Investitionsfreude im
  Bereich Kommunikationstechnik deutete.

* Die rechtliche Seite ist völlig unklar. Bekanntermassen gab es
  keine gesetzlich festgeschriebene Pressefreiheit, d.h. alle
  Druckerzeugnisse benötigten eine staatliche Lizenz, der
  Sputnik wurde vorübergehend verboten usw. Andererseits wurde
  aber Software praktisch ungehindert kopiert; ebenso gab es
  fotokopierte Computerbücher (ohne daß es Fotokopierer gab).
  Dieser Punkt ist mir unklar, könnte aber möglicherweise ein
  Showstopper sein.

das ist wohl der Hauptpunkt. "Initiative der MAssen" wurde niemals als 
Prinzip ernst genommen. Immer braucht es "Anleitung".


Ob die DDR jetzt ein "totalitäres Regime mit rotlackierten
Faschisten" war, oder ein guter oder böser Staat, ist es
glaube ich nicht.

Der Punkt, was die DDR war und welche Vor- und Nachteile sie 
hatte, ist für eine Antwort auf die Frage, ob vom 
Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft ein friedlicher Übergang 
möglich gewesen wäre, IMHO sehr wichtig. Der Vergleich mit dem 
Faschismus zeigt, daß im Westen noch immer die irrsinnigsten 
Bildzeitungs-Horrorvorstellungen vom Sozialismus vorherrschen.

Übrigens hat Pol Pot "seinen" Maoismus an der Pariser Sorbonne gelernt.

Im ernst: die Nähe der Herrschaftsformen ist ebensowenig abzuleugnen wie
ihr
grundlegender Unterschied, sowie ihre innere Verwandtschaft mit freedom and
democracy.

Totalitarismus versieht, daß Hitler und Lenin von der demokratischen 
Massenmobilisierung und Propaganda in Amerika begeistert waren. Sie waren 
verspätete Modernisierer, die "es" mit Gewalt nachholen wollten. Ihre
Lehrmeister haben sie aber nicht übertreffen können.

Die Frage ob ein lernfähiger Sozialismus - wo es ihn noch gibt - seine 
Kommandogewalt in Sachen Resourcen und Produktion im Sinne der sich 
herausbildenden GPL-Gesellschaft verwenden könnte. Diese Frage traue ich
mir nicht prinzipiell zu verneinen. 

Eigentlich stellt sich schon die Frage: was bleibt ihnen denn anderes
übrig?

Franz

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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