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Re: [ox] Zur Kritik der Freien Kooperation



Hallo Stefan und Mitleser,

Na, mit einer Antwort von mir hast Du ja sicher schon gerechnet. Das wird
naturgemäß jetzt etwas länger, fürchte ich. Ich möchte dennoch alle
ermutigen das mal zu lesen und - so sie es noch nicht getan haben - auch
Christophs ursprünglichen Text.

On Sat, Sep 29, 2001 at 06:03:01PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Nicht verschweigen darf ich natürlich, daß meine Wahrnehmung heute vor
dem Hintergrund von zwei Jahren Oekonux erfolgt. Vieles habe ich vor
zwei Jahren noch ganz anders gesehen und vielleicht wäre das Paper
damals auch bei mir besser weggekommen. Aber es gibt (für mich) nun
mal die Oekonux-Erfahrung und den Reichtum an *wirklich* neuen
Gedanken, der hier so en-passant entwickelt wird, daß ich dahinter
zurückdenken weder kann noch will.

Btw: Für mich gilt das selbe was den Hintergrund angeht und ich sehe es eher
umgekehrt, was den "Neuigkeitswert" angeht, aber das sollte hier eh nicht
unser Thema sein, weil es egal ist ob etwas neu oder alt ist, sofern es denn
Sinn macht.

Ebenfalls vorweg möchte ich anmerken, daß Christophs Beitrag die Frage
der Rosa-Luxemburg-Stiftung "Unter welchen Bedingungen sind soziale
Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?" beantworten sollte. Die
Frage finde ich an sich schon seltsam und reich an Voraussetzungen,
die zunächst erstmal zu klären wären. 

Was Christoph ja auch tut. Er weist die Frage ja in der Form auch zurück.
Ein Aufsatz, der trotz "Thema verfehlt" die Bestnote gekriegt hat ;-)

Insbesondere scheint mir - auch
gerade nach der Lektüre von Christophs Paper -, daß diese Fragen im
kapitalistischen Kontinuum von Bedeutung sind. Ja sie sind ja geradezu
die Geschäftsgrundlage einer (idealen) kapitalistischen Ordnung. Für
eine Utopie wie ich sie heute in Ansätzen denke, wären diese Fragen
aber tendenziell gegenstandslos, zumindest aber nicht mehr dominant.

Du verstehst die freie Kooperation falsch, wenn Du sie als Utopie deutest.
Für mich hat sie die Funktion von "Realpolitik" mit utopischer Ausrichtung.
Also etwas was mir einen Rahmen gibt, über mein konkretes hiesiges Handeln
nachzudenken ohne dabei eine bessere Gesellschaft aus den Augen zu
verlieren. Sprich: genau die Fallen der Realpolitik zu umschiffen und
trotzdem Handlungsfähig zu bleiben.

Das ganze Paper zeichnet sich aus durch eine äußerst laxe Verwendung
von Begriffen. Alles wird mit möglichst wenigen Worten belegt, so daß
die Begriffe hinter den Worten völlig nebulös werden.

Das müsste Dir doch eigentlich sehr entgegen kommen. Das ist genau ein
Merkmal einer "theorie in progress" wie wir sie hier auch in Oekonux
gelegentlich aufscheinen sehen.

Etwas allgemeiner erkenntnistheoretisch formuliert:

Jede Theorie bewegt sich immer in einem ihr eigenen Sprachraum, der auf
unterschiedlich umständlichem Weg mit dem Alltagssprachverständnis verbunden
sein kann. Das ist nötig, da eine neue Theorie immer neue Abstraktionen und
neue Modelle benötigt. Und neue Abstraktionen und neue Modelle brauchen eine
neue Sprache. Im naturwissenschaftlichen Bereich ist das in weiten Gebieten
verhältnismäßig unproblematisch, da Subjekt und Objekt der Theorie fast
immer auseinanderfallen. In den Humanwissenschaften ist das schon etwas
komplizierter, da dort das Subjekt immer auch Objekt der Theorie ist.

Für den Sprachraum in dem sich die Theorie bewegt bedeutet das einiges an
Problemen. Die Sprache selbst ist nämlich auf einmal Untersuchungsgegenstand
und ebenso Teil der Lösung wie des Problems.

Für mich gibt es zwei gangbare Wege diesem Problem zu entgehen. Man kann
entweder extrem hermetisch werden und versuchen eine Sprache zu finden, die
sich jedem Alltagsverständnis erstmal entzieht um so zu versuchen die
störenden Alltagseffekte nicht zum Zuge kommen zu lassen. Das haben viele
Philosophen und Sozialwissenschaftler in der Vergangenheit versucht. Bei
Adorno gipfelt das dann in seiner Aussage: "Stil ist affirmativ."

Christoph geht einen anderen, meiner Meinung nach genauso gangbaren Weg. Er
versucht gerade durch Einbeziehung von Alltagsverständnis und Alltagssprache
die dem Alltag zu Grunde liegenden Strukturen sichtbar zu machen.

Beide Wege haben so ihre Vor- und Nachteile. Aber eine gewisse
Begriffsunschärfe wird sich vor allem beim letzten nicht vermeiden lassen.

Den Vogel schießt die "erzwungene Kooperation" ab. Eine solche
Begriffsbildung kann es nur dann geben, wenn alles in der Welt eine
Kooperation sein muß. 

Alles nicht, aber eben jedes gemeinsame, koordinierte Handeln. Und genau das
ist ja auch die Wortbedeutung von "Kooperation". Du machst hier den
umgekehrten Fehler, dass Kooperation für Dich schon immer etwas von vorne
herein positiv besetztes ist. Aber da sind wir ja auch schon wieder mitten
in unserem alten Streit um Kooperation und Konkurrenz.

S. 34:
Eine Gruppe weiterer Einwände, die gegen die Theorie der freien
Kooperation erhoben werden können, sind die, sie wäre
widersprüchlich, apodiktisch oder zirkulär. [...]

Diese Einwände lassen sich in der Tat nicht in Bausch und Bogen
zurückweisen oder widerlegen. Die Sache ist die, dass es keine
Theorie gibt, auf die sie nicht zuträfen.

Ah ja, und schon ist alles im großen Topf und das Konzept der Freien
Kooperation gerettet...

Lieber Christoph, daß Theorien ihre prinzipiellen Schwierigkeiten
haben, ist natürlich richtig - hätte eine Theorie es nicht, so wäre
sie die Weltformel. Daraus (kurz) zu schließen, daß alle Theorien
gleich (gut oder schlecht) sind ist natürlich Humbug. 

Ja, Du hättest vielleicht auch noch etwas weiter lesen sollen, da heisst es
nämlich: "Um die erwähnten Einwände zu prüfen, müssen wir zunächst unsere
Vorstellung von dem, was Theorie ist und sein kann, auf den Prüfstand
stellen." Und dann kommt eine ausführliche Darstellung was eine
"postmoderne" Theorie ist, warum die Theorie der freien Kooperation eine
ist und warum das sinnvoll ist. Darauf gehts Du in Deiner Kritik mit keinem
Wort ein. Dabei sind das die eigentlichen Gegenargumente.

Eine Theorie
macht nur als Beschreibung einer Realität Sinn. Und eine Theorie ist
natürlich besser, wenn sie die Realität besser beschreiben kann - in
der Praxis: Wenn sie mehr eintreffende Voraussagen über real
beobachtbare Entwicklungen machen kann.

Das stimmt eben nicht mehr für kritische Gesellschaftstheorie, da diese
nicht nur Vorraussagen macht, die eintreffen können oder nicht, sondern
selbst diese Vorrausetzungen schafft.

Andererseits ist es nicht verwunderlich, wenn Christoph mit dieser
Selbstbeschränkung keine großen Sprünge machen kann. Die Welt und mit
ihr menschliche Gesellschaften sind nun mal nicht einfach und schon
gar nicht mit einem Universalhammer zu erschlagen, als die sich die
Freie Kooperation anbietet. Ob dieser real existierenden Komplexität
mögen Vereinfachungen jeder Art zwar wohlfeil sein, zu einer
Problemlösung tragen sie aber nicht bei - eher im Gegenteil.

Völlig richtig. Die Theorie der freien Kooperation ist aber eben gerade
keine "Vereinfachung", weil sie sich die konkreten Umstände jeder Situation
anguckt und nicht eine Ursache allen Übels findet und alles andere davon
ableitet.

Als wäre das alles noch nicht genug, ist auch Christophs Schreibstil
für mein Gefühl nicht immer der größten Klarheit verpflichtet. Wahllos
werden Fragmente aus Funk, Fernsehen und Feminismus eingestreut. 

Auch hier wieder: Das ist ebenso ein Vorteil wie ein Nachteil, auch
theoretisch und nicht nur vom Verständnis her.

Besonders heftig kommt dies im dritten Teil "Grundrisse einer Politik
der Freien Kooperation" vor. Hier wird ein Sammelsurium linker
Allgemeinplätze präsentiert, wo jedeR Linke nur zustimmend nicken
kann. Ob dieser Aufruf zum "Weiter so?", der zumindest in den Köpfen
der LeserInnen ankommt, wirklich so fortschrittlich ist?

Man kann das auch als Versuch sehen, die Erfahrungen die in der
Vergangenheit gemacht wurden zu verwerten. Im Alienbuch (für alle, die es
immer noch nicht kennen: "Die Aliens sind unter uns - Herrschaft im
demokratischen Zeitalter") stellt Christoph die freie Kooperation in einen
Kontext mit anderen linken Theorien und da wird das sehr deutlich, dass es
ihm darum geht diese Erfahrungen zu verarbeiten.

An dieser Stelle vielleicht auch noch eine methodische Bemerkung.
Gerade nach der Oekonux-Erfahrung würde ich denken, daß eine moderne
(gesellschaftliche) Theorie heute nur noch in einem Internet-Diskurs
entwickelt werden kann. Das Internet bietet gerade für einen solchen
Diskurs ungeheure Möglichkeiten, die kein anderes Medium zu bieten
hat. Davon ist allerdings in dem Paper nichts zu spüren :-( .

Hä? Kann man jetzt nur noch Theorie machen, wenn man es auf Mailinglisten
oder bei Open Theory macht? Das kann es ja wohl nicht sein. Ich stimme Dir
zu, dass eine gute Theorie meist aus vielfältigen und jahrelangen
Diskussionen entsteht und nicht im stillen Kämmerlein, nur muss das ja nicht
unbedingt im Internet sein, oder? Das die Theorie der freien Kooperation in
einem solchen Diskussionsprozess entstanden ist, halte ich für ziemlich
offensichtlich und gerade die von Dir kritisierte Bezugnahme auf ältere
Theorien ist ein Indiz dafür.

Das gesamte Paper wie auch das Konzept der Freien Kooperation selbst
ist durchzogen von einer ganz bestimmten Weltsicht: Die Welt ist von
Herrschaft bestimmt. Nun ist Herrschaft sicher - zumindest im
Kapitalismus - eine wichtige Größe, daß sie die zentrale Größe ist,
mit der sich die Welt aus den Angeln heben läßt bzw. sich selbst hebt,
daran hege ich so meine Zweifel. Kurz gesagt finde ich diese Basis zu
schmal um eine gesellschaftliche Utopie zu begründen.

Aber es kommt noch dicker. Innerhalb dieser Herrschaftsperspektive
nimmt Christoph konsequent nur eine Seite ein: Die der Armen und
Entrechteten. Die gesamte Welt wird nur aus dem Blickwinkel der
Unterworfenen gesehen - oder denen, die sich selbst so sehen. Die
Sicht der Herrschenden wird konsequent ausgeblendet und aus einem
offensichtlich moralischen Hintergrund als nichtig betrachtet.
Tatsächlich kommen Herrschende immer nur vor, wenn es darum geht
irgendwelche Forderungen an sie zu richten.

Die dazugehörieg Herrschaftsanalyse findet sich im Alienbuch (Untertitel:
"Herrschaft im demokratischen Zeitalter"). Lies sie da nach. Aber
wahrscheinlich wird sie Dir nicht gefallen, weil sie neben dem Kapitalismus
auch noch andere Übeltäter kennt. Stefan Mz. liest sie ja so, dass
Alienismus das Selbe ist wie Wertgesellschaft, ich seh das ein bisschen
anders, wie Christoph das sieht, weiss ich nicht.

Dies wird gepaart mit der Auswahl von Beispielen aus dem familiären
Bereich. Das Aufmacherbeispiel möchte ich hier komplett zitieren, da
es den gesamten Text durchzieht:

S. 5:
In einer Hütte lebten drei Bären, [...]

Zu dieser Geschichte, die eine spezifische Familiensituation spiegelt,
in der es in keiner Weise um den Typ Macht und Ohnmacht geht, den wir
in gesellschaftlichen Prozessen ausmachen können, zu dieser Geschichte
nimmt Christoph nun völlig einseitig Stellung:

Tatsächlich ist es eben genau Christophs These, dass Herrschaft auf den
unteren Ebenen und auf den oberen sehr wohl etwas gemeinsames hat und auch
etwas miteinander zu tun hat.

Etwas polemisch würde ich Deinen Einwand so beantworten: Typisch
patrialichalisches Denken, dass die Familie irgendwie nicht so wichtig sei,
wie "das grosse Ganze". Hier die "spezifische Familiensituation" und dort
die "gesellschaftlichen Prozesse". Hier das Private und dort das
Öffentliche. 

So sympathisch eine solche Sicht auf die wirken mag, die sich selbst
(nur) in unterworfener Rolle wahrnehmen, so realitätsfern ist sie auf
der anderen Seite auch. Will mensch die Welt schon unbedingt durch die
Herrschaftsbrille sehen, so muß mensch konsequenterweise schon beide
Seiten in Betracht ziehen, denn sonst läuft das Ganze im Heute auf
eine einfache Beseitigung der je Herrschenden hinaus. Im Morgen hat
eine solche Utopie dann gar nichts mehr zu bieten, weil ihr Gegenstand
- - - Herrschaft - dann nach eigener Annahme beseitigt ist.

Ein utopisches Konzept muß schon zwecks Analyse die Sicht der (heute)
Herrschenden mit einschließen. Ein Konzept muß mindestens die
Mechanismen in den Blick nehmen, die zu Herrschaft führen. Müßig zu
erwähnen, daß aus meiner Sicht das nicht ohne eine fundamentale
Kapitalismuskritik zu haben ist.

Wie gesagt die Herrschaftskritik (wenn auch sicherlich keine "fundamentale
Kapitalismuskritik") findet sich im Alienbuch. Das ist allerdings vom Stil
her eher noch mehr an Funk- und Fernsehen angelehnt, wird Dir also
vermutlich noch weniger behagen.

Vermutlich aus dieser einseitigen Perspektive auf die Underdogs kommt
auch ein ganz großes systematisches Problem: Was ist denn, wenn die
Herrschenden sich die Logik der Freien Kooperation zu eigen machen?

Das Missverständnis liegt hier bei Dir. Freie Kooperation ist etwas, deren
Bedingungen man herstellen muss und Christoph hat an vielen Beispielen
gezeigt, wie so diese Bedingungen hier und heute nur sehr rudimentär gegeben
sind. Freie Kooperation ist Ziel und Richtschnur des Handelns in einer
konkreten Gesellschaft und nicht etwas, das - einmal hergestellt - dann für
die ultimative Gesellschaft sorgt.

- die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und
  die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein
  "höheres Recht" zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition
  stehen, d.h. von den Beteiligten der Kooperation jederzeit neu
  ausgehandelt werden können;

Ja super! Das ist genau das, was die Neoliberalen uns seit Jahren
vormachen und bei ihnen Deregulierung heißt. Und natürlich wird es
auch ausgehandelt - glücklicherweise noch hier und da mit
Zwischenschichten und nicht direkt Betrieb gegen einzelneN
ArbeitnehmerIn (um nur einen Sektor zu nennen, wo (noch) nicht alles
individuell verhandelt wird).

Deregulierung bedeutet nur, dass eine etwas veraltete Herrschaftsform durch
eine zeitgemäßere (traditioneller vs. progressiver Alienismus) abgelöst
wird. Das schafft aber keinerlei mehr und an vielen Stellen auch sicher
weniger an freier Kooperation.

- alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre
  Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu
  nehmen;

Auch da haben die Herrschenden kein Problem: "Entweder du tanzt nach
meiner Pfeife oder du kannst gehen. Wie? Du willst streiken? Dann gehe
ich eben selbst (nach Osteuropa z.B.)."

Das sagt doch nichts anderes, als das die Bedingungen der Verhandlung eben
nicht gleich sind. Freie Kooperation sagt nur, dass diese Bedingungen erst
herzustellen sind.

Dieses ganze Konzept, das uns Christoph hier andienen will, hat einen
ganz entscheidenden Webfehler: Es funktioniert nur unter ganz engen
Bedingungen überhaupt. Zu diesen Bedingungen gehört u.a.:

Du siehst das genau falsch rum. Das Konzept fordert diese Bedingungen
_herzustellen_.

* Daß die Verhandelnden wechselseitig aufeinander angewiesen sind.

  Denn nur dann haben sie überhaupt ein Problem damit sich aus dem
  Staub zu machen. Ist einer der Verhandelnden angewiesen und die
  andere nicht: Was sollte die Unabhängigere davon abhalten ihre Sache
  allein zu machen?

Das ist tatsächlich ein Problem. Christoph formuliert das irgendwo (weiss
jetzt nicht wo, entweder in "Gleicher als Andere" oder im Alienbuch) als
Ausnahme. Ich finde, dass das als vierte Bedingung mit in die ursprüngliche
Definition gehört.

* Daß die Verhandelnden eine emotionale Bindung aneinander haben
  müssen.

  Das scheint mir an tausend Stellen die unausgesprochene Bedingung zu
  sein, daß es zwischen den Verhandelnden eine emotionale Bindung
  gibt, *aufgrund* derer sie sich nicht einfach trennen, *aufgrund*
  derer sie aufeinander angewiesen sind.

Dass es irgendeine Verbindung in jeder Kooperation gibt, davon geht
Christoph aus, aber nicht davon, dass diese emotional sein muss. Nur wird
eine emotionale Bindung eben als nicht mehr oder weniger wichtig als eine
materielle eingeschätzt.

Gerade wenn die Leute so atomisiert frei sind, wie Christoph es als
Ideal vorschwebt, 
gerade dann wenn sie so gleich sind, daß sie nicht
mehr wechselseitig aufeinander angewiesen sind, 

Hä? Wo liest Du denn das rein? Das Gegenteil ist IMHO richtig. Freie
Kooperation will doch gerade die vielen verdeckten Kooperationen aufdecken
und einer Verhandlung zugänglich machen.

dann stehen sich
ausschließlich die puren Interessen gegenüber - nichts sonst. 

Hm. Emotionale Interessen sind also z.B. keine Interessen? Was gibt es denn
sonst noch zwischen Menschen, ausser ihren Interessen? Mir fällt da jetzt
nur was religiöses oder "spirituelles" (um ein neues Oekonux-Modewort zu
verwenden) ein, aber das meinst Du ja sicher nicht.

Und dann
kommt das dickste aller Problem erst richtig zum Zuge:

- alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem
  vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können; d.h. dass der
  Preis dafür, die Kooperation zu verlassen bzw. die eigenen
  Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf
  jeden Fall zumutbar sein muss.

Mit (fast) keinem Wort erwähnt Christoph wie denn bestimmt wird, was
in einer je konkreten Situation ein "vergleichbarer und vertretbarer"
Preis ist. 

Das hängt ja auch nicht nur von der konkreten Situation ab, sondern vor
allem auch von den konkreten Individuen. Das ist genau der Grund, warum man
es nur durch Verhandeln lösen kann.

Eine gute Regel für Ehen - um mal auf Christophs familiäres
Terrain zu wechseln - ist ja bekanntlich, sich schon bei der
Eheschließung Gedanken über die Scheidung zu machen und sich über den
Preis der Scheidung dann zu einigen, wenn mensch sich noch freundlich
begegnet. Nicht mal das geht in der Freien Kooperation, denn es stehen
ja alle Vereinbarungen jederzeit zur Disposition

Na, das kann ja heiter werden, wenn's dann mal kracht... Dann ist die
Frage des Scheidungspreises nämlich die, die *dann* verhandelt werden
muß. Wie soll das gehen? 

Hier sind mindestens zwei Kooperationen involviert, das lässt Du ausser acht.
Neben der Kooperation zwischen den beiden Eheleuten nämlich auch noch die
Kooperation, die definiert was eine Ehe ist und entsprechende Vorkehrungen
für den Scheidungsfall vorsieht. Das ist normalerweise hier und heute ein
Staat (oder manchmal auch die Kirche).

Tatsächlich wäre es im Sinne freier Kooperation, dass jeder der beiden
Eheleute jederzeit aus der Ehe aussteigen kann (bei Bezahlung des Preises).
Wie genau ein solcher Ausstieg aussieht und zu vollziehen ist, könnten die
Regeln der größeren Kooperation definieren (naheliegenderweise, da sie ja
auch schon definieren, was eine "Ehe" ist). Wenn jetzt jemand diese Regeln
nicht mehr befolgen will, dann wird ihm nach freier Kooperation das Recht
zugestanden aus der größeren Kooperation auszutreten (bei Bezahlung des
Preises), so er die Ehe-regeln dort nicht ändern kann. Im Sinne freier
Kooperation wäre es dann, wenn die übergeordnete Kooperation einen Teil des
Preises, den sie von dem "Aussteiger" erhält an den anderen - in der
Oberkooperation verbleibenden Ehepartner - weitergibt. Aber das ist - wie
alles andere - natürlich auch weiterhin aushandelbar.

Wo ist da das Problem? Man darf halt nicht eine Kooperation aus dem ganzen
Netz von Kooperationen, in denen sich jeder Mensch befindet, herausziehen
und isoliert betrachten. Das muss zwangsläufig schief werden.

Ich gebe Dir allerdings recht, dass das Zusammenwirken verschiedener
Kooperationen auf unterschiedlichen Ebenen nicht immer so ausführlich
beschrieben wird und vielleicht auch erst noch "erforscht" werden muss.

Das gesamte Instrumentarium der Freien
Kooperation - z.B. Gewalteinsatz bei Verweigern von Verhandlungen -
kann und wird in solchen Fällen aufgefahren werden und die
Gesellschaft wird in ein Sammelsurium sich bekriegender Einzelner
zerfallen, die sich ungerechte Scheidungspreise vorhalten. Das
unterscheidet sich dann zwar ein wenig von heute, aber leider in die
negative Richtung :-( .

Nein, weil es ja durchaus übergeordnete Kooperationen geben kann, die das
auffangen. Bis hin zur gesamten Menschheit. Dann wird es allerdings mit dem
Austreten schwierig. Ausser natürlich man fördert die Raumfahrt. [ Kleiner
Insider am Rande: Na das wird Annette sicherlich freuen, dass sie damit ein
gutes Argument für die Förderung der Raumfahrt under den Bedingungen freier
Kooperation an die Hand kriegt ;-) ]

Diese Problem des "gerechten, mindestens aber zumutbaren Preises"
scheint mir fundamental. Christoph hat dies wohl als Rettungsanker
eingebaut, leider ist es im Rahmen der Freien Kooperation aber nur
eine gesellschaftliche Dynamitstange. Ich habe nicht das Gefühl, daß
dieser Defekt behebbar ist - ganz davon abgesehen, daß der Begriff
"Gerechtigkeit" nochmal zu klären wäre.

Natürlich ist der zu klären. Mit anderen Worten: Auszuhandeln unter den
Bedingungen freier Kooperation.

Und überhaupt ist ein Problem, daß die Grundlagen der Kooperation
jederzeit zur Disposition stehen. Zu Ende gedacht, kann das nur
heißen, daß es nur noch sofortigen 1:1-Tausch geben kann. JedeR, die
sich auf eine spätere Kompensation einer Leistung einläßt, begibt sich
in die Gefahr, daß die andere Partei zu diesem späteren Zeitpunkt die
Regeln nicht mehr akzeptiert und neu verhandeln will - oder einfach
geht...

Nein, weil es wie gesagt übergeordnete Kooperationen geben kann, die das
auffangen. Das geht allerdings bis hin zu "Märkten", die es tatsächlich nach
den Regeln freier Kooperation auch geben kann (aber nicht muss). Tausch ist
also nur eine Möglichkeit und wenn er denn mal nicht mehr nötig sein sollte,
dann wird er abgeschafft.

Nicht zufällig gerät das Konzept der Freien Kooperation in die
gleichen Schwierigkeiten wie auch der Liberalismus. Christophs Freie
Kooperation ist nämlich im Kern ein liberales Modell, das allerdings
ohne ein paar Sicherungen auszukommen versucht, die selbst die
Neoliberalen noch für notwendig halten.

"Libertär" statt Liberal würde es wohl eher treffen. 

Tatsächlich ist die Freie Kooperation ein bißchen weniger als die alte
bürgerliche Vertragsfreiheit. 

Nein, in der bürgerlichen Vertragsfreiheit sind ihre Bedingungen auf höherer
Ebene nämlich nicht verhandelbar oder nur unter sehr asymmetrischen
Bedingungen.

Alle sind frei miteinander zu
(ver)handeln und sie können als Ergebnis ihrer Verhandlungen einen
Vertrag abschließen. Wird bei den Bürgerlichen der Vertrag von einer
Partei gebrochen, so ist dies i.d.R. mit vorher verhandelten
Vertragsstrafen versehen bzw. durch einen Gesetzgebungsrahmen
geregelt. Zur Überwachung, als Schieds-Richter und für allgemeine
Rahmensetzungen gilt den Liberalen dabei der Staat als neutrale
Instanz. Im liberalen Ideal sind auch alle genauso gleichmächtig wie
in den oben erwähnten Voraussetzungen der Freien Kooperation.

Das ist allerdings ein Versprechen, das der Liberalismus zwar macht, aber
nicht nicht einlöst. Aber Du hast natürlich in einem ganz allgemeinen Sinn
recht. Die Freie Kooperation fordert die uneingelösten Versprechungen der
Aufklärung ein. Aber das gilt für jede emanzipatorische Theorie.

Völlig klar, daß eine Vergesellschaftung dann nur noch über den Tausch
funktionieren kann, und auch das Geld nicht überflüssig wird. 

Das steht nirgends. Tausch wird nur nicht ausgeschlossen.

Nur vor
einem solchen Hintergrund kann es dazu kommen, daß das Konzept eines
"vergleichbaren und vertretbaren" *Preises* überhaupt gedacht werden
kann. Nur wo der eindimensionale Wert des Geldes überhaupt vorliegt,
kann in solch komplizierten Gemengelagen wie der Auflösung von
Kooperationen von irgendetwas gesprochen werden, was einen Preis haben
kann. Völlig klar, daß z.B. menschliche Beziehungen in einem solchen
Preis keine Rolle spielen können. Geld regiert auch die Freien
Kooperationen.

Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Geld ist nur ein Faktor unter vielen,
der bei der Kooperationsauflösung berücksichtigt werden muss. Die Wortwahl
von "Preis" zu reden, mag ungeschickt sein. Wenn hier von "vergleichbar und
vertretbar" die Rede ist, dann liegt die Assoziation zu abstraktem Tausch
zwar nahe, ist aber IMHO falsch. Vergleichbar bedeutet nämlich nach meiner
Lesart: Vergleichbar innerhalb der konkreten Kooperation. Das kann über Geld
geregelt sein, muss aber nicht.

Da Geld jedoch die vielen Probleme hat, die wir ja alle kennen, wird es IMHO
in der Tendenz abgeschafft werden, weil es eben Leute gibt, die von seiner
Abschaffung profitieren würden und deshalb ihre tendenziell unter den
Bedingungen freier Kooperation steigende Verhandlungsmacht dafür einsetzen,
dass es abgeschafft wird. Der Vorteil gegenüber einer einfachen
Vorraussetzung, dass Geld nicht existiert liegt vor allem darin, dass man
freie Kooperation eben schon hier und heute als handlungsleitend verwenden
kann, was mit einer Utopie ala "GPL-Gesellschaft" (und wieder verwende ich
dieses Wort nur unter Protest ;-) nur sehr viel weniger funktioniert. 

Was Christoph jenseits der atomisierten Verfolgung je eigener
Interessen zugrunde legt, ist eine Sammlung von Moralvorstellungen und
Verhaltensvorschriften, die zwar jeder braven Linken das Herz wärmen,
deren Gültigkeit aber weder hergeleitet noch sonstwie begründet wird.
Als ob es nicht schon genug moralinsaure und durch und durch
idealistische Vorschläge gegeben hätte...

Das sind ganz materielle Vorschläge, wie es konkret aussehen kann, die
Bedingungen freier Kooperation herzustellen.

Die individuellen Interessen müssen in einer zeitgemäßen Utopie
tendenziell mit den gesellschaftlichen Interessen zusammenfallen. 

In diesem "tendenziell" liegen verdammt viele Probleme begraben, die Du
einfach igorierst und für die Freie Kooperation wenigstens versucht
Lösungen zu benennen.

Eine
heutige Utopie muß eine jenseits des Tausches sein oder sie ist keine.

Freie Kooperation ist ja auch keine Utopie im herkömmlichen Sinne. Das ist
auch ausführlich behandelt ab S. 31 im Text. Hast Du das nicht gelesen?

Bleibt die Frage, warum Christophs Paper so breit rezipiert und teils
geradezu enthusiastisch gefeiert wird. Kann das daran liegen, daß die
Freie Kooperation sich eben *nicht* aus dem Vorgefundenen
verabschiedet? 

Ja, sie ist hier und heute angesiedelt ohne die Perspektive zu leugnen. Das
ist aber nicht ihre Schwäche sondern ihre Stärke.

PS: Solltet ihr dies nicht über `liste oekonux.de' bekommen haben und
antworten wollen, so nehmt diese Adresse bitte ins `Cc:'.

Ich hab jetzt auch mal Christoph und Annette drinnengelassen, wenn ihr das
nicht wollt, sagt Bescheid, ok?

Grüße, Benni
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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