Message 03604 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT03604 Message: 1/47 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox] Zur Kritik der Freien Kooperation



[Weil die Liste gestern nicht lief, heute nochmal an alle.]

Liebe Liste, lieber Christoph,

da habe ich mir in den letzten Wochen endlich mal "Gleicher als Andere
- - Eine Grundlegung der Freien Kooperation" vorgenommen. Jenes Paper
von Christoph Spehr, das hier schon des öfteren erwähnt worden ist. Im
Internet als PDF unter

	http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Preis/rlspreis.pdf

Nun, um es vorwegzunehmen: Das Paper hat mich nicht sehr glücklich
gemacht. Anfangs habe ich mich darüber richtig geärgert, aber
mittlerweile hat sich das einigermaßen gelegt. Ich hoffe also, nicht
allzu polemisch zu schreiben.

Es kann natürlich sein, daß ich einige Dinge einfach nicht verstanden
habe. Dann bitte ich um Korrektur. Überhaupt wäre es ja vielleicht ein
hübscher Einstieg in eine Diskussion um Christophs Konzept der Freien
Kooperation.

Nicht verschweigen darf ich natürlich, daß meine Wahrnehmung heute vor
dem Hintergrund von zwei Jahren Oekonux erfolgt. Vieles habe ich vor
zwei Jahren noch ganz anders gesehen und vielleicht wäre das Paper
damals auch bei mir besser weggekommen. Aber es gibt (für mich) nun
mal die Oekonux-Erfahrung und den Reichtum an *wirklich* neuen
Gedanken, der hier so en-passant entwickelt wird, daß ich dahinter
zurückdenken weder kann noch will.

Ich habe eine Weile hin und her überlegt, wie ich meine Kritik anlegen
soll. Natürlich habe ich zahlreiche Notizen am Rand gemacht, aber eine
Kritik auf der Ebene einzelner Sätze fand ich letztendlich nicht
angemessen - obwohl sich das Folgende natürlich an x Stellen im Text
festmachen läßt. Ich habe mich dazu entschieden, meine Kritikpunkte in
mehrere Aspekte zu strukturieren. Ich garniere höchstens hier und da
mit Zitaten, die dann Mail-üblich gequotet sind.

Ebenfalls vorweg möchte ich anmerken, daß Christophs Beitrag die Frage
der Rosa-Luxemburg-Stiftung "Unter welchen Bedingungen sind soziale
Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?" beantworten sollte. Die
Frage finde ich an sich schon seltsam und reich an Voraussetzungen,
die zunächst erstmal zu klären wären. Insbesondere scheint mir - auch
gerade nach der Lektüre von Christophs Paper -, daß diese Fragen im
kapitalistischen Kontinuum von Bedeutung sind. Ja sie sind ja geradezu
die Geschäftsgrundlage einer (idealen) kapitalistischen Ordnung. Für
eine Utopie wie ich sie heute in Ansätzen denke, wären diese Fragen
aber tendenziell gegenstandslos, zumindest aber nicht mehr dominant.

Aber hier streife ich schon einzelne Kritikpunkte. Na denn, los
geht's... ...Haaalt! Vorher noch die Kurzfassung von dem, worum's
eigentlich geht:

S. 23:
Freie Kooperation, wie sie hier definiert wird, hat drei Bestimmungen.
Freie Kooperation liegt vor, wenn

- die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und
  die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein
  "höheres Recht" zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition
  stehen, d.h. von den Beteiligten der Kooperation jederzeit neu
  ausgehandelt werden können;

- alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre
  Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu
  nehmen;

- alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem
  vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können; d.h. dass der
  Preis dafür, die Kooperation zu verlassen bzw. die eigenen
  Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf
  jeden Fall zumutbar sein muss.


Kritik der Begriffsbildung
- --------------------------

Das ganze Paper zeichnet sich aus durch eine äußerst laxe Verwendung
von Begriffen. Alles wird mit möglichst wenigen Worten belegt, so daß
die Begriffe hinter den Worten völlig nebulös werden.

Den Vogel schießt die "erzwungene Kooperation" ab. Eine solche
Begriffsbildung kann es nur dann geben, wenn alles in der Welt eine
Kooperation sein muß. Tatsächlich werden auch absurdste Beispiele als
Kooperation oder als Verhandlung ausgegeben.

Das Prinzip des "Und willst du nicht ins Konzept passen, dann biege
ich dich eben rein" geht dann sogar soweit, daß auch die Kritik am
Konzept der Freien Kooperation darunter subsumiert wird.

S. 34:
Eine Gruppe weiterer Einwände, die gegen die Theorie der freien
Kooperation erhoben werden können, sind die, sie wäre
widersprüchlich, apodiktisch oder zirkulär. Widersprüchlich
bedeutet, dass Teile des Konzepts zu gegensätzlichen
Schlussfolgerungen führen. Apodiktisch bedeutet, was in der Logik
"tautologisch" heißt: Die Argumentation beruht auf den Definitionen,
die zu Anfang gemacht werden, auf "Setzungen". Wenn wir davon
sprechen, eine Theorie sei "zirkulär", dann meinen wir damit, dass
sie das von ihr behandelte Grundproblem nicht wirklich löst, sondern
nur auf eine andere Ebene verschiebt. Bezogen auf die Theorie der
freien Kooperation heißt der Einwand z.B.: Niemand kann für andere
objektiv entscheiden, ob eine Kooperation gut oder gerecht ist; aber
was ein vertretbarer und vergleichbarer Preis ist, diese Kooperation
zu kündigen oder einzuschränken, muss dann ja doch wieder
objektivierenden Verfahren zugänglich sein, oder es ist vollkommen
willkürlich.(28)

Diese Einwände lassen sich in der Tat nicht in Bausch und Bogen
zurückweisen oder widerlegen. Die Sache ist die, dass es keine
Theorie gibt, auf die sie nicht zuträfen.

Ah ja, und schon ist alles im großen Topf und das Konzept der Freien
Kooperation gerettet...

Lieber Christoph, daß Theorien ihre prinzipiellen Schwierigkeiten
haben, ist natürlich richtig - hätte eine Theorie es nicht, so wäre
sie die Weltformel. Daraus (kurz) zu schließen, daß alle Theorien
gleich (gut oder schlecht) sind ist natürlich Humbug. Eine Theorie
macht nur als Beschreibung einer Realität Sinn. Und eine Theorie ist
natürlich besser, wenn sie die Realität besser beschreiben kann - in
der Praxis: Wenn sie mehr eintreffende Voraussagen über real
beobachtbare Entwicklungen machen kann.

Andererseits ist es nicht verwunderlich, wenn Christoph mit dieser
Selbstbeschränkung keine großen Sprünge machen kann. Die Welt und mit
ihr menschliche Gesellschaften sind nun mal nicht einfach und schon
gar nicht mit einem Universalhammer zu erschlagen, als die sich die
Freie Kooperation anbietet. Ob dieser real existierenden Komplexität
mögen Vereinfachungen jeder Art zwar wohlfeil sein, zu einer
Problemlösung tragen sie aber nicht bei - eher im Gegenteil.


Kritik am linken Populismus
- ---------------------------

Als wäre das alles noch nicht genug, ist auch Christophs Schreibstil
für mein Gefühl nicht immer der größten Klarheit verpflichtet. Wahllos
werden Fragmente aus Funk, Fernsehen und Feminismus eingestreut. Ja,
daran kann die kleine linke RebellIn ohne viel Nachzudenken anknüpfen
und es stellt sich das wohlige Gefühl der allgemeinen Übereinstimmung
ein. Leider wird damit über so manche inhaltliche Leerstelle
drübergebügelt :-( .

Besonders heftig kommt dies im dritten Teil "Grundrisse einer Politik
der Freien Kooperation" vor. Hier wird ein Sammelsurium linker
Allgemeinplätze präsentiert, wo jedeR Linke nur zustimmend nicken
kann. Ob dieser Aufruf zum "Weiter so?", der zumindest in den Köpfen
der LeserInnen ankommt, wirklich so fortschrittlich ist?

An dieser Stelle vielleicht auch noch eine methodische Bemerkung.
Gerade nach der Oekonux-Erfahrung würde ich denken, daß eine moderne
(gesellschaftliche) Theorie heute nur noch in einem Internet-Diskurs
entwickelt werden kann. Das Internet bietet gerade für einen solchen
Diskurs ungeheure Möglichkeiten, die kein anderes Medium zu bieten
hat. Davon ist allerdings in dem Paper nichts zu spüren :-( .


Kritik der Perspektive
- ----------------------

Das gesamte Paper wie auch das Konzept der Freien Kooperation selbst
ist durchzogen von einer ganz bestimmten Weltsicht: Die Welt ist von
Herrschaft bestimmt. Nun ist Herrschaft sicher - zumindest im
Kapitalismus - eine wichtige Größe, daß sie die zentrale Größe ist,
mit der sich die Welt aus den Angeln heben läßt bzw. sich selbst hebt,
daran hege ich so meine Zweifel. Kurz gesagt finde ich diese Basis zu
schmal um eine gesellschaftliche Utopie zu begründen.

Aber es kommt noch dicker. Innerhalb dieser Herrschaftsperspektive
nimmt Christoph konsequent nur eine Seite ein: Die der Armen und
Entrechteten. Die gesamte Welt wird nur aus dem Blickwinkel der
Unterworfenen gesehen - oder denen, die sich selbst so sehen. Die
Sicht der Herrschenden wird konsequent ausgeblendet und aus einem
offensichtlich moralischen Hintergrund als nichtig betrachtet.
Tatsächlich kommen Herrschende immer nur vor, wenn es darum geht
irgendwelche Forderungen an sie zu richten.

Dies wird gepaart mit der Auswahl von Beispielen aus dem familiären
Bereich. Das Aufmacherbeispiel möchte ich hier komplett zitieren, da
es den gesamten Text durchzieht:

S. 5:
In einer Hütte lebten drei Bären, zwei große und ein kleiner. Die
großen Bären haben alles im Griff und wissen, wo es langgeht; aber der
kleine Bär ist uneinsichtig und eigensinnig. Die großen Bären nennen
ihn das "Prinzchen". Wenn die großen Bären ihn rufen, sagt der kleine
Bär "Nein" und kommt, sobald es ihm passt. Er will keine Suppe essen,
obwohl die gesund ist und gut schmeckt, sondern lieber Schinken.
Später, wenn die Suppe längst kalt ist, isst er sie dann plötzlich.
Zum Schlafen will er keinen Schlafanzug anziehen und möchte, dass das
Licht brennt. Die großen Bären lassen dem kleinen seinen Willen, aber
sie sind nicht zufrieden. Sie finden das nicht in Ordnung.

Die großen Bären gehen sich beim Bärentherapeuten Rat holen. (Ohne den
kleinen Bär, versteht sich.) Der Therapiebär sagt: "Na, kein Wunder!
Ich will euch mal ein Bild malen." Dann malt er ein Bild, auf dem der
kleine Bär eine Krone trägt und die großen Bären vor ihm auf den
Knieen liegen. "Genauso seid ihr", sagt der Therapiebär. "Hängt das
Bild zu Hause auf, und es wird euch helfen."

Die großen Bären hängen das Bild zuhause auf. Als der kleine Bär das
nächste Mal sagt: "Ich will jetzt nicht essen kommen!" sieht der eine
große Bär das Bild an und sagt mit fester Stimme: "Prinzchen, du
kommst sofort her, oder du gehst ins Bett!" Das schockt den kleinen
Bär. Der andere Bär will den kleinen Bär schon fragen, ob er lieber
was anderes essen will, da sieht er das Bild an der Wand und sagt:
"Basta. Wenn dir das hier nicht schmeckt - ab ins Bett." Im Bett heult
der kleine Bär, weil er das Licht anhaben will. Aber niemand kümmert
sich drum. Nach einer Weile bettelt der kleine Bär, dass er wenigstens
einen Gutenachtkuss haben will, sonst gar nichts. Den kriegt er dann.
Die großen Bären sind jetzt wieder sehr zärtlich und freundlich. Die
großen Bären sehen auf das Bild an der Wand, und sie sehen, wie sich
das magische Bild des Therapiebärs langsam verändert: Die Krone des
kleinen Bären verschwindet, und die großen Bären richten sich auf. Es
sieht fast so aus, als ob der kleine Bär lächelt.

So ist es gut!

Zu dieser Geschichte, die eine spezifische Familiensituation spiegelt,
in der es in keiner Weise um den Typ Macht und Ohnmacht geht, den wir
in gesellschaftlichen Prozessen ausmachen können, zu dieser Geschichte
nimmt Christoph nun völlig einseitig Stellung:

S. 5:
Diese Geschichte, entnommen dem Kindermagazin "Hoppla" des Weltbild
Verlags (1), ist ein typisches Stück demokratischer Propaganda. Sie
zeigt alle Muster und das ganze Grauen dieser Propaganda, wie sie
heute auf allen Gebieten üblich ist. Typisch sind, erstens, die
Fragen, die nicht gestellt werden: Woher nehmen die alten Bären das
Recht, dem kleinen Bären zu sagen, wann er ins Bett zu gehen hat und
ob er dabei Licht braucht? Wieso werden sie dadurch zu seinen
Untertanen, dass er beim Essen persönliche Geschmacksvorlieben hat?
Wem schadet er, weil er seine Suppe nicht essen will und wieso freuen
sie sich nicht, wenn er sie später doch essen will? Wer stellt mehr
Zumutungen an den anderen: der kleine Bär, dessen Zumutungen immer
auffallen, oder die alten Bären und ihre Welt, die unzählige Regeln,
Forderungen, Normen umfasst und eine einzige, gewaltige, polypenhafte
Zumutung an den kleinen Bären ausspricht: sich einzufügen und sie zu
akzeptieren, wie sie ist? Wieso wird ein Unterschied zwischen diesen
Zumutungen gemacht, je nachdem, in welche Richtung sie gestellt
werden; womit wird dieser Unterschied begründet oder gerechtfertigt?
Wer hat eigentlich wirklich die Macht: der kleine Bär, der in eine
Welt nachkommt, die ihm von anderen vorgesetzt wird, oder die alten
Bären, denen diese Welt gehört, die darüber verfügen, die sich selber
Essen machen können und die keine Angst im Dunkeln haben? Was bedeutet
das für die Situation des Konflikts?

So sympathisch eine solche Sicht auf die wirken mag, die sich selbst
(nur) in unterworfener Rolle wahrnehmen, so realitätsfern ist sie auf
der anderen Seite auch. Will mensch die Welt schon unbedingt durch die
Herrschaftsbrille sehen, so muß mensch konsequenterweise schon beide
Seiten in Betracht ziehen, denn sonst läuft das Ganze im Heute auf
eine einfache Beseitigung der je Herrschenden hinaus. Im Morgen hat
eine solche Utopie dann gar nichts mehr zu bieten, weil ihr Gegenstand
- - Herrschaft - dann nach eigener Annahme beseitigt ist.

Ein utopisches Konzept muß schon zwecks Analyse die Sicht der (heute)
Herrschenden mit einschließen. Ein Konzept muß mindestens die
Mechanismen in den Blick nehmen, die zu Herrschaft führen. Müßig zu
erwähnen, daß aus meiner Sicht das nicht ohne eine fundamentale
Kapitalismuskritik zu haben ist.


Kritik der Zweckmäßigkeit
- -------------------------

Vermutlich aus dieser einseitigen Perspektive auf die Underdogs kommt
auch ein ganz großes systematisches Problem: Was ist denn, wenn die
Herrschenden sich die Logik der Freien Kooperation zu eigen machen?

- die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und
  die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein
  "höheres Recht" zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition
  stehen, d.h. von den Beteiligten der Kooperation jederzeit neu
  ausgehandelt werden können;

Ja super! Das ist genau das, was die Neoliberalen uns seit Jahren
vormachen und bei ihnen Deregulierung heißt. Und natürlich wird es
auch ausgehandelt - glücklicherweise noch hier und da mit
Zwischenschichten und nicht direkt Betrieb gegen einzelneN
ArbeitnehmerIn (um nur einen Sektor zu nennen, wo (noch) nicht alles
individuell verhandelt wird).

- alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre
  Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu
  nehmen;

Auch da haben die Herrschenden kein Problem: "Entweder du tanzt nach
meiner Pfeife oder du kannst gehen. Wie? Du willst streiken? Dann gehe
ich eben selbst (nach Osteuropa z.B.)."

Zum "gleichen Preis" unten noch mehr. Hier soviel: Christophs Konzept
der Freien Kooperation ist voll mit dem heutigen Kapitalismus
kompatibel, ja es fordert letztlich lediglich eine weitere
Deregulierung. Die (Neo)liberalen wird's freuen.

Dieses ganze Konzept, das uns Christoph hier andienen will, hat einen
ganz entscheidenden Webfehler: Es funktioniert nur unter ganz engen
Bedingungen überhaupt. Zu diesen Bedingungen gehört u.a.:

* Daß die Verhandelnden ungefähr gleichmächtig sind.

  Sobald das Machtgefälle zu groß wird, hat die weniger Mächtige in
  der Freien Kooperation überhaupt keine Handhabe mehr - außer
  Abhauen.

* Daß die Verhandelnden wechselseitig aufeinander angewiesen sind.

  Denn nur dann haben sie überhaupt ein Problem damit sich aus dem
  Staub zu machen. Ist einer der Verhandelnden angewiesen und die
  andere nicht: Was sollte die Unabhängigere davon abhalten ihre Sache
  allein zu machen?

* Daß die Verhandelnden eine emotionale Bindung aneinander haben
  müssen.

  Das scheint mir an tausend Stellen die unausgesprochene Bedingung zu
  sein, daß es zwischen den Verhandelnden eine emotionale Bindung
  gibt, *aufgrund* derer sie sich nicht einfach trennen, *aufgrund*
  derer sie aufeinander angewiesen sind.

  Was in einer Liebesbeziehung gut und richtig ist, was in einer
  Familie und auch sicher in vielen alternativen Zusammenhängen oft
  nur noch Verstrickung genannt werden kann, das gibt es
  gesamtgesellschaftlich aber schlicht und ergreifend nicht.

Gerade wenn die Leute so atomisiert frei sind, wie Christoph es als
Ideal vorschwebt, gerade dann wenn sie so gleich sind, daß sie nicht
mehr wechselseitig aufeinander angewiesen sind, dann stehen sich
ausschließlich die puren Interessen gegenüber - nichts sonst. Und dann
kommt das dickste aller Problem erst richtig zum Zuge:

- alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem
  vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können; d.h. dass der
  Preis dafür, die Kooperation zu verlassen bzw. die eigenen
  Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu
  stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf
  jeden Fall zumutbar sein muss.

Mit (fast) keinem Wort erwähnt Christoph wie denn bestimmt wird, was
in einer je konkreten Situation ein "vergleichbarer und vertretbarer"
Preis ist. Eine gute Regel für Ehen - um mal auf Christophs familiäres
Terrain zu wechseln - ist ja bekanntlich, sich schon bei der
Eheschließung Gedanken über die Scheidung zu machen und sich über den
Preis der Scheidung dann zu einigen, wenn mensch sich noch freundlich
begegnet. Nicht mal das geht in der Freien Kooperation, denn es stehen
ja alle Vereinbarungen jederzeit zur Disposition

Na, das kann ja heiter werden, wenn's dann mal kracht... Dann ist die
Frage des Scheidungspreises nämlich die, die *dann* verhandelt werden
muß. Wie soll das gehen? Das gesamte Instrumentarium der Freien
Kooperation - z.B. Gewalteinsatz bei Verweigern von Verhandlungen -
kann und wird in solchen Fällen aufgefahren werden und die
Gesellschaft wird in ein Sammelsurium sich bekriegender Einzelner
zerfallen, die sich ungerechte Scheidungspreise vorhalten. Das
unterscheidet sich dann zwar ein wenig von heute, aber leider in die
negative Richtung :-( .

Diese Problem des "gerechten, mindestens aber zumutbaren Preises"
scheint mir fundamental. Christoph hat dies wohl als Rettungsanker
eingebaut, leider ist es im Rahmen der Freien Kooperation aber nur
eine gesellschaftliche Dynamitstange. Ich habe nicht das Gefühl, daß
dieser Defekt behebbar ist - ganz davon abgesehen, daß der Begriff
"Gerechtigkeit" nochmal zu klären wäre.

Und überhaupt ist ein Problem, daß die Grundlagen der Kooperation
jederzeit zur Disposition stehen. Zu Ende gedacht, kann das nur
heißen, daß es nur noch sofortigen 1:1-Tausch geben kann. JedeR, die
sich auf eine spätere Kompensation einer Leistung einläßt, begibt sich
in die Gefahr, daß die andere Partei zu diesem späteren Zeitpunkt die
Regeln nicht mehr akzeptiert und neu verhandeln will - oder einfach
geht...


Kritik "Alter Wein in neuen Schläuchen"
- ---------------------------------------

Nicht zufällig gerät das Konzept der Freien Kooperation in die
gleichen Schwierigkeiten wie auch der Liberalismus. Christophs Freie
Kooperation ist nämlich im Kern ein liberales Modell, das allerdings
ohne ein paar Sicherungen auszukommen versucht, die selbst die
Neoliberalen noch für notwendig halten.

Tatsächlich ist die Freie Kooperation ein bißchen weniger als die alte
bürgerliche Vertragsfreiheit. Alle sind frei miteinander zu
(ver)handeln und sie können als Ergebnis ihrer Verhandlungen einen
Vertrag abschließen. Wird bei den Bürgerlichen der Vertrag von einer
Partei gebrochen, so ist dies i.d.R. mit vorher verhandelten
Vertragsstrafen versehen bzw. durch einen Gesetzgebungsrahmen
geregelt. Zur Überwachung, als Schieds-Richter und für allgemeine
Rahmensetzungen gilt den Liberalen dabei der Staat als neutrale
Instanz. Im liberalen Ideal sind auch alle genauso gleichmächtig wie
in den oben erwähnten Voraussetzungen der Freien Kooperation.
Allerdings kommen die Liberalen ohne die emotionalen Bindungen aus und
setzen an ihre Stelle den staatlichen Gewaltapparat. Auch wenn das
nicht so schön klingt wie die allgemeine Verstrickung, die Christoph
als Voraussetzung braucht, so scheint mir das gerade in atomisierten
Gesellschaften, die auch die Freie Kooperation letztlich will, die
funktionierendere und auch ehrlichere Variante.

Die Freie Kooperation findet das alles überflüssig. Ein Vertrag in
einer solchen Kooperation ist ja das Papier nicht wert, auf dem er
niedergeschrieben ist, denn alle Vereinbarungen stehen ja jederzeit
zur Disposition. Jede Partei kann jederzeit die Auflösung der
Kooperation verlangen und dabei einen "vergleichbaren und
vertretbaren" Teil mitnehmen. Und dies wird nicht etwa als ein Defekt
des Konzepts angesehen, sondern von Christoph auch noch als ultimative
Regel angepriesen.


Fundamentalkritik
- -----------------

Folgerichtig kommt Christoph dann auch nicht aus den liberalen
Modellen heraus. Für ihn ist die Gesellschaft nichts weiter als eine
Ansammlung von atomisierten Individuen, die ihren je eigenen
Interessen nachgehen - und zwar im Kampf gegen alle anderen. Die
Atomisierung der Menschen, die uns der Kapitalismus bis zum Erbrechen
vorführt wird nicht etwas aufgehoben, sondern ein weiteres Mal als
natürlicher Zustand der Menschen hochgejubelt. Die Illusion der Freien
und Gleichen, die konstituierend für den Kapitalismus liberaler
Prägung ist, wird nicht etwa in Frage gestellt, sondern
verabsolutiert.

Völlig klar, daß eine Vergesellschaftung dann nur noch über den Tausch
funktionieren kann, und auch das Geld nicht überflüssig wird. Nur vor
einem solchen Hintergrund kann es dazu kommen, daß das Konzept eines
"vergleichbaren und vertretbaren" *Preises* überhaupt gedacht werden
kann. Nur wo der eindimensionale Wert des Geldes überhaupt vorliegt,
kann in solch komplizierten Gemengelagen wie der Auflösung von
Kooperationen von irgendetwas gesprochen werden, was einen Preis haben
kann. Völlig klar, daß z.B. menschliche Beziehungen in einem solchen
Preis keine Rolle spielen können. Geld regiert auch die Freien
Kooperationen.

Was Christoph jenseits der atomisierten Verfolgung je eigener
Interessen zugrunde legt, ist eine Sammlung von Moralvorstellungen und
Verhaltensvorschriften, die zwar jeder braven Linken das Herz wärmen,
deren Gültigkeit aber weder hergeleitet noch sonstwie begründet wird.
Als ob es nicht schon genug moralinsaure und durch und durch
idealistische Vorschläge gegeben hätte...

Eine Utopie, die den Rahmen des Tausches und der Atomisierung der
Menschen in Geldmonaden nicht überwindet, ist heute aber einfach nicht
mehr zeitgemäß. Bestenfalls kommt ein bißchen Rumdoktern am falschen
Alten heraus.

Die individuellen Interessen müssen in einer zeitgemäßen Utopie
tendenziell mit den gesellschaftlichen Interessen zusammenfallen. Eine
heutige Utopie muß eine jenseits des Tausches sein oder sie ist keine.


Fazit
- -----

Was uns Christoph hier - rhetorisch nicht ungeschickt aber auf Kosten
einer tragfähigen Begriffsbildung - verkaufen will, ist das
wohlbekannte liberale Modell mit ein bißchen
Political-Correctness-Schnickschnack. Er betrachtet die Welt
ausschließlich aus der Unterdrückten-Perspektive. Die einzige Lösung,
die die Freie Kooperation bietet, ist Verweigerung und Trotz als
Machtmittel zur Erzwingung eines Deals einzusetzen. Das Konzept
verabschiedet sich damit in keiner Weise von Macht oder Gewalt - die
hier und da sogar explizit erlaubt wird -, sondern beschränkt sich
darauf Machtmittel anzugeben, die nach Christophs Lesart wohl
Political Correct sind. Anstatt einer Überwindung von antagonistischen
Interessenkonflikten und dem einhergehenden Tauschprinzip und der
Atomisierung vergötzt Christoph genau diese Prinzipien - nun auch mit
dem Segen der Freien Kooperation.

Bleibt die Frage, warum Christophs Paper so breit rezipiert und teils
geradezu enthusiastisch gefeiert wird. Kann das daran liegen, daß die
Freie Kooperation sich eben *nicht* aus dem Vorgefundenen
verabschiedet? Kommt die Attraktivität daher, daß in schönen Worten
nochmal das Allzuvertraute aufgetischt wird? Oder liegt das daran, daß
in unserer utopienlosen Zeit, jede Utopie begierig aufgegriffen wird?
Na, da hat Oekonux aber Besseres zu bieten ;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Solltet ihr dies nicht über `liste oekonux.de' bekommen haben und
antworten wollen, so nehmt diese Adresse bitte ins `Cc:'.

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT03604 Message: 1/47 L0 [In index]
Message 03604 [Homepage] [Navigation]