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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



Hi KW und Liste!

Benni hat schon vieles beigetragen. Ein paar Gedanken noch.

Last week (7 days ago) KXX4493553 wrote:
zunächst einmal: der arme Chlebnikow, der übrigens ein schrecklich
erbärmliches Leben geführt hat (er hat sich u.a . mit dem Verfassen von
Kinderbüchern über Wasser zu halten versucht), wäre dir wahrscheinlich an die
Gurgel gesprungen, wenn er gehört hätte, er hätte eine Werbesprache schaffen
wollen.

Na, mir wäre er nicht an die Gurgel gesprungen, weil ich ihm das nicht
unterstellt habe.

Nein, nein, "Zaum" war die Suche nach einer Art Ursprache, nach einer
"poetisch reinen" Sprache, die aber gleichzeitig eine universale Sprache sein
sollte. Und Programmiersprachen sind auch universale Sprachen oder sollten es
zumindest sein- oder?

Und ist Werbung keine universale Sprache? Sollte doch zumindest so
sein - oder?

Aber vielleicht sind doch Poeten und InformatikerInnen Bewohner verschiedener
Planeten. Aber das liegt am unterschiedlichen Verständnis der Sprache:
Sprache ist in der Informatik eine "zweiwertige" Logik, Ja-Nein, Ein-Aus,
1-0, während Poesie mit Assoziationen, Homophonien (Gleichklängen), Rythmen,
Mehrdeutigkeiten arbeitet.

Klingt sehr nach Programmieren für mich... Und ich mache das schon
seit sagen wir 20 Jahren... Ja doch, am Anfang habe ich wirklich Bits
gehackt - stimmt. Aber selbst da war es schon Kunst.

Das, was ich heute mache, hat damit eigentlich nur noch dann zu tun,
wenn's nicht klappt. Ansonsten schnitze ich beruflich z.B. eher an
dem, was von manchen (großkotzig) Ontologie genannt wird. Klingt nicht
sehr nach 0/1 - oder?

Aber mit Mehrdeutigkeiten kann man keine Programme
schreiben, das ist klar.

So? Was sagen denn deine Prolog-Kenntnisse dazu?

Oder schon mal was von nichtdeterministischen endlichen Automaten
gehört? Die neuesten Entwicklungen bei den Quanten-Computern führen
Nichtdeterminismus gerade auf Quanten-Ebene auch ganz praktisch ein.
Wo hast du diese Aussage in dieser Gewissheit nur her?

Erst die Anwendung kann poetisch werden, wenn man
sie kreativ umsetzt (in der Musik machen das bspw. schon lange Pierre Boulez
oder andere, die sich mit elektronischer Musik beschäftigen. Aber gibt es
auch Informatiker, die komponieren?). Und Poeten hassen nun mal (in der
Regel) formale Logik.

Viele gute Poeten sind gerade Virtuosen *bei* der Anwendung formaler
Logik. Das von die angeführte "Gödel, Escher, Bach" hat mir da einige
Augen geöffnet. Schon vergessen? Z.B. Bach (denn ich BTW wegen der
Kopfigkeit seiner Musik gar nicht mag ;-) ).

Jede neue Bewegung tut immer so, als hätte sie das Rad neu erfunden, als
würde sie den "totalen Bruch" propagieren, als hätte es "das" vorher noch nie
gegeben, usw.

Wenn du uns auch in diesem Raster verortest, dann wirst du über das
Paper staunen, das ich in den nächsten Tagen stückweise hier poste.
Das ist exakt die andere Richtung, als du uns (incl. dir?)
unterstellst.

Die Avantgardebewegungen sind voll davon.

Ich hoffe, daß wir - Oekonux - noch nicht so verkommen sind.

Ich sehe doch, dass du die zwei Kulturen unbewusst doch noch
trennst, wenn du die vielen Querverbindungen zwischen technischen und
ästhetischen Fragestellungen übergehst.

Für mich sieht es mehr so aus, als das du die Kulturen trennst.
Nochmal: Ein ästhetisches Programm - also der Code, nicht die
Oberfläche - ist ein richtiges und gutes Programm. Und ich würde
behaupten, daß du als ProgrammiererIn genauso virtuos mit deinem
Material umgehen kannst, wie z.B. als MalerIn - vielleicht sogar noch
viel mehr. Und andere können das sehen. Oder streitest du ab, daß es
da eine Ästhetik geben kann?

ich wäre
sogar dankbar, wenn jemand aus dem Oekonux-Umkreis und/oder aus dem
"Sympathisantenumfeld" ein Buch schreiben würde, das in etwa Benjamins "Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" gleichen würde,
zumindest was das theroetische Niveau angeht und die Schärfe der Analyse.

Na, dann ein OT-Projekt aufgemacht und los. Wer sollte das sonst tun
außer dir?

Und letztlich geht's ja nicht nur um das Erfinden neuer Quellcodes, oder? Es
geht um ein neues Gesellschaftsverständnis,neue Vergesellschaftungsformen
(was soll GPL-Gesellschaft sonst sein), neue Formen der Verbindung von
Kollektivität und Individualität usw. usf. Also das, was man heute
"lifestyle" nennt, ein sehr verkürzter Begriff, aber ich verfüge jetzt über
keinen besseren.

Diese Verkürzung ist so stark, daß sie mächtig in die Irre führt :-( .

Und darum, dass man die "Prinzipien freier Software" auf
ALLE Gesellschaftsbereiche anwendbar machen will, also auch für Tischler,
Gärtner, Friedhofswärter und halt eben auch Geisteswissenschaftler attraktiv
wird.

Es fällt auf, wie du dich auf HandwerkerInnen und
GeisteswissenschaftlerInnen zurückziehst.

Ich kenne GeisteswissenschaftlerInnen, die Computer benutzen. Ich habe
auch von solchen gehört, die Informationsgüter herstellen. Die fallen
also ganz zwanglos und sehr direkt in die Bereiche, die am einfachsten
in Freiheit gedeihen können.

Und die HandwerkerInnen jenseits des Spaßes - die Maloche also -, die
würde ich wirklich gerne abschaffen. Und die Entwicklung ist da ja
auch schon recht weit, wenn du dir anschaust, mit was für einem
Maschinenpark die heute anrücken. Noch ein paar universelle Roboter
dazu und die können sich auf's Steuern beschränken.

Was man als Tischler, Gärtner oder Friedhofswärter allerdings nicht so
ganz versteht, ist eben, was die Patentierbarkeit von Software mit Tischlern,
Gärtnern und Friedhofspflege zu tun hat. Da habt ihr noch ein
"Vermittlungsproblem".

Ich nicht. Hartmut hat da vielleicht eins.

So weit ich das verstanden habe - und ich kenne junge Leute in meiner
Bekanntschaft, die das praktizieren, aber einem nicht recht erklären können
-, ist Free Software so eine Art Gegenkultur im marcusischen Sinne, wo man
seine eigenen Regeln, seinen eigenen Verhaltenskodex etc. entwickelt hat

Ich würde es kurz und knapp als eine Subkultur bezeichnen. Allerdings
eine Subkultur, die *sehr* nahe an der Dominanzkultur ist.

und
so eine Art ideologischen Überbau für die theoretisierende Fraktion, der sich
aber bei genauem Hinsehen auf ein paar Texte von Raymond, Stallman oder auch
Merten und Meretz reduzieren lässt.

Nun, zwischen ersteren und letzteren gibt es schon ein paar
Unterschiede, die dir bei der Lektüre wohl kaum entgangen sind.

So ähnlich, wie ein Autonomer in der
Regel nie eine Zeile Marx gelesen hat, sich aber irgendwie "antideutsch",
"links" oder sonstwie definiert,

Mich mit Autonomen in einen Topf zu werfen, nehme ich dir allerdings
wirklich persönlich übel >-( .

benötigen offenbar viele Free Software-Leute nicht mal das, sie klinken sich
aus der Restgesellschaft aus, entwickeln Programme, um ihren Freunden einen
Gefallen zu tun oder aus Spaß an der Freud, lehnen Drogen jeglicher Art ab,
sind für "Normalos" total ungesellig und unansprechbar und wollen einfach
"mit dem Rest der Welt" nichts mehr zu tun haben. Oder sind das Extremfälle?

Ich kenne jedenfalls keinen einzigen solchen. Wer erzählt denn so was?

Ausklinken? Quark?

Drogen ablehnen? Warum das denn?

Ungesellig und unansprechbar? Warst du mal auf dem LinuxTag? Hattest
du *diesen* Eindruck? Vielleicht bin ich ja einfach nur zu
betriebsblind, aber die Leute, die ich kenne und die Freie Software
mögen, sind gewöhnlich sehr liebe Leute, die von einer Idee begeistert
sind und gerne anderen helfen. Als InformatikerInnen können sie kaum
anders, als einen normalen Beruf zu haben oder ein Studium zu
absolvieren, das ihnen in dieser Hinsicht viele Türen öffnet.

Nee, also Ausklinken ganz bestimmt nicht. Das finde ich ja gerade eine
der Stärken, daß sie das nicht tun!

Es soll ja heute noch Hippies geben, die in irgendwelchen entlegenen Tälern
Kaliforniens in ihrem Hüttchen Cannabis anbauen und spirituelle Wochenenden
in der Schwitzhütte anbieten. Oder heute noch vom "Geist von Woodstock"
schwärmen. Wird das das Schicksal auch der jungen Leute sein, die sich
ausklinken, aber eben auch in der Gefahr stehen, den Anschluss an die
"Restgesellschaft" irgendwann endgültig zu verpassen? Ich gebe nur wieder,
was ich vereinzelt beobachtet habe, weil man ja nie genau weiß, was die
treiben, die nicht zu Kongressen gehen, sich nicht an opentheory beteiligen,
aber doch "irgendwie" sympathisieren und den "Geist einatmen". Was ich hier
lese, sind die offiziellen Verlautbarungen. Aber was machen die Leute
wirklich, wenn sie vor/hinter ihrem Computer hängen? Das ist doch die
entscheidende Frage...

Das ist eben nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage
ist tatsächlich nach denen, die öffentlich wirksam sind. Menschen, die
in irgendwelchen Programmierbunkern möglichst noch an abgelegenen
Orten sitzen und nach außen nicht wahrgenommen werden, sind einfach
uninteressant für die Bewegung und für die Welt.

Nur wer sich auf die Welt einläßt kann sie verändern - und genau das
tuen Leute in der Freien-Software-Bewegung im besten Sinne.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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