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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



Lieber Stefan & al.,

zunächst einmal: der arme Chlebnikow, der übrigens ein schrecklich 
erbärmliches Leben geführt hat (er hat sich u.a . mit dem Verfassen von 
Kinderbüchern über Wasser zu halten versucht), wäre dir wahrscheinlich an die 
Gurgel gesprungen, wenn er gehört hätte, er hätte eine Werbesprache schaffen 
wollen. Nein, nein, "Zaum" war die Suche nach einer Art Ursprache, nach einer 
"poetisch reinen" Sprache, die aber gleichzeitig eine universale Sprache sein 
sollte. Und Programmiersprachen sind auch universale Sprachen oder sollten es 
zumindest sein- oder? Da liegt die Parallele. Aber das war eine im Wortsinn 
"brotlose Kunst", denn Chlebnikow ist schlicht- verhungert.

Aber vielleicht sind doch Poeten und InformatikerInnen Bewohner verschiedener 
Planeten. Aber das liegt am unterschiedlichen Verständnis der Sprache: 
Sprache ist in der Informatik eine "zweiwertige" Logik, Ja-Nein, Ein-Aus, 
1-0, während Poesie mit Assoziationen, Homophonien (Gleichklängen), Rythmen, 
Mehrdeutigkeiten arbeitet. Aber mit Mehrdeutigkeiten kann man keine Programme 
schreiben, das ist klar. Erst die Anwendung kann poetisch werden, wenn man 
sie kreativ umsetzt (in der Musik machen das bspw. schon lange Pierre Boulez 
oder andere, die sich mit elektronischer Musik beschäftigen. Aber gibt es 
auch Informatiker, die komponieren?). Und Poeten hassen nun mal (in der 
Regel) formale Logik. 

Jede neue Bewegung tut immer so, als hätte sie das Rad neu erfunden, als 
würde sie den "totalen Bruch" propagieren, als hätte es "das" vorher noch nie 
gegeben, usw. Die Avantgardebewegungen sind voll davon. Jeder weiß, das das 
teilweise durchaus stimmt, aber zu großen Teilen eben auch schlichte 
Flunkerei ist. Ja, ich hätte natürlich auch bei Adam und Eva beginnen können 
(das Essen vom Baum der Erkenntnis war sicher sehr kreativ), aber ich  wollte 
mich eben doch auf das 20. Jahrhundert beschränken, meine Liste wäre sonst 
noch viel länger geworden, und da hättest du erst Recht Beschwerde eingelegt, 
lieber Stefan. Ich sehe doch, dass du die zwei Kulturen unbewusst doch noch 
trennst, wenn du die vielen Querverbindungen zwischen technischen und 
ästhetischen Fragestellungen übergehst. Künstler und 
Schriftsteller/Philosophen (und nicht viele waren auch mathematisch begabt, 
wie Wittgenstein oder Musil) haben sich jedenfalls viel mehr von neuen 
technischen Entwicklungen inspirieren lassen, als umgemerkt Techniker von 
Künstlern. Und das muss doch nicht so bleiben, oder? Und noch eines: ich wäre 
sogar dankbar, wenn jemand aus dem Oekonux-Umkreis und/oder aus dem 
"Sympathisantenumfeld" ein Buch schreiben würde, das in etwa Benjamins "Das 
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" gleichen würde, 
zumindest was das theroetische Niveau angeht und die Schärfe der Analyse. 
Benjamin ging's seinerzeit darum, dass er Parallelen sah zwischen den damals 
neuen Filmtechniken (etwa Schnittechnik, Überblendung, Tonfilm) und der 
damals heraufziehenden faschistischen Ästhetik als "Ornament der Massen", und 
der Ausdruck "Ästhetisierung der Politik" stammt ja schließlich aus diesem 
Buch.
Damit sollten sich nicht nur Germanisten, Literaturwissenschaftler oder 
Filmhistoriker abgeben.

Und letztlich geht's ja nicht nur um das Erfinden neuer Quellcodes, oder? Es 
geht um ein neues Gesellschaftsverständnis,neue Vergesellschaftungsformen 
(was soll GPL-Gesellschaft sonst sein), neue Formen der Verbindung von 
Kollektivität und Individualität usw. usf. Also das, was man heute 
"lifestyle" nennt, ein sehr verkürzter Begriff, aber ich verfüge jetzt über 
keinen besseren. Und darum, dass man die "Prinzipien freier Software" auf 
ALLE Gesellschaftsbereiche anwendbar machen will, also auch für Tischler, 
Gärtner, Friedhofswärter und halt eben auch Geisteswissenschaftler attraktiv 
wird. Was man als Tischler, Gärtner oder Friedhofswärter allerdings nicht so 
ganz versteht, ist eben, was die Patentierbarkeit von Software mit Tischlern, 
Gärtnern und Friedhofspflege zu tun hat. Da habt ihr noch ein 
"Vermittlungsproblem". 

So weit ich das verstanden habe - und ich kenne junge Leute in meiner 
Bekanntschaft, die das praktizieren, aber einem nicht recht erklären können 
-, ist Free Software so eine Art Gegenkultur im marcusischen Sinne, wo man 
seine eigenen Regeln, seinen eigenen Verhaltenskodex etc. entwickelt hat und 
so eine Art ideologischen Überbau für die theoretisierende Fraktion, der sich 
aber bei genauem Hinsehen auf ein paar Texte von Raymond, Stallman oder auch 
Merten und Meretz reduzieren lässt. So ähnlich, wie ein Autonomer in der 
Regel nie eine Zeile Marx gelesen hat, sich aber irgendwie "antideutsch", 
"links" oder sonstwie definiert, 
benötigen offenbar viele Free Software-Leute nicht mal das, sie klinken sich 
aus der Restgesellschaft aus, entwickeln Programme, um ihren Freunden einen 
Gefallen zu tun oder aus Spaß an der Freud, lehnen Drogen jeglicher Art ab, 
sind für "Normalos" total ungesellig und unansprechbar und wollen einfach 
"mit dem Rest der Welt" nichts mehr zu tun haben. Oder sind das Extremfälle? 
Es soll ja heute noch Hippies geben, die in irgendwelchen entlegenen Tälern 
Kaliforniens in ihrem Hüttchen Cannabis anbauen und spirituelle Wochenenden 
in der Schwitzhütte anbieten. Oder heute noch vom "Geist von Woodstock" 
schwärmen. Wird das das Schicksal auch der jungen Leute sein, die sich 
ausklinken, aber eben auch in der Gefahr stehen, den Anschluss an die 
"Restgesellschaft" irgendwann endgültig zu verpassen? Ich gebe nur wieder, 
was ich vereinzelt beobachtet habe, weil man ja nie genau weiß, was die 
treiben, die nicht zu Kongressen gehen, sich nicht an opentheory beteiligen, 
aber doch "irgendwie" sympathisieren und den "Geist einatmen". Was ich hier 
lese, sind die offiziellen Verlautbarungen. Aber was machen die Leute 
wirklich, wenn sie vor/hinter ihrem Computer hängen? Das ist doch die 
entscheidende Frage...

Kurt-Werner Pörtner
 
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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