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[ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



Ich habe im Folgenden einige Zitate zusammengestellt, die m. E. die 
FS-Bewegung in einen geschichtlichen Zusammenhang rücken. Es geht da um die 
russische (sowjetische) Kunst- Avantgarde vor, während und nach der 
Oktoberrevolution. Parallelen und Unterschiede zur FS- und Oekonux-Bewegung 
sind m. E. nicht rein zufällig, der Unterschied besteht wohl in erster Linie 
darin, dass es hier um Kunst- und "Geistes"-Geschichte geht, währenddessen 
InformatikerInnen als "Avantgarde" in der Tat ein historisches Novum sind. 
Früher gingen neue Ideen und Bewegungen eben von anderen Trägern und 
Ausdrucksmedien aus, aber das historisch Neue folgt bestimmten historischen 
Gesetzmäßigkeiten, aus denen sich FS/Oekonux eben auch nicht einfach 
"ausklinken" kann, auch wenn manche Protagonisten diesen Eindruck haben oder 
diesen Eindruck erwecken wollen.

Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch von Boris Groys "Gesamtkunstwerk 
Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion", Hanser Verlag, 
München/Wien 1988. Groys ist ein russischer Kulturhistoriker und auf die 
Kunstgeschichte während der Sowjet-Ära spezialisiert. Mitunter geht einem 
sein "antitotalitärer" Affekt mächtig auf die Nerven, und "Materialismus" ist 
für ihn mehr oder weniger ein Schimpfwort, nichtsdestotrotz ist er als 
Informationsquelle zumindest recht gut brauchbar, wenn man sich über 
sowjetische Kunstgeschichte informieren will. Wie gesagt, Ähnlichkeiten mit 
neueren Entwicklungen sind m. E. nicht ganz zufällig, aber die entsprechenden 
Parallelen zu ziehen überlasse ich dem Leser.

Aus "Die russische Avantgarde: Der Sprung über den Fortschritt" (S. 19 ff.):
"Die Kunst der klassischen Avantgarde - so auch der russischen - ist 
natürlich viel zu komplex, als daß sie sich vollständig in eine einzige 
Formel fassen ließe; trotzdem kann man wohl ohne unzulässige Vereinfachung 
behaupten, ihr grundsätzliches Pathos liege in der Forderung, von der 
Darstellung der Welt zu ihrer Umgestaltung fortzuschreiten. Die 
jahrhundertelange Bereitschaft der europäischen Künstler, die äußere 
Wirklichkeit liebevoll zu kopieren - ihr Streben nach einer immer perfekteren 
Mimesis (d. h. Nachahmung, kwp) -, basierte auf der Begeisterung für die 
Natur als einheitlicher und in sich geschlossener Schöpfung Gottes, die der 
Künstler nur kopieren muß, wenn er die eigene der göttlichen so weit wie 
möglich annähern will. Im Laufe des europäischen 19. Jahrhunderts führte das 
forcierte Eindringen der Technik und der dadurch hervorgerufene Zerfall des 
gewohnten ganzheitlichen Weltbildes allmählich zum Erlebnis vom Tod Gottes 
oder, genauer, von seiner Ermordung durch die neue technisierte Menschheit... 
(es) öffnete sich der Horizont der irdischen Existenz, und hinter der 
Vielfalt der sichtbaren Formen der Welt tat sich das schwarze Chaos auf - die 
Unendlichkeit möglicher Formen kosmischen Lebens, in der sich alles Gegebene, 
Realisierte und Ererbte jederzeit restlos auflösen konnte.
Zumindest für die russische Avantgarde kann man mit Sicherheit behaupten, daß 
ihre gesamte künstlerische Praxis Reaktion auf dieses bedeutsamste Ereignis 
der neuzeitlichen europäischen Geschichte ist. Ihr Motiv war keineswegs, wie 
das oft angenommen wird, die Begeisterung für den technischen Fortschritt 
oder blindes Vertrauen in ihn... Ihr Ziel war vor allem, die zerstörerische 
Wirkung der neuen Technik zu kompensieren, zu neutralisieren, keineswegs 
wollte sie selbst zerstören. Sie folgte nicht nihilistischen, zersetzenden 
Impulsen... Der Unterschied zwischen der Avantgarde und dem Traditionalismus 
liegt nicht in der Freude der ersteren über die verheerende Wirkung des 
modernen technischen Rationalismus, sondern in ihrer Überzeugung von der 
Unmöglichkeit, diesen Zerstörungen mit traditionellen Methoden zu begegnen. 
Wenn die Avantgarde der Maxime Nietzsches folgt, "das Fallende zu stoßen", so 
nur aus der festen Überzeugung von der Unmöglichkeit, es vor dem Absturz zu 
bewahren..."

Malewitsch (S. 20 ff.)
"Ein gutes Beispiel für diese Strategie der Avantgarde ist die künstlerische 
Praxis von Kasimir Malewitsch, der in seiner Schrift "Über die neuen Systeme 
in der Malerei" (1919) schreibt: "Alle schöpferische Kraft, sei es der Natur, 
des Künstlers oder auch eines beliebigen schöpferischen Menschen, liegt in 
der Erfindung einer Methode zur Überwindung unseres unendlichen 
Fortschritts." So äußert sich der Avantgardismus von Malewitsch also 
keineswegs in dem Wunsch, zur Avantgarde des Fortschritts zu gehören: der 
Fortschritt führt für ihn ins Nichts und ist daher vollkommen sinnlos. Die 
einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, liegt für Malewitsch darin, ihn zu 
überholen, ihm vorauszueilen und aus dieser Position heraus einen Stützpunkt 
zu finden oder eine Verteidigungslinie, die gegen den herannahenden 
Fortschritt zu behaupten ist. Der Prozeß der Zerstörung und der Reduktion muß 
bis zu Ende geführt werden, um das Irreduzible, außerhalb von Raum, Zeit und 
Geschichte Stehende zu finden, an dem man festhalten könnte.
Dieses Irreduzible war für Malewitsch das "Schwarze Quadrat", das zum lange 
Zeit bekanntesten Symbol der russischen Avantgarde wurde. Das Schwarze 
Quadrat ist gewissermaßen ein transzendentes Bild - das Resultat der 
Reduktion jedes beliebigen konkreten Bildinhalts, ein Zeichen für die reine 
Form der Anschauung durch ein transzendentes, nicht-empirisches Subjekt. 
Gegenstand dieser Anschauung ist für Malewitsch das absolute Nichts (dem aus 
seiner Sicht jeder Fortschritt zustrebt), das Nichts, das mit der kosmischen 
Urmaterie zusammenfällt oder, anders gesagt, mit der sich jenseits einer 
beliebigen gegebenen Form öffnenden reinen Potentialität jeglicher möglichen 
Existenz. Seine suprematistischen Bilder, Resultate der Zerlegung jener 
ursprünglichen Form des Schwarzen Quadrats nach rein logischen, 
nicht-irdischen Gesetzen, beschreiben für den Künstler die "ungegenständliche 
Welt", die auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die Welt der sinnlich 
wahrnehmbaren Formen..."

Chlebnikow (S. 23)
"Malewitschs Auffassung von der Kunst... ist typisch für die Zeit und bei ihm 
nur besonders radikal ausgeprägt. So postulierte ein anderer führender 
Vertreter der russischen Avantgarde, der Dichter Welimir Chlebnikow, hinter 
den gewohnten Formen der Sprache verberge sich eine rein phonetische, die 
sogenannte "Zaum"-Sprache, die in verdeckter und magischer Weise auf den 
Hörer oder Leser wirke, und er nahm sich vor, diese "Sprache des Unbewußten", 
wie Malewitsch sagen würde, zu rekonstruieren und sich ihrer bewußt zu 
bedienen. Wie dessen Suprematismus beanspruchte auch die phonetische 
"Zaum"-Sprache Chlebnikows, die in der Überwindung gewohnter sprachlicher 
Formen damals (und vielleicht auch heute) alles übrige übertraf, für sich 
Universalität und die Möglichkeit, die ganze Welt auf der neuen 
Laut-Grundlage zu organisieren. Chlebnikow nannte sich den "Vorsitzenden des 
Erdballs" und den "König der Zeit", denn er glaubte, Gesetze gefunden zu 
haben, die die Zeiten trennen und das Alte vom Neuen scheiden, wie man im 
Raum etwas trennen kann: somit erhalte die Avantgarde die Macht über die Zeit 
und unterwerfe dieser Macht die ganze Welt."

Die rote Agitation (S. 25ff.)
"Wenn für Malewitsch das Erreichen des absoluten Nullpunkts und die 
Errichtung einer neuen Welt, in der die neue "weiße Menschheit" (sic!) von 
allen Vorstellungen der früheren Welt gereinigt, ihre alten Behausungen 
verlassen und auf suprematistische "Planiten" übersiedeln sollte, noch eine 
Sache der künstlerischen Phantasie war, so hielt nach der Oktoberrevolution 
von 1917 und den ersten beiden Bürgerkriegsjahren nicht nur die russische 
Avantgarde, sondern praktisch die gesamte Bevölkerung des ehemaligen 
Russischen Reiches diesen Nullpunkt vollkommen zu Recht für in der 
Wirklichkeit nun erreicht. Das Land war bis auf den Grund ruiniert, die 
normale Lebensvorstellung außer Kraft gesetzt, die Wohnungen zum Leben 
ungeeignet, die Ökonomie fast auf den Urzustand zurückgekehrt: die 
traditionellen gesellschaftlichen Bande waren zerfallen, und das Leben nahm 
allmählich Züge eines Krieges aller gegen alle an. Nach der berühmten 
Bemerkung Andrej Belyis "führte der Sieg des Materialismus in Rußland zum 
völligen Verschwinden jeglicher Materie aus dem Land", so daß der 
Suprematismus die allen offensichtliche Wahrheit nicht mehr lange beweisen 
mußte, die Materie als solche sei - nichts. Es sah so aus, als sei die Zeit 
der Apokalypse da, und die avantgardistisch-formalistische Theorie des 
"Umbruchs", der die Dinge aus ihren normalen Beziehungen löst und damit 
"verfremdet", ihre Wahrnehmung deautomatisiert und sie auf besondere Weise 
"sichtbar" macht, verwandelte sich von einer Begründung der 
avantgardistischen künstlerischen Praxis in einen Kommentar der alltäglichen 
Erfahrung des russischen Normalbürgers.
Die russische Avantgarde sah in dieser einzigartigen historischen Situation 
nicht nur die zweifelsfreie Bestätigung ihrer theoretischen Konstruktionen 
und künstlerischen Intuitionen, sondern auch eine einmalige Chance zu ihrer 
Umsetzung in die Praxis. Ein großer Teil der bildenden Künstler und Literaten 
der Avantgarde bekundete sofort seine volle Unterstützung für die neue 
bolschewistische Staatsmacht und übernahm, während die Intelligenz im Ganzen 
dieser Macht ablehnend gegenüberstand, eine Reihe von Schlüsselpositionen in 
den neuen, zur zentralen Leitung des gesamten kulturellen Lebens des Landes 
geschaffenen Organen. Dieser Durchbruch der Avantgarde zur politischen Macht 
resultierte nicht aus einer opportunistischen Haltung und dem Streben nach 
persönlichem Erfolg, sondern ergab sich unmittelbar aus dem Wesen ihres 
künstlerischen Projekts...
Doch 1919, als Alexander Rodschenko und seine Gruppe das neue Programm des 
Konstruktivismus vorlegten, war der Enthusiasmus noch ungebrochen und die 
Avantgarde überzeugt, die Zukunft in der Hand zu haben. Rodschenko, Wladimir 
Tatlin und die anderen Konstruktivisten sagten sich los von jeglicher 
kontemplativen Einstellung... und erklärten das Kunstwerk als selbstgenügsam, 
autonom und mit der äußeren Wirklichkeit in keinerlei mimetischem 
Zusammenhang stehend. Zum Vorbild des konstruktivistischen Kunstwerks wählte 
man die Maschine, die sich nach ihrem eigenen Gesetz bewegt. Im Unterschied 
zur Industrie-Maschine wurde die "Kunst-Maschine" seitens der 
Konstruktivisten zumindest zu Beginn noch nicht unter utilitaristischen (d. h 
. zweckmäßigen, kwp) Vorzeichen konzipiert: sie sollte als autonome Maschine 
gemäß der ursprünglich formalistischen Ästhetik der Konstruktivisten den 
Charakter des Materials,  aus dem sie konstruiert ist, sowie ihre 
konstruktive Natur zeigen: sie sollte, wenn man so will, die "Maschine des 
Unbewußten" offenlegen, die in der utilitarischen Maschine ebenso verborgen 
ist wie im traditionellen Gemälde mit seiner Einstellung auf den Transport 
eines "bewußten" Inhalts. Die Konstruktivisten selbst betrachteten ihre 
Konstruktionen nicht als selbstgenügsame Kunstwerke, sondern als Modelle der 
Neuorganisation der Welt, als vorläufige Entwürfe eines Gesamtplans zur 
Aneignung des Welt-Materials - daher ihre Liebe zu heterogenen Materialien 
und ihrer Verwendung innerhalb eines einzigen Werks, daher die Vielfalt ihrer 
Projekte, die die verschiedensten Aspekte menschlicher Tätigkeit umfaßten und 
diese einem durchgängigen künstlerischen Prinzip gemäß zu unifizieren 
suchten."

Widerstand gegen und Niedergang der Avantgarde (S. 29):
"Immer hartnäckiger kombinierten die bildenden Künstler, Dichter, 
Schriftsteller und Publizisten der Avantgarde ästhetische mit politischen 
Anschuldigungen und forderten damit die Staatsgewalt  offen zu Repressionen 
gegen ihre Opponenten auf. Doch in dem Maße, wie die Stabilität des 
sowjetischen Systems immer augenscheinlicher wurde und weiteste Kreise der 
Intelligenz, die den Bolschewiki zunächst feindlich gesonnen waren, zu deren 
Unterstützung übergingen, was natürlich begrüßt wurde, schrumpfte die Basis 
der Avantgarde unaufhaltsam. Beginnend mit der Einführung der "Neuen 
Ökonomischen Politik" (NÖP) entstanden im Lande ein neuer Kunstmarkt und eine 
neue Lesernachfrage seitens der neuen NÖP-Bourgeoisie, der  die Avantgarde 
ästhetisch und starker noch politisch fremd war. Eben in der NÖP-Zeit, also 
von 1922 an, und nicht etwa in den dreißiger Jahren beginnt der Niedergang 
der Avantgarde-Bewegung, die Ende der zwanziger Jahre, wenn sie auch in 
äußerst bescheidenem Maßstab weiter existiert, jeglichen Einfluß verliert. In 
jener Zeit entstanden neue künstlerische Vereinigungen wie die AChRR 
(Assoziation der Künstler des revolutionären Rußland) oder die RAPP 
(Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller), die traditionelle 
künstlerische Verfahren und die Losung "Von den Klassikern lernen" mit 
avantgardistischer Rhetorik und der Technik verbanden, den Gegner als 
politischen Konterrevolutionär zu brandmarken, was ihnen die wachsende 
Unterstützung der Partei einbrachte. Gleichzeitig entstanden die 
literarischen und bildnerischen Gruppen der Mitläufer, die ebenfalls großen 
Einfluß hatten und in denen - besonders in der bildenden Kunst, in solchen 
Gruppen wie "OST" und "Bytie" - die Jugend eine wichtige Rolle spielte: Sie 
ließ sich nicht so leicht von den Beschwörungen der Avantgarde einschüchtern 
und strebte auf der Suche nach neuen Absatzmärkten für ihre künstlerische 
Produkton danach, im Rahmen der gewohnten Form des Tafelbildes traditionelle 
und avantgardistische Verfahren zu verbinden." 

Kurt-Werner Pörtner
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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