[ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute
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- Date: Thu, 12 Jul 2001 09:07:29 EDT
Ich habe im Folgenden einige Zitate zusammengestellt, die m. E. die
FS-Bewegung in einen geschichtlichen Zusammenhang rücken. Es geht da um die
russische (sowjetische) Kunst- Avantgarde vor, während und nach der
Oktoberrevolution. Parallelen und Unterschiede zur FS- und Oekonux-Bewegung
sind m. E. nicht rein zufällig, der Unterschied besteht wohl in erster Linie
darin, dass es hier um Kunst- und "Geistes"-Geschichte geht, währenddessen
InformatikerInnen als "Avantgarde" in der Tat ein historisches Novum sind.
Früher gingen neue Ideen und Bewegungen eben von anderen Trägern und
Ausdrucksmedien aus, aber das historisch Neue folgt bestimmten historischen
Gesetzmäßigkeiten, aus denen sich FS/Oekonux eben auch nicht einfach
"ausklinken" kann, auch wenn manche Protagonisten diesen Eindruck haben oder
diesen Eindruck erwecken wollen.
Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch von Boris Groys "Gesamtkunstwerk
Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion", Hanser Verlag,
München/Wien 1988. Groys ist ein russischer Kulturhistoriker und auf die
Kunstgeschichte während der Sowjet-Ära spezialisiert. Mitunter geht einem
sein "antitotalitärer" Affekt mächtig auf die Nerven, und "Materialismus" ist
für ihn mehr oder weniger ein Schimpfwort, nichtsdestotrotz ist er als
Informationsquelle zumindest recht gut brauchbar, wenn man sich über
sowjetische Kunstgeschichte informieren will. Wie gesagt, Ähnlichkeiten mit
neueren Entwicklungen sind m. E. nicht ganz zufällig, aber die entsprechenden
Parallelen zu ziehen überlasse ich dem Leser.
Aus "Die russische Avantgarde: Der Sprung über den Fortschritt" (S. 19 ff.):
"Die Kunst der klassischen Avantgarde - so auch der russischen - ist
natürlich viel zu komplex, als daß sie sich vollständig in eine einzige
Formel fassen ließe; trotzdem kann man wohl ohne unzulässige Vereinfachung
behaupten, ihr grundsätzliches Pathos liege in der Forderung, von der
Darstellung der Welt zu ihrer Umgestaltung fortzuschreiten. Die
jahrhundertelange Bereitschaft der europäischen Künstler, die äußere
Wirklichkeit liebevoll zu kopieren - ihr Streben nach einer immer perfekteren
Mimesis (d. h. Nachahmung, kwp) -, basierte auf der Begeisterung für die
Natur als einheitlicher und in sich geschlossener Schöpfung Gottes, die der
Künstler nur kopieren muß, wenn er die eigene der göttlichen so weit wie
möglich annähern will. Im Laufe des europäischen 19. Jahrhunderts führte das
forcierte Eindringen der Technik und der dadurch hervorgerufene Zerfall des
gewohnten ganzheitlichen Weltbildes allmählich zum Erlebnis vom Tod Gottes
oder, genauer, von seiner Ermordung durch die neue technisierte Menschheit...
(es) öffnete sich der Horizont der irdischen Existenz, und hinter der
Vielfalt der sichtbaren Formen der Welt tat sich das schwarze Chaos auf - die
Unendlichkeit möglicher Formen kosmischen Lebens, in der sich alles Gegebene,
Realisierte und Ererbte jederzeit restlos auflösen konnte.
Zumindest für die russische Avantgarde kann man mit Sicherheit behaupten, daß
ihre gesamte künstlerische Praxis Reaktion auf dieses bedeutsamste Ereignis
der neuzeitlichen europäischen Geschichte ist. Ihr Motiv war keineswegs, wie
das oft angenommen wird, die Begeisterung für den technischen Fortschritt
oder blindes Vertrauen in ihn... Ihr Ziel war vor allem, die zerstörerische
Wirkung der neuen Technik zu kompensieren, zu neutralisieren, keineswegs
wollte sie selbst zerstören. Sie folgte nicht nihilistischen, zersetzenden
Impulsen... Der Unterschied zwischen der Avantgarde und dem Traditionalismus
liegt nicht in der Freude der ersteren über die verheerende Wirkung des
modernen technischen Rationalismus, sondern in ihrer Überzeugung von der
Unmöglichkeit, diesen Zerstörungen mit traditionellen Methoden zu begegnen.
Wenn die Avantgarde der Maxime Nietzsches folgt, "das Fallende zu stoßen", so
nur aus der festen Überzeugung von der Unmöglichkeit, es vor dem Absturz zu
bewahren..."
Malewitsch (S. 20 ff.)
"Ein gutes Beispiel für diese Strategie der Avantgarde ist die künstlerische
Praxis von Kasimir Malewitsch, der in seiner Schrift "Über die neuen Systeme
in der Malerei" (1919) schreibt: "Alle schöpferische Kraft, sei es der Natur,
des Künstlers oder auch eines beliebigen schöpferischen Menschen, liegt in
der Erfindung einer Methode zur Überwindung unseres unendlichen
Fortschritts." So äußert sich der Avantgardismus von Malewitsch also
keineswegs in dem Wunsch, zur Avantgarde des Fortschritts zu gehören: der
Fortschritt führt für ihn ins Nichts und ist daher vollkommen sinnlos. Die
einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, liegt für Malewitsch darin, ihn zu
überholen, ihm vorauszueilen und aus dieser Position heraus einen Stützpunkt
zu finden oder eine Verteidigungslinie, die gegen den herannahenden
Fortschritt zu behaupten ist. Der Prozeß der Zerstörung und der Reduktion muß
bis zu Ende geführt werden, um das Irreduzible, außerhalb von Raum, Zeit und
Geschichte Stehende zu finden, an dem man festhalten könnte.
Dieses Irreduzible war für Malewitsch das "Schwarze Quadrat", das zum lange
Zeit bekanntesten Symbol der russischen Avantgarde wurde. Das Schwarze
Quadrat ist gewissermaßen ein transzendentes Bild - das Resultat der
Reduktion jedes beliebigen konkreten Bildinhalts, ein Zeichen für die reine
Form der Anschauung durch ein transzendentes, nicht-empirisches Subjekt.
Gegenstand dieser Anschauung ist für Malewitsch das absolute Nichts (dem aus
seiner Sicht jeder Fortschritt zustrebt), das Nichts, das mit der kosmischen
Urmaterie zusammenfällt oder, anders gesagt, mit der sich jenseits einer
beliebigen gegebenen Form öffnenden reinen Potentialität jeglicher möglichen
Existenz. Seine suprematistischen Bilder, Resultate der Zerlegung jener
ursprünglichen Form des Schwarzen Quadrats nach rein logischen,
nicht-irdischen Gesetzen, beschreiben für den Künstler die "ungegenständliche
Welt", die auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die Welt der sinnlich
wahrnehmbaren Formen..."
Chlebnikow (S. 23)
"Malewitschs Auffassung von der Kunst... ist typisch für die Zeit und bei ihm
nur besonders radikal ausgeprägt. So postulierte ein anderer führender
Vertreter der russischen Avantgarde, der Dichter Welimir Chlebnikow, hinter
den gewohnten Formen der Sprache verberge sich eine rein phonetische, die
sogenannte "Zaum"-Sprache, die in verdeckter und magischer Weise auf den
Hörer oder Leser wirke, und er nahm sich vor, diese "Sprache des Unbewußten",
wie Malewitsch sagen würde, zu rekonstruieren und sich ihrer bewußt zu
bedienen. Wie dessen Suprematismus beanspruchte auch die phonetische
"Zaum"-Sprache Chlebnikows, die in der Überwindung gewohnter sprachlicher
Formen damals (und vielleicht auch heute) alles übrige übertraf, für sich
Universalität und die Möglichkeit, die ganze Welt auf der neuen
Laut-Grundlage zu organisieren. Chlebnikow nannte sich den "Vorsitzenden des
Erdballs" und den "König der Zeit", denn er glaubte, Gesetze gefunden zu
haben, die die Zeiten trennen und das Alte vom Neuen scheiden, wie man im
Raum etwas trennen kann: somit erhalte die Avantgarde die Macht über die Zeit
und unterwerfe dieser Macht die ganze Welt."
Die rote Agitation (S. 25ff.)
"Wenn für Malewitsch das Erreichen des absoluten Nullpunkts und die
Errichtung einer neuen Welt, in der die neue "weiße Menschheit" (sic!) von
allen Vorstellungen der früheren Welt gereinigt, ihre alten Behausungen
verlassen und auf suprematistische "Planiten" übersiedeln sollte, noch eine
Sache der künstlerischen Phantasie war, so hielt nach der Oktoberrevolution
von 1917 und den ersten beiden Bürgerkriegsjahren nicht nur die russische
Avantgarde, sondern praktisch die gesamte Bevölkerung des ehemaligen
Russischen Reiches diesen Nullpunkt vollkommen zu Recht für in der
Wirklichkeit nun erreicht. Das Land war bis auf den Grund ruiniert, die
normale Lebensvorstellung außer Kraft gesetzt, die Wohnungen zum Leben
ungeeignet, die Ökonomie fast auf den Urzustand zurückgekehrt: die
traditionellen gesellschaftlichen Bande waren zerfallen, und das Leben nahm
allmählich Züge eines Krieges aller gegen alle an. Nach der berühmten
Bemerkung Andrej Belyis "führte der Sieg des Materialismus in Rußland zum
völligen Verschwinden jeglicher Materie aus dem Land", so daß der
Suprematismus die allen offensichtliche Wahrheit nicht mehr lange beweisen
mußte, die Materie als solche sei - nichts. Es sah so aus, als sei die Zeit
der Apokalypse da, und die avantgardistisch-formalistische Theorie des
"Umbruchs", der die Dinge aus ihren normalen Beziehungen löst und damit
"verfremdet", ihre Wahrnehmung deautomatisiert und sie auf besondere Weise
"sichtbar" macht, verwandelte sich von einer Begründung der
avantgardistischen künstlerischen Praxis in einen Kommentar der alltäglichen
Erfahrung des russischen Normalbürgers.
Die russische Avantgarde sah in dieser einzigartigen historischen Situation
nicht nur die zweifelsfreie Bestätigung ihrer theoretischen Konstruktionen
und künstlerischen Intuitionen, sondern auch eine einmalige Chance zu ihrer
Umsetzung in die Praxis. Ein großer Teil der bildenden Künstler und Literaten
der Avantgarde bekundete sofort seine volle Unterstützung für die neue
bolschewistische Staatsmacht und übernahm, während die Intelligenz im Ganzen
dieser Macht ablehnend gegenüberstand, eine Reihe von Schlüsselpositionen in
den neuen, zur zentralen Leitung des gesamten kulturellen Lebens des Landes
geschaffenen Organen. Dieser Durchbruch der Avantgarde zur politischen Macht
resultierte nicht aus einer opportunistischen Haltung und dem Streben nach
persönlichem Erfolg, sondern ergab sich unmittelbar aus dem Wesen ihres
künstlerischen Projekts...
Doch 1919, als Alexander Rodschenko und seine Gruppe das neue Programm des
Konstruktivismus vorlegten, war der Enthusiasmus noch ungebrochen und die
Avantgarde überzeugt, die Zukunft in der Hand zu haben. Rodschenko, Wladimir
Tatlin und die anderen Konstruktivisten sagten sich los von jeglicher
kontemplativen Einstellung... und erklärten das Kunstwerk als selbstgenügsam,
autonom und mit der äußeren Wirklichkeit in keinerlei mimetischem
Zusammenhang stehend. Zum Vorbild des konstruktivistischen Kunstwerks wählte
man die Maschine, die sich nach ihrem eigenen Gesetz bewegt. Im Unterschied
zur Industrie-Maschine wurde die "Kunst-Maschine" seitens der
Konstruktivisten zumindest zu Beginn noch nicht unter utilitaristischen (d. h
. zweckmäßigen, kwp) Vorzeichen konzipiert: sie sollte als autonome Maschine
gemäß der ursprünglich formalistischen Ästhetik der Konstruktivisten den
Charakter des Materials, aus dem sie konstruiert ist, sowie ihre
konstruktive Natur zeigen: sie sollte, wenn man so will, die "Maschine des
Unbewußten" offenlegen, die in der utilitarischen Maschine ebenso verborgen
ist wie im traditionellen Gemälde mit seiner Einstellung auf den Transport
eines "bewußten" Inhalts. Die Konstruktivisten selbst betrachteten ihre
Konstruktionen nicht als selbstgenügsame Kunstwerke, sondern als Modelle der
Neuorganisation der Welt, als vorläufige Entwürfe eines Gesamtplans zur
Aneignung des Welt-Materials - daher ihre Liebe zu heterogenen Materialien
und ihrer Verwendung innerhalb eines einzigen Werks, daher die Vielfalt ihrer
Projekte, die die verschiedensten Aspekte menschlicher Tätigkeit umfaßten und
diese einem durchgängigen künstlerischen Prinzip gemäß zu unifizieren
suchten."
Widerstand gegen und Niedergang der Avantgarde (S. 29):
"Immer hartnäckiger kombinierten die bildenden Künstler, Dichter,
Schriftsteller und Publizisten der Avantgarde ästhetische mit politischen
Anschuldigungen und forderten damit die Staatsgewalt offen zu Repressionen
gegen ihre Opponenten auf. Doch in dem Maße, wie die Stabilität des
sowjetischen Systems immer augenscheinlicher wurde und weiteste Kreise der
Intelligenz, die den Bolschewiki zunächst feindlich gesonnen waren, zu deren
Unterstützung übergingen, was natürlich begrüßt wurde, schrumpfte die Basis
der Avantgarde unaufhaltsam. Beginnend mit der Einführung der "Neuen
Ökonomischen Politik" (NÖP) entstanden im Lande ein neuer Kunstmarkt und eine
neue Lesernachfrage seitens der neuen NÖP-Bourgeoisie, der die Avantgarde
ästhetisch und starker noch politisch fremd war. Eben in der NÖP-Zeit, also
von 1922 an, und nicht etwa in den dreißiger Jahren beginnt der Niedergang
der Avantgarde-Bewegung, die Ende der zwanziger Jahre, wenn sie auch in
äußerst bescheidenem Maßstab weiter existiert, jeglichen Einfluß verliert. In
jener Zeit entstanden neue künstlerische Vereinigungen wie die AChRR
(Assoziation der Künstler des revolutionären Rußland) oder die RAPP
(Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller), die traditionelle
künstlerische Verfahren und die Losung "Von den Klassikern lernen" mit
avantgardistischer Rhetorik und der Technik verbanden, den Gegner als
politischen Konterrevolutionär zu brandmarken, was ihnen die wachsende
Unterstützung der Partei einbrachte. Gleichzeitig entstanden die
literarischen und bildnerischen Gruppen der Mitläufer, die ebenfalls großen
Einfluß hatten und in denen - besonders in der bildenden Kunst, in solchen
Gruppen wie "OST" und "Bytie" - die Jugend eine wichtige Rolle spielte: Sie
ließ sich nicht so leicht von den Beschwörungen der Avantgarde einschüchtern
und strebte auf der Suche nach neuen Absatzmärkten für ihre künstlerische
Produkton danach, im Rahmen der gewohnten Form des Tafelbildes traditionelle
und avantgardistische Verfahren zu verbinden."
Kurt-Werner Pörtner
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Organisation: projekt oekonux.de