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Re: [ox] Re: Der eigentliche Dissenz



Am Dienstag, 18. Juli 2006 11:24 schrieb Stefan Meretz:
Dir fällt nicht auf, daß Dir die Definition der "gesellschaftlichen
Natur" als Fähigkeit zur Vergesellschaftung in Deiner Argumentation
in eine andere Definition als Zwang zur Gesellschaft abrutscht. Fähig
sein beinhaltet den Freiheitsgrad, die Fähigkeit auch nicht
anzuwenden.

Ja, das ist auch so: Für Menschen besteht ein "Zwang zur Gesellschaft",
sie müssen sich vergesellschaften, sie können nicht anders, und sie
können auch dort nicht aussteigen (ein Argument, dass IMHO die "Theorie
der Freien Kooperation" von Christoph Spehr übersieht).

Ich bezeichne Deinen Ansatz mal als Verwechselung der menschlichen
Gesellschaft mit einer Vogelbruttkolonie. Im Gegensatz zu den Vögeln
werden Menschen relativ reif und zur autonomen Existenz aus sich selbst 
heraus außerhalb des Mutterleibes geboren, nicht als mit Dotter gefülltes
Ei, welches sich nur durch die gesellschaftliche Vermittlung des Brüttens
zu einem Vogel entwickeln kann, der das Ei schließlich verläßt. Vor und
nach der Geburt ist der Säugling zu eigenen Emotionen fähig, besitzt 
eigene Bedürfnisse und rüdimentäre Wünsche, die seiner aus sich selbst
heraus lebensfähigen Existenz und eben nicht von der ersten Minute an
einer gesellschaftlichen Vermittlung geschuldet sind.

Seiner körperlichen Existenz außerhalb des Mutterleibes sind ein paar
angeborene Fähigkeiten eigen - wie z.B. die Fähigkeit, sich emotional
in andere einzufühlen und einen in der eigenen Lebendigkeit verankerten
eigenen Willen zu entwickeln. Es besteht ein Zwang, sich mit der 
Umwelt auseinander zu setzen, mit dieser in Beziehung zu treten, da
die ersten Strukturen des Gehirns z.B. anhand dieser ersten Erfahrungen
mit der Umwelt angelegt werden. Diesen Zwang zur Interaktion mit
der Umwelt als Zwang zur Vergesellschaftung zu interpretieren, legt
in die Interaktion des Säuglings mit seiner Umwelt zuviel hinein. Der
Zweck dieser Überinterpretation wird deutlich, wenn er dazu dienen
soll, den Konflikt zwischen der körperlichen Existenz und allen dieser
Existenz entstammenden Emotionen, Bedürfnissen und rudimentären
Wünschen - bezeichnet als Eigenes - auf der einen und der fremden 
gesellschaftlichen Umwelt - bezeichnet als Fremdes - auf der anderen
Seite ZU LEUGNEN.

Der eigentliche Dissenz scheint darin zu bestehen, den psychoanalytischen
Ansatz zu negieren, der gerade durch die neurologische Forschung 
eine Bestätigung seiner Begrifflichkeit des Über-Ich erfahren hat. Kinder
und Säuglinge scheinen nürnberger Trichter zu sein, in welchen erst
die Gesellschaft durch Spiegelung die Natur des Menschen quasi anlegt,
ohne daß es zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu irgend einem
Konflikt kommen könnte. Die menschliche Individualität kann demzufolge
auch nur als Mischung angeborener Fähigkeiten und gesellschaftlicher
Werte begriffen werden, wobei die Tatsache, daß angeborene Fähigkeiten
nicht gesellschaftlich vermittelt sein können, sondern auf das Eigene des
Säuglings verweisen, negiert wird. Eine schlüssige Darstellung der 
gesellschaftlichen Vermittlung angeborener Fähigkeiten fehlt, um die
von Stefan Meretz vorgeschlagene Theorie als vollständig behandeln
zu können.

Stefan unterstellt mir, eine autonome, aus sich selbst heraus lebensfähige
Existenz des Säuglings stelle einen Zustand außerhalb der Gesellschaft
oder außerhalb der Umwelt des Säuglings dar.  Diese Interpretation ist 
falsch. Trotz seiner Fähigkeit zur autonomen Existenz unabhängig vom
Mutterleib und davon, daß andere für das Kind z.B. atmen, fühlen oder
verdauen, steht der Säugling in Beziehung zu seiner Umwelt, zu seiner
Bezugsperson - meist seiner Mutter - und zu anderen Menschen. Es 
findet sowohl eine Reflexion des eigenen Inneren als auch eine Interaktion
mit der Umwelt statt - nicht nur ausschließlich eine Interaktion mit der
Umwelt, bezeichnet von Stefan als "Zwang zur Vergesellschaftung". Ich
verweigere mich also nur dieser Seinsverkürzung, die m.E. von Anfang
an die autonome eigene Körperlichkeit, in einem von anderen Menschen
abgegrenzten Inneren eines Körpers zu leben, zugunsten der Gesellschaft 
ausblendet. 

Merkwürdigerweise anerkennt Stefan jedoch in der Frage der Findung
von Entscheidungen die innere Reflexion des menschlichen Seins in einem
Körper, der nicht gesellschaftlich vermittelt ist, wenn Erwachsene sich
durch eigenes Denken als Einzelne entscheiden. Gleichzeitig wird dieses
Eigene darin negiert, da es sich ausschließlich um Spiegelungen der
Gesellschaft handeln soll, einer Gesellschaft, die in atomisierte Einzelne,
die ihre Entscheidungen gegeneinander setzen und höchstens dem jeweils
anderen das Recht einräumen, ebenfalls eigene Entscheidungen gegen
die anderer Menschen zu setzen, zerfällt. Alle Formen der gemeinsamen
Entscheidungsfindung sollen zugunsten eines Individualismus, der in
Wahrheit keiner ist, abgeschafft werden - im Namen einer Selbstentfaltung,
in der die "Individuen" als atomisierte Einzelne nur ihre jeweilige Variation
gesellschaftlich (fremd-)bestimmter Inhalte zur Entfaltung bringen.

Im Kern wird so der Herrschaftsanspruch des Einzelnen, der auf der
Anerkennung seiner Entscheidung als ausschließlich ihm eigener besteht,
nur durch den freiwilligen Liberalismus gemildert, anderen das gleiche
Recht einzuräumen. Fällt diese Anerkennung des gleichen Rechtes der
anderen Menschen fort - die an sich eine egalitäre Forderung ist - , so 
haben wir den Krieg aller gegen alle, ihre Entscheidung gegen die anderer 
Menschen durchzusetzen, d.h. Kampfhundeverhalten.

Denn der Anspruch, ausschließlich eigene Entscheidungen zu fällen und
diese als ausschließlich eigene durch andere anerkannt haben zu wollen,
nicht mit anderen übereinzukommen, gemeinsame Entscheidungen über
ein gemeinsames Vorhaben zu fällen,  illustriert am Besten der Ausspruch
von Ludwig dem 14. von Frankreich:"Der Staat bin Ich!". Über Fragen 
der Befriedigung eigener Bedürfnisse - ob Sekt oder Cola - durch einen
selbst und alles, was nur den Einzelnen betrifft, läßt sich so entscheiden, 
nicht jedoch über gemeinsame Projekte, in die viele, nicht nur ein Einzelner, 
Arbeit und Zeit stecken.

Gruss,
Jacob
________________________________
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Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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