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Re: [ox] Noch mal zur Freien Gesellschaft



Hallo El Casi,

Zunächst: Ich habe den Eindruck, du klingst langsam etwas gereizt.
Please keep cool about all of that! Ich schreib das mal, weil es in dem
Medium hier extrem schwierig ist, solche Untertöne mitzubekommen.  Und
ich hatte das längere Zitat aus [Hoevels] auch gerade deshalb gebracht,
weil es sehr deutlich vor Augen führt, dass eine solche "emotionale
Höhe" der Diskussion nicht nur schwer zu vermeiden ist, sondern - falls
sie vermieden wird - das Ergebnis einer solchen dann "gartenzwergenden"
Diskussion in der Pfeife zu rauchen ist. Wir hatten das oft genug hier,
und aus der Perspektive sind wir also auf einem guten Weg, auch wenn's
gelegentlich schmerzt.

Weiter: Ich nehme für mich zur Kenntnis - und das ist mir ja nicht nur
hier mit dir passiert - dass es extrem schwierig ist, ohne tiefe
Missverständnisse über die je eigenen Praxen zu kommunizieren.
Vielleicht ist es hilfreicher, nicht auf die vielen Missverständnisse
abzufahren, sondern mehr die wenigen Verständnisse zu verstärken.  Noch
mal zwei Worte, warum *ich* hier mit dir diese ausführliche Diskussion
führe: Mir geht es nicht darum, über deine Weltsicht oder so zu
streiten, sondern ich will unsere Theorie(n) - also vor allem die Freie
Gesellschaft (FG) - auf dem Hintergrund unserer *eigenen Praxen*
beleuchtet wissen. Einfach um die Hindernisse und Widerstände auf dem
Weg in eine solche FG, aber auch deren Konfliktlinien genauer zu
verstehen. Und vielleicht ist ja auch manches, was uns hier als
Hindernis erscheint, in Wirklichkeit bereits der Abglanz einer solchen
Konfliktlinie *innerhalb* der FG.  Dass diese reflexiven Bezüge auf die
*je* eigenen Praxen - bei der Alltags-Distanz der Leute, die hier
diskutieren - voller Missverständnisse sein *müssen*, ist bei
unvoreingenommenem Herangehen eine Selbstverständlichkeit. Wie damit
umgehen? Meine Schlussfolgerungen: (1) öfter mal "Gelegenheit zu einem
Bier" und (2) "learn to think in a new way". Wegen (1) finde ich die
Debatte um den Ort der MV wichtig; aber da sind s.ma und ich wohl die
Einzigen, die das mit (1) in Zusammenhang bringen.

(2) ist deutlich wichtiger - denn die Kommunikationslage verlangt, aus
einem Strom von Missverständnissen die wenigen Körner gegenseitigen
Verstehens zu extrahieren ohne dabei das eigene Bild der Welt
aufzugeben.  Die "Warenmonade" scheint extrem schlecht konstituiert zu
sein für ein solches Unterfangen. Unter diesem Blickwinkel habe ich die
Argumente des "Potsdamer Manifests" immer gesehen und für sehr fruchtbar
befunden.

So viel vorab zum Metathema, das ich in unserer Diskussion nicht aus dem
Auge verlieren möchte.

El Casi wrote:
Deine Interpretation des von mir zitierten Satzes von Sostschenko 
beruht m.E. auf einem beträchtlichen Mißverständnis. Es ist mir 
wichtig dies zu erläutern, obwohl ich an das Buch z.Z. nicht 
rankomme... Der Satz, das Leiden sei eine der größten Geißeln der 
Menschheit und man müsse es ausrotten, um sich von ihr zu befreien,
fällt nicht (wie von Dir angenommen) in einem "subjektlosen"
Zusammenhang: Er ist ein Fazit aus der Auseinandersetzung des Autors
mit seiner eigenen Wasserphobie (wenn ich mich recht entsinne).
Dadurch, daß er, als er dieses Fazit aufschrieb sich selbst weder
sichtlich haßte noch ausgerottet hatte, beantwortet sich Deine Frage,
ob man das praktisch wirklich trennen könne, das Hassen und Ausrotten
des Leidens einerseits und das Hassen und Ausrotten von Menschen 
andererseits.

Das macht noch einmal sehr deutlich, worum es mir geht und was ich mit
dem Hoevels-Zitat versucht habe noch einmal zu untersetzen.  Es gibt
Punkte im Selbst (z.B. eine Wasserphobie), an denen man so lange leidet,
bis man versteht, woher sie kommen. Aber das ist ein Prozess der INNEREN
Auseinandersetzung des SELBST, was auch ein guter Psychotherapeut zwar
unterstützen, aber dem SELBST nicht abnehmen kann. Die emotionale Höhe
dieser INNEREN Auseinandersetzung hat Hoevels gut beschrieben und mit
seinem "UND DANN EINS IN DIE FRESSE" m.E. auch ziemlich gut auf den
Punkt gebracht. Allerdings blockiert Hass (in dem Fall Selbsthass)
diesen Prozess eher als dass es ihn befördert, weil es das "ruhige
Abhören des Feindsenders" im Inneren stört. Es ist also nicht das Gefühl
des Leidens, sondern das Gefühl der Erleichterung, das Leiden
losgeworden zu sein, das in den Vordergrund treten sollte (und - ich
kenne den konkreten Text von Sostschenko nicht, aber eine Reihe kürzerer
Texte, die in der Tradition der großen russischen Erzähler stehen, die
immer sehr genaue Beobachter waren - das wird sicher in der Erzählung an
einer Stelle aufpoppen). Weiter geht es dann bei Sostschenko gewöhnlich
mit "lessons learned" AUS DER PERSPEKTIVE der handelnden Person(en). Und
da kannst du eben nicht einfach zum Nachbarn/Freund/... zu gehen und zu
sagen/bitten/drohen/erwarten/... - NUN DU AUCH. Der harmlosere Part - du
wirst schlicht erfolglos bleiben - ist der, dass du das forderst,
NACHDEM es bei dir Klick gemacht hat. Schlimmer ist, dass eine solche
Externalisierung deine INNERE Auseinandersetzung behindert, denn sie ist
eine der allereinfachsten Projektionen. Und sehr weit verbreitet -
Christoph führt das mit seiner p/p-Dichotomie wirklich exzellent und
offensichtlich für viele oxis auch wahrnehmbar vor (ein weiteres
Phänomen in solchen Prozessen ist die Existenz von "blinden Flecken" in
der Wahrnahme von Argumentationen). Ich will das hier für den Moment mal
nicht weiter vertiefen.

Insofern verstehe ich Sostschenko so, dass er mit dem "Hassen und
Ausrotten" genau DIESE weit verbreitete Art des
Sich-Selbst-beim-Selbstfinden-Behinderns BESCHREIBEND thematisiert. Da
sein Grundsatz (bei den Sachen, die ich kenne) immer ist: Leser, mach
dir selbst einen Reim auf die Sachen, ich habe nur gesagt, wie es ist;
ist es natürlich MEIN Reim, den ich mir drauf gemacht habe und hier zur
Diskussion stelle (Verweis auf die einführenden Meta-Bemerkungen). Dass
ein Schriftsteller wie Sostschenko (1920er Jahre!) allein durch seine
*Themenwahl* was gesellschaftlich Relevantes aussagen will, muss ich
nicht betonen. Das "Hassen und Ausrotten" hat ja dann im 20. Jahrhundert
- in Ost wie West - eine fürchterliche Eigendynamik entwickelt. Und dass
das was mit den "narzisstischen Kränkungen des Individuums seit Newton
und Kepler" (cc-thesen) zu tun hat, kannst du noch besser bei Bulgakow
lesen, der für *diese* Aspekte als Arzt und wissenschaftlich gut
gebildeter Mensch wohl eine noch bessere Ader hatte als Sostschenko.

Insofern MUSS das Hassen und Ausrotten des Leidens einerseits (im eben
noch einmal dargestellten Sinn der Entwicklung des SELBST) und das
Hassen und Ausrotten von Menschen andererseits nicht nur getrennt
werden, sondern es ist für mich so was wie ein kategorischer Imperativ,
dass es zu zweiterem gar nicht mehr kommen DARF. Jeder solche Ansatz ist
eine Verletzung der Menschenwürde. Und ich denke, für die ersteren
Prozesse sind die Worte "Hassen und Ausrotten" (aus den oben
aufgeführten psychologischen Gründen) einfach fehl am Platze.

Allerdings ging er m.E. nicht davon aus, daß 'von innen heraus'
bedeuten könnte 'aus einer "autonomen" Abgeschiedenheit' oder so
heraus.

Was hier geht und was nicht - das wäre (jenseits des Bezugs zu
Sostschenko) in der FG-Debatte wirklich mal genauer zu diskutieren.

All Deine Interpretationen, daraus abgeleiteten Vorbehalte,
Warnungen und Einsprüche treffen m.E. nicht in erster Linie ihn
und "seine Zeit, sondern illustrieren vor allem *Deine*
Denkrichtung und also unsere Zeit.  

Klar, das habe ich oben in den Meta-Bemerkungen noch einmal versucht
klar zu machen. Aber es geht mir schon (auch) um den Widerschein heute
wichtiger Phänomene in den Reflexionen jener Zeit. Die ja (vielleicht)
in der einen oder anderen Form auch schon in den damaligen Praxen eine
Rolle gespielt haben.

Dass bei einem derart komplexen Gegenstand meine Argumente
notwendigerweise einseitig sind, klar! Zumal ich mit meinen Beiträge
hier in keiner Weise auch nur annähernd den Anspruch einer geschlossenen
theoretischen Position erhebe; auch ich bin auf dem Weg! Und wenn ich
auf gewissen Argumentationslinien - vielleicht manchmal mehr als nötig -
rumreite, dann nur deshalb, weil sie mir hier im Oekonux-Kontext wichtig
und unterbelichtet sind.

... illustrierst Du m.E. nichts anderes, als daß die gemeinte
Vorstellung von Liebe (zumindest heutzutage) nicht mehr ist, als eine
Illusion bzw. eine Parole. Was mich frappiert, ist nicht Dein
Anspruch, den Du dem (von mir aus dem Zusammenhang gerissenen) Zitat
gegenüber behauptest. Sondern die Tatsache, daß Du gar nicht auf den
Gedanken gekommen bist, Deinen Anspruch und seinen Anspruch in einem
Zusammenhang sehen zu wollen, oder nach einem solchen zu suchen, oder
ihn zumindest nicht von vornherein "kategorisch" auszuschließen. (Was
ja nicht zuletzt auch eine Aussage über Deinen Eindruck von Deinem 
Gesprächspartner, also von mir, beinhaltet.)

Das habe ich nicht verstanden.

Daß Erich Fromm nicht diese Worte verwendet und eines seiner Bücher
"Die Kunst des Liebens" genannt hat, konstituiert für mich noch
längst keinen so offensichtlichen Gegensatz zu dem Gedanken von
Michail Sostschenko wie offenbar für Dich.

Die oben ausgeführten Phänomene verlangen hohe Ungeduld sich selbst
gegenüber (um die eigenen INNEREN Prozesse in Gang zu halten) und
unendliche Langmut anderen gegenüber (weil diese INNEREN Prozesse eben
nicht von außen in Gang gesetzt werden können ohne neue seelische
Traumata auszulösen oder alte zu verstärken). Ich frage deshalb nach dem
Substitut für "Hassen und Ausrotten" bei Sostschenko und habe es (für
mich) in Fromms Argumentation (die das PM weitgehend wiederholt) gefunden.

Ich kann mich nämlich nicht erinnern, bei Fromm etwas von Symphatie
für Leiden entdeckt zu haben, ...

Ich glaube schon, dass sein Begriff von Liebe eine solche Sympathie
für DAS Leiden (die prozessuale Dimension, nicht den Fetisch!) ANDERER
einschließt (und vielleicht auch in geringerer Weise sich selbst
gegenüber).

Und gerade hier habe ich den Eindruck, daß die Gemeinsamkeiten von
Fromm und Sostschenko, sowohl bezüglich der Sichtweise als auch bei
der Einschätzung und Einordnung des Gegenstandes, überwiegen.

Ja, das sehe ich auch so, wobei Sostschenko gerade auf die literarische
Wirkung des verkehrten Arguments im Munde der handelnden Personen setzt.
Und dieses verkehrte Argument habe ich versucht aufzugreifen.

Den "neuen Menschen" kann man nicht "erziehen" - für mich eine der
zentralen Erfahrungen aus den realsozialistischen Experimenten.

Da ohne Erziehung kein Mensch entstehen kann, verstehe ich diesen 
Satz nicht.

Erziehen (in einem zu präzisierenden Sinne, den du hier aber aufrufst)
hört in meinem Verständnis bei etwa 16 Jahren auf. Dann beginnen die
meisten Menschen, nicht mehr Glaubenssätze als unhinterfragte
"Weisheiten" von Personen, denen sie blind vertrauen, abzuspeichern,
sondern die Zumutungen der äußeren Welt (also ihre Alltagserfahrungen)
in das bestehende innere "Koordinatensystem" einzubauen.  Ab da ist ein
Mensch ein vollwertiges *Subjekt* und sperrt sich - im Rahmen seiner
Möglichkeiten - gegen die Behandlung als *Objekt*. So viel kurz und sehr
unvollständig dazu. Das hat SEHR eng mit den oben beschriebenen
Prozessen und Fragen der Handlungsautonomie zu tun.

Dies zu leugnen, bedeutet nur, den faktischen Einfluß von Menschen
auf Menschen dem Bereich des bewußten Handelns, also des Bewußtseins
zu entziehen...

Dies leugne ich nicht; mein Punkt ist nur, dass der Modus der
Verarbeitung dieses Einflusses in jungen und reifen Jahren
unterschiedlich ist. Und "den neuen Menschen erziehen" als
realsozialistischer Slogan (auf den ich mich hier beziehe) meinte den
"Objekt-Modus". Nix anderes will ich hier sagen. Aber nur deshalb, weil
er in unserer FG-Diskussion an vielen Stellen fröhliche Urständ feiert.

... so ist die die Leugnung und Ablehnung der Erziehung ein Ausdruck
des individualistischen Selbstverwirklichungsfetischismus, der für
die fortschreitende Warengesellschaft ebenso typisch und unabdingbar
ist, wie die Illusion der Autonomie.

Klar, das kommt hier auch noch rein; da schlägt das Pendel (oft in
derselben FG-Diskussion) dann voll zur anderen Seite aus.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe




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