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Re: [ox] Noch mal zur Freien Gesellschaft



Hallo El Casi,

noch ein paar weitere Bemerkungen zu deiner mail:

El Casi wrote:
Genau hier findet der Umschlag von Bewegung (Sein) in Entwicklung
(Werden) statt.  Und die Frage ist, ob ein Umschlag auf höherer
Ebene die Existenzbedingungen für das (Fließ-) Gleichgewicht auf
der unteren Ebene auflöst oder ob unausgewogene Verschiebungen
oder gar Entwicklungen auf unterer Ebene das alte Gleichgewicht
auf höherer Ebene zum Umschlagen bringen.

Das ist eine gute Frage und es gibt zwei Antworten darauf. Die eine sagt
"Versklavungseffekt", d.h. der Takt der höheren Ebene zwingt der unteren
seinen Rhythmus auf. Und die andere (etwa Dawkins "egoistisches Gen")
behauptet gerade das Gegenteil: Die höhere Ebene gibt es überhaupt nur,
um die Reproduktionsbedingungen der unteren Ebene zu stabilisieren (und
die höhere Dynamik ergibt sich weitgehend aus diesem "Zweck").  Und wenn
diese höhere Dynamik nicht mehr passt, dann wird sie umgekrempelt.

In dem von Dir skizzierten Sinne von Gleichgewichtshierarchien ist
für mich die _Sicht_ der Warenmonade die untergeordnete, die
_Situation_ der Warenmonade die übergeordnete Ebene.

Hmm, das würde ich so nicht gegenüberstellen, Sicht und Situation sind
ja zwei Aspekte *derselben* Dynamik, Sein und Wahrnahme. Eher würde ich
hier kurzwelligere Phänomene als die untergeordnete Ebene betrachten,
eben z.B. die Suche nach einer Bleibe, auf die das übergeordnete
Phänomen (Sein als Warenmonade) im Sinne des "Versklavungseffekts" wirkt.

Ist aber nicht primär eine des "Gastarbeiters", sondern die
Wahrnahme eines (wirklichen oder vermeintlichen) Risikos. ...

Klar. Das waren ja nur Beispiele. Aber ist es nicht in der Tat
ätzend, vor allem als Risiko wahrgenommen zu werden, vor allem,
wenn man gar nichts dagegen machen kann?  Das warenmonadische
steckt doch vor allem in letzterem, oder? Und nicht in der `Sicht'
bzw. der Empfindung, daß das ätzend ist, finde ich.

Aber kommt hier nicht zugleich zum Ausdruck, dass die an dem "Akt"
Beteiligten mit unterschiedlichen, ja autonomen Zielfunktionen an das
Ganze herangehen? Du willst in die WG, weil du ein Dach über dem Kopf
brauchst, die anderen wollen die bestehende WG funktionsfähig halten und
da ist die finanzielle Seite für sie wichtig. Dass du das nicht so
unvoreingenommen respektieren kannst, sondern es schlicht "ätzend"
findest, hat allerdings sicher was mit dem Sein als Warenmonade zu tun.

Ist diese Autonomie der Zielfunktionen aber nicht eine kulturelle
Errungenschaft und ein Kernelement einer Freien Gesellschaft? Muss man
dann nicht auch Karsten Webers Frage nach dem "Preis d(ies)er Freiheit"
stellen?

*Wann* ich umziehe entscheide ich genausowenig autonom, wie
*wohin* ich umziehe.  ...

Das ist der Kern der Argumentation von F.O.Wolf: wenn wir über freie
Kooperation und all das reden, dann müssen wir berücksichtigen, dass wir
historisch, sozial und biologisch konstituierte Subjekte sind.  Aber
offensichtlich gibt es neben dem Entscheidungsrahmen auch einen
Entscheidungsspielraum.

Die Behauptung (oder Autosuggestion) einer (völlig) autonomen
Entscheidung drückt also für mich vor allem aus, daß das Bewußtsein
des Selbstes als gesellschaftlich bedingter und abhängiger
Erscheinung höchst mangelhaft ausgeprägt ist.

Aber "wann *ich* umziehe entscheide *ich*" könnte auch ein
Sich-zur-Wehr-Setzen gegen Erscheinungen sein, die nur unter dem
Deckmantel der "gesellschaftlichen Bedingtheit" daherkommen.  Ist das
Spannungsfeld zwischen Entscheidungsrahmen und Entscheidungsspielraum
(nach dem bekannten Motto: Gib mir drei Dinge - Kraft, das zu ändern,
was zu ändern geht, Geduld, das zu ertragen, was nicht zu ändern geht,
und Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden).

Das bedingt sich in meinen Augen gegenseitig: aufgrund unserer
Prägung neigen wir vielfach dazu, uns mit einem Problem lieber
herumzuquälen als unsere Augen für Alternativen zu öffnen ...

In der Kritischen Psychologie heißen diese beiden Alternativen
restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit.

Genau diese Normen aber, die unseren Horizont prägen, machen für
mich die Warenmondadensicht aus.  (Mag sein, daß die Normen nicht
direkt vom Kapital erfunden worden sind, und daß die Bezeichnung
daher irreführend ist, aber die Sicht der Warenmonade ist eben ein
Konglomerat, wie die kapitalistischen gesellschaftlichen
Verhältnisse auch).

Diese Art, gesellschaftliche Verhältnisse in versachlicher Form
wahrzunehmen, ist nach meinem Verständnis der Kern des Marxschen
Fetisch-Begriffs. Also mehr als "nur" Warenmondadensicht (letztere nimmt
ihren Ausgangspunkt in einer speziellen Subjekteigenschaft, erstere in
der generellen Art der Wahrnahme gesellschaftlicher Phänomene - sind wir
schon wieder beim Thema "Wissen und Information").

Und deshalb vielleicht viel mehr Nachsicht mit anderen und dann
vielleicht auch mit sich selbst angebracht wäre.

Nachsicht ohne Einsicht ist Gefühlsduselei ;-)

(An dieser Stelle kann ich gerade nicht sehen, wo bzw. warum ich
nachsichtig sein soll, da es sich ja nur um eine abstrakte
Erwägung u.a. der strukturellen Zwänge und ihrer Auswirkungen
handelt -- warum sollte ich mit diesen Nachsicht haben?  Wenn mir
hinwiderum ein Mensch begegnet, der leidet oder sich quält, werde
ich ihn deshalb wahrscheinlich nicht "der Feigheit und Faulheit"
bezichtigen, weil er damit höchstwahrscheinlich nichts anfangen
kann.)

Kann man das wirklich so trennen?

Sostschenko z.B. hat sich zum Thema Selbst-Quälen viel
unnachsichtiger geäußert:

	  Das Leiden ist eine der schlimmsten
	  Geißeln der Menschheit.  Und man muß es
	  hassen, um es ausrotten zu können.

Und zwar nicht in einem abstrakten Zusammenhang, sondern in seiner
Autobiographie (Schlüssel des Glücks) ;-)

"Hassen", "ausrotten" -- du weißt, wohin das geführt hat. Sostschenko
ist da Beobachter und Kind seiner Zeit zugleich. Erich Fromm hält dem
"Die Kunst des Liebens" entgegen, und ähnliche gedankliche Linien
findest du auch im Potsdamer Manifest.  Vielleicht muss man auch lernen,
Leidensfähigkeit bis zu einem gewissen Grad zu kultivieren - im Sinne
der oben angeführten drei Dinge (Kraft, Geduld, Weisheit). Sowohl in der
christlichen Ethik als auch den fernöstlichen Religionen spielt sie eine
große Rolle. Und das sind jeweils die Erfahrungen von mehr als 2000
Jahren Kultur.

Christophs Sicht, ein Individuum sei entweder Pred. oder Prod.,
ist in meinen Augen ein absurd einseitige Sichtweise.

Genau auf dieses dein "in meinen Augen" wollte ich hinaus.  Es geht dir
ja nicht (nur) darum, das auszuargumentieren, sondern du willst ja
zusätzlich bei Christoph einen Effekt erzielen.  Aber in Christophs
Augen ist es eben offensichtlich in keiner Weise "absurd".  Also noch
einmal meine Frage:

Wie ist das da mit dem "theoretischen oder praktischen Aufdröseln"?

Genauer: wie gehst du damit um, dass Christoph auf deine Argumente nicht
anspringt und bei seiner (in deinen Augen) absurden Argumentation
bleibt? Lass ihn doch? Kannst du mit jemandem praktisch was machen, zu
dem du so große (immerhin "absurd") theoretische Differenzen hast?

Viele Grüße HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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