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Zum Wissenschaftsbegriff - mal wieder (was: Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?)



Hi Joost et al!

Two weeks ago (14 days ago) Joost Klüßendorf wrote:
Stefan Seefeld wrote:
nein, aber das Experimentieren, d.h. das Re-Produzieren von
Bedingungen unter denen sich bestimmte Beobachtungen machen lassen,
ist *die* Grundlage der Wissenschaft.

Also ich hatte mal verstanden, dass das seit der Aufklärung so ist.
Wenn ich das mal kurz mit dem Hardt/Negri-inspirierten
Transzendenz-Begriff verquirle, dann würde ich sagen, dass der
experimentgestützte Wissenschaftsbegriff der Aufklärung u.a. eine
Emanzipation gegenüber dem gottbezogenen / transzendenzgeschwängerten
Wissenschaftsbegriff vorheriger Wissenschaft war. Die Immanenz bezieht
sich hier eben auf die Natur - und der aufklärerische
Wissenschaftsbegriff ist ganz wesentlich ein naturwissenschaftlicher.

Was auch erklärt, warum er mit Humanwissenschaften so schlecht
funktioniert. Richtig blöd aber ist, dass der naturwissenschaftliche,
aufklärerische Wissenschaftsbegriff *das* Leitparadigma schlechthin
geworden ist - und sich deswegen die Humanwissenschaften dem
unterzuordnen trachten. Das ist wirklich eine Tragödie...

Ich kann hier nur mit Paul Feyerabend "Wider den Methodenzwang!"
fordern. Aber das Leitparadigma des Experiments wird ja durch die
Chaostheorie mittlerweile auch den Naturwissenschaften immanent
nachhaltig in Frage gestellt.

Eine Behauptung Kritischer Psychologie ist, dass dieses Modell von
Wissenschaft nicht auf menschliches Handeln angewendet werden kann. Der
Mensch ist aufgrund seines freien Willens in der Lage sich bewußt zu
seinen Bedingungen zu verhalten. Die Bedingungen determinieren ihn
nicht, daher sind können auch keine Aussagen gemacht werden im Stile:
Wenn (Bedingung) ==> Dann (Reaktion)

Das ist ja nur eine Variante davon, sinnvolle Aussagen zu machen. In
der Tat die Sorte, die in der Ideologie von Naturwissenschaften gerne
gesehen sind.

Statistische Aussagen können aber ebenfalls sinnvoll sein. Sie führen
dann eben nicht zu Regeln sondern zu Heuristiken.

Für Leute, die dem Konzept des freien Willens nichts abgewinnen könne,
würde ich das ganze so formulieren: Die Bedingungen, die das menschliche
Verhalten determinieren sind derart komplex und vielschichtig, dass es
unmöglich ist, sie in Experimenten derart zu kontrollieren, dass
Wenn-Dann-Aussagen möglich sind.

Mit anderen, naturwissenschaftlich inspirierten Worten: Es handelt
sich um chaotische Systeme.

Aber auch über chaotische Systeme lassen sich spannende Aussagen
machen. Siehe unten.

Im Prinzip ist das zwar eine andere
Argumentationsrichtung, aber sie kommt auf das gleiche heraus: Es ist
nicht möglich, Bedingungen zu reproduzieren, unter denen sich bestimmte
Beobachtungen machen lassen.

Was in der Praxis ja auch außer für die Anerkennung als
naturwissenschaftlich keine sonderlich interessante Frage ist.

Welches Ziel hat nun die Kritische Psychologie, wenn sie schon keine
Wenn-> Dann-Aussagen treffen kann ? Dazu zitiere ich mal Holger Weiß (vom
5.5., 05:22)

Holger Weiss wrote:
* Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org> [2003-04-22 09:11]:

Zugespitzt: Menschen können sich nicht bewußt selbst schaden, wobei
"Schaden" nicht an äußerlichen Maßstäben bestimmbar ist, sondern sich
nach der konkreten Situation, wie es das Individuum erfährt, bemisst.

Somit entspricht _jede_ Handlung schlicht dem Massstab des Individuums
zur Zeit seiner Handlung, right? Das hat was tautologisches, sagt aber
immerhin aus, dass man weitergehende Aussagen offensichtlich nicht
machen kann ;-)

Und ob man weitergehende Aussagen machen kann. Das wirklich Interessante
ist nämlich genau der Massstab des Individuums. Dieser Maßstab ist dem
Individuum selber nämlich nicht immer klar - und noch viel weniger ist
er es anderen Leuten. Wenn man aber irgendwelche Veränderungsprozesse
starten will, dürfte es extrem wichtig sein, diesen Maßstab zu kennen.
Sonst verändert man an dem eigentlichen Problem vorbei.

Ja. Aber hier kommen die Heuristiken durchaus ins Spiel. Wenn ich eine
bestimmte Phänomenologie (wieder)erkenne, wenn ich Techniken kenne,
die mit diese bestimmte Phänomenologie erfahrungsgemäß (d.h.
statistisch signifikant häufig) in eine bestimmte Richtung verändern
(die zwischenliegende Theoriebildung lasse ich der Einfachheit halber
hier mal raus) dann kann - und sollte - ich das im Hinterkopf halten
wenn ich mich mit einer Person befasse. Die Person ist dadurch ja
nicht determiniert, aber es macht schlicht keinen Sinn immer bei Null
anzufangen - und das müsste ich, wenn ich Heuristiken grundsätzlich
nicht anwende.

Aber natürlich liegt hier auch emanzipatorisch gesehen
Gefahrenpotential: Da es sich eben nicht um eine Regel sondern um eine
Heuristik handelt, kann ein konkreter Mensch eben gerade in den
Bereich fallen, in dem die Heuristik nicht gilt. Wenn ich dann die
Heuristik dennoch anwende, dann ist dies ein Entfremdungsprozess
gegenüber diesem konkreten Menschen: Ich kann nicht mehr dem Menschen
gegenüber verantwortlich handeln (weil ich die Grundlagen
diesbezüglich verantwortlichen Handelns verlassen habe).

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Aber deinen Erläuterungen zur Kritischen Psychologie entnehme ich,
dass die das im Grunde ähnlich sieht:

7 days ago Joost Klüßendorf wrote:
da habe ich mir ja was eingebrockt, aber mal sehen, vielleicht geht es
gut :-)

Für mich schon :-) .

Für Elektromotoren mag es nun eine schlaue Idee sein, von einem
allgemeine Gesetz auf den speziellen Fall zu schließen. In der
Psychologie geht das gerne mal schief. Es haben schon so viele Leute
allgemeine Gesetze aufgestellt, dass man gar nicht weiß, welches man
anwenden soll. Zudem ist es bei den meisten Gesetzen unklar, unter
welchen Bedingungen sie angewendet werden können. Und dann gibt es ja
noch den freien Willen.

Mit dem Begriff des Gesetzes hängst du allerdings dem Wunsch nach einer
absoluten Wahrheit an. Ts, ts, ts...

Nun sind meine (indirekten) Begegnungen mit Psychologie stark durch
die Gestalttherapie geprägt - eine weitere der "revolutionären"
psychologischen Schulen aus den frühen 70ern. Aber meine (sehr
eingeschränkte) Wahrnehmung ist, dass diese Erkenntnisse mittlerweile
doch relativ breit geteilt werden.

Was ist nun Psycho*logie*, wenn die Anwendung von allgemeinen Gesetzen
nicht wirklich funktioniert ?
Nun zum einen finde ich diese Erkenntnis an sich schon einmal relativ
wertvoll. Zum anderen aber bleibt m.E. als einzige Möglichkeit den
Vorgang des Schlusses vom Allgemeinen auf das Konkrete zu überdenken.
Der übliche Modus ist, die Bedingungen zu messen, daraus zu schließen,
welches Gesetz zutrifft, und fertig ist die Lauge. Dies geht nun bei der
Psychologie nicht.

Das geht auch in vielen anderen Fällen nicht. In allen, in denen das
Chaos entscheidend ist. Da kann es immer sein, dass ich gerade am
Bifurkationspunkt bin.

Die Psychologie hat aber den Vorteil, dass ihre "Untersuchungsobjekte"
der Sprache mächtig sind, und dass sie so etwas wie eine
Selbstwahrnehmung besitzen, dass sie also zumindest im Prinzip erkennen
können, welche Vorgänge "an ihnen" wirken (oder, um das ganze ein wenig
aktiver auszudrücken: aus welchen Gründen sie so und nicht anders
handeln). Das heißt, es ist zwar nicht *von außen* feststellbar, welche
Gesetze wirken, aber das betreffende Subjekt *selber* kann (zumindest im
Prinzip) diese Feststellung treffen.

Die Erkenntnisse Kritischer Psychologie bestehen in dem Sinne aus zwei
Teilen. Zum einen aus einem Methodenkanon, der angibt, wie Erkenntnis zu
gewinnen ist (nämlich nur durch das Untersuchen, welche
Gesetze/Begründungen im konkreten Einzelfall wirksam sind). Zum anderen
aus einer Menge von "Gesetzen" (oder in ihren eigenen Worten
"Begründungsmustern"), die dem Individuum helfen sollen, seine eigene
Position zu begreifen. Verallgemeinerung läuft dabei nicht über die
Aufstellung von Gesetzen allgemeiner Gültigkeit, sondern über das genaue
Beschreiben von Situationen, welches anderen Individuen dabei helfen
soll, ihre je eigene Situation besser zu verstehen.

Dein "im Prinzip" scheint mir die Stelle zu markieren, wo von die
Heuristik reinkommt. Ja, ja, da wird's heikel. Aber dem ist sich mit
größtmöglicher Achtsamkeit zu stellen. Leugnen und / oder Nichthandeln
sind nämlich oft genug noch heikler.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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