Message 05370 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT05345 Message: 10/91 L2 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt (was: Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft)



Hi Stefan und Liste!

Zunächst ein Dank für die entspannte Reaktion :-) . Ich würde mich
freuen, wenn außer Benni und StefanMz noch andere Leute auf der Liste
ihre Gedanken mit uns teilen würden.

Ich fange mal einen neuen Sub-Thread an, der sich auf die Frage
Außenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt bezieht. Das scheint mir bei
allen bisherigen DiskutantInnen als überaus wichtig erachtet zu
werden. Zur bürgerlichen Wissenschaft sage ich andernthreads was.

Eine Vorbemerkung noch zur Bezeichnung "Gruppenstandpunkt". Ich stelle
mir darunter eigentlich keinen Punkt vor, sondern mehr so eine Art
Wolke - so wie das Elektron auf seiner Kreisbahn um den Atomkern
vielleicht. Und ich möchte auch nochmal betonen, dass ein
Gruppenstandpunkt für mich nichts Überhistorisches ist, sondern
ständig neu bestimmt werden muss.

2 days ago Stefan Meretz wrote:
zunächstmal: prima, dass du deinen Standpunkt explizierst!

Um's nochmal deutlich zu wiederholen: Ich habe bislang keinen
Standpunkt, sondern bin auf der Suche nach einem. Auch Benni hat mir
schon Ähnliches unterstellt. Wie kann ich denn zum Teufel klar machen,
dass ich was diskutieren will :-( ?

Je länger wir hier drüber diskutieren, desto klarer wird mir auch, was
ich so spannend an dem Herrschaftsbegriff, auf einer noch
grundlegenderen Ebene aber eben genau an dem Aspekt Gruppenstandpunkt
finde: Hier definiert sich die Gruppe / ein Sozialsystem / das Soziale
schlechthin. Dies ist ein Ansatz diese Größe menschlichen Seins zu
fassen, den ich bisher zumindest nicht nur in der Wirklichkeit immer
wieder finde, sondern auch einen einleuchtenden und zunächst mal
überhaupt nicht anti-emanzipatorischen Begriff finde.

Wenn ich da bei der Freien Kooperation gucke, dann kann ich nicht
erkennen, wie diese Gedankengänge das Soziale auch nur annähernd
konstituieren. Die Freie Kooperation redet immer nur vom Zerbrechen
von Sozialsystemen wenn nicht gar von ihrer Zerstörung. Damit ist sie
zwar auf der Höhe der aktuellen kapitalistischen Entwicklung, aber
leider zeigt sie mit ihrer strikten Leugnung des Sozialen in exakt die
gleiche Richtung. Ich hatte dazu viel ausgeführt.

Nun ist mir die Freie Kooperation zwar relativ egal, nicht so aber die
Theoriebildung hier. Bei uns klafft nach meiner Wahrnehmung nämlich
exakt dieselbe Lücke: "Wir" wissen viel über das Individuum und haben
dazu auch einiges an Theoriebildung betrieben. Selbstentfaltung dürfte
das wichtigste Stichwort sein. Wie sich das Individuum aber mit
anderen Individuen zusammenfasst und Gruppen bildet - dazu wissen
"wir" bisher einfach nichts. Oder was habe ich so fundamental
übersehen?

Das teilen "wir" nach meiner Wahrnehmung aber mit großen Teilen der
sozialistischen Bewegung, die das auch nicht wirklich auf eine
emanzipatorische Weise und gleichzeitig halbwegs tragfähig hingekriegt
haben. Die AnarchistInnen haben die Gruppenbildung / Konstitution von
Sozialsystemen sehr aus dem Individuum abgeleitet, sind aber m.E. hier
auch nicht sehr weit mit dem Begreifen gekommen, sondern haben sich an
entscheidenden Punkten in sozialromantischen Träumereien oder
Kästchenmalen verloren. Da viele hier wohl eine solche Tradition nicht
verleugnen können, ist das auch hier stark. Finde ich (als Kind einer
individualistischen Gesellschaftsformation) auch von der Perspektive
her richtig. Bei der realsozialistischen / leninistischen Fraktion
lief das sehr stark über den Staat bzw. die Avantgardepartei. Da
überläuft's mich heute noch kalt... Jedenfalls ist mir in beiden
Fällen von einer durchgreifenden Theorie des Sozialen, die auf der
Grundlage dessen beruht, was ich heute als Emanzipation bezeichnen
würde, nicht bekannt. Aber dies wirklich nur als Nebenbemerkung, die
aber zeigen mag, wie groß der weiße Fleck auf der utopischen Landkarte
m.E. tatsächlich ist.

Ich fände es nun sehr spannend, diese Phänomene im menschlichen Sein
theoretisch zu fassen - unter emanzipatorischer Perspektive natürlich
und mit Blick auf unser Standardbeispiel Freie Software. Also so etwas
wie die Oekonux-Theorie des Sozialen ;-) . Nachdem wir hier *endlich*
in eine Debatte eingestiegen sind, sagt mir mein Instinkt, dass "wir"
hier definitiv was zu bieten haben werden - "wir" müssen's "nur noch"
genau durchdenken. Das Ergebnis wird sich nach meinem Gefühl - wie an
vielen anderen Stellen - zwischen der These ("Das Soziale ist der
Kapitalismus") und der Antithese ("Es gibt das Soziale nicht")
bewegen.

Hat mir noch
mal einiges klar gemacht. Ich weiss jetzt deutlicher, warum ich anderer
Meinung bin - auch was gutes!

Ich habe nicht das Gefühl umfassend verstanden worden zu sein - aber
dafür diskutieren wir ja :-) .

Ich würde gerne im Detail auf die Mail eingehen, nur dann kommen 100KB
raus. Und ich stecke mitten in der Konferenz-Vorbereitung
(organisatorisch und inhaltlich).

So it's me. Aber dieser Punkt hier elektrisiert mich total und
deswegen reagiere ich da auch gleich drauf.

Schaffe ich also nicht. Muss ich also
schieben. Nehmen wir uns einfach die Zeit, die Herrschaft rennt uns nicht
weg;-)

Ich habe kein Problem mit Langzeit-Therads / -Themen. Schon oft haben
sich Dinge erst nach längerer Zeit geklärt. Ich bin allerdings
einigermaßen beruhigt, *dass* wir diesen Themenkomplex scheinbar
wenigstens doch diskutieren können. Da war ich mir gar nicht sicher
:-( ...

Kleiner Exkurs Immanenz-Transzendenz aus dem "Empire": Erstmal
Fremdwörterbuch "transzendent": die Grenzen der Erfahrung und der
sinnlich erkennbaren Welt überschreitend; übersinnlich, übernatürlich
(Philos.); Gegensatz: immanent

Schön, dass du das nochmal so deutlich hinschreibst. Nach dieser
Definition ist der Gruppenstandpunkt nämlich alles andere als
transzendent. Er ist zweifellos über- oder besser: zwischenindividuell
und intersubjektiv. Damit ist er kein individueller Standpunkt - klar.
Aber er ist damit noch lange nicht transzendent, denn er überschreitet
eben nicht die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren
Welt. Er ist nicht materiell greifbar - insofern ist er nicht sinnlich
erfahrbar - aber als Denkkonstruktion ist er wie so vieles andere im
menschlichen Leben erfahrbar und seine Auswirkungen sind es sogar
höchst sinnlich. Menschen spüren nämlich, wenn sie gegen oder mit dem
Gruppenstandpunkt handeln. Benni betont das alle Nas' lang, wenn er
sich gegen die Integration in eine Gruppe wehrt. Er *spürt* den
Gruppenstandpunkt, den er so bedrohlich findet.

Als soziales Wesen müssen Menschen auch diese Fähigkeit haben. Wenn
Menschen diese Abstraktionsleistung nicht hinbekämen, dann wären sie
darauf angewiesen, mit dem Nebel der Phänomene - hier: dem
widersprüchlichen Handeln anderer - zurechtzukommen. Ich bezweifle
alledings, dass das in irgendeiner emanzipatorischen Weise geht.
Menschen müssen sich über ihren Handlungsrahmen (möglichst) klar sein,
sonst ist verantwortliches und damit emanzipiertes Handeln gar nicht
möglich.

Ich will ein einfaches Beispiel nehmen: Eine dauerhafte
Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen mit Partnerschaftsanteilen -
zur Vereinfachung mal ohne Kinder. Wenn wir eine solche Beziehung
anschauen, dann gibt es die beiden individuellen Standpunkte - ohne
Zweifel (na gut, *sollte* es geben...). Aber die beiden Liebenden
bilden natürlich bereits eine Gruppe - die Dyade ist die einfachste
Form des Sozialsystems. Es bildet und damit institutionalisiert sich
dadurch, dass die beiden sich individuell darüber klar geworden sind,
dass sie eine gewisse Dauerhaftigkeit zwischen sich wollen. Hier ist
exakt der Punkt, wo sich zwei vorher unverbundene Individuen zu einer
Gruppe verbinden.

Wenn das klar ist, dann gibt es aber eben neben den beiden
individuellen Standpunkten den intersubjektiven Standpunkt der
Liebesbeziehung / Partnerschaft. In den meisten funktionierenden
Beziehungen ist relativ klar, was geht und was nicht - wenn auch oft
unausgesprochen. Und genau dies ist das Normensystem des Sozialsystems
Liebesbeziehung / Partnerschaft. Die Liebesbeziehung / Partnerschaft
ist also erheblich durch diesen Gruppenstandpunkt bestimmt.

Damit sind aber auch die beiden Individuen im Rahmen dieser
Liebesbeziehung - also erstmal nicht darüber hinaus - zunächst mal
bestimmt. Dies spiegelt sich in den Individuen natürlich wieder. Die
Liebenden nehmen z.B. Rücksicht auf die Wehwehchen / Bedürfnisse der
geliebten Person. Im Idealfall sind sie daran interessiert, deren
Selbstentfaltung zu befördern.

Nun frage ich mich, was an einer solchen Situation transzendent oder
äußerlich sein soll. Wenn es so läuft wie ich es geschildert habe -
wozu sicher Menschen mit Selbstverantwortung gehören - dann kann ich
das in keiner Weise als jenseits der erfahrbaren Welt oder den beiden
Individuen als äußerlich betrachten. Es ist zwar intersubjektiv aber
nicht äußerlich. Es ist zwar überindividuell aber nicht transzendent.
Und ich kann auch nicht im Leisesten erkennen, was an diesem
Verständnis von Liebesbeziehung / Partnerschaft anti-emanzipatorisch
sein soll. Die Liebenden werden - als selbstverantwortliche Menschen -
durch keine transzendenten Mächte gesteuert und tun das alles
freiwillig - incl. des Einlassens auf den Gruppenstandpunkt, d.h.
Eingehen der Liebesbeziehung / Partnerschaft.

Aber natürlich kann der Gruppenstandpunkt zum Außenstandpunkt
mutieren: Nämlich genau dann, wenn sich das Sozialsystem, zu dem ein
Gruppenstandpunkt gehört hat, sich von diesem (alten)
Gruppenstandpunkt entfernt / entfremdet. Dann tritt genau das auf, was
du und Benni beschreiben: Der alte Gruppenstandpunkt ist von der
Realität des Sozialsystems abgelöst und tritt den Menschen als fremdes
Konstrukt gegenüber. Es ist sogar transzendent im obigen Sinne, da es
sich in einer neuen Situation eben nicht mehr an einer bestehenden
sozialen Praxis orientiert und *deswegen* eben nicht mehr erfahrbar
ist.

Dieses Konstrukt, das den Liebenden einst geholfen hat ihre sozialen
Beziehungen zu regeln, tritt ihnen dann als äußerlich gegenüber.
Aufgrund der normativen Kraft, die ihm *im Interesse* der
Liebesbeziehung / Partnerschaft einst zugebilligt wurde, wendet es
sich jetzt gegen die Liebesbeziehung / Partnerschaft und damit auch
gegen die Individuen. *Genau hier* wird der Gruppenstandpunkt vom
Hilfsmittel für Selbstentfaltung zum (den Menschen äußerlichen)
Unterdrückungsmittel. *Exakt hier* springt es um von emanzipatorisch
auf anti-emanzipatorisch.

Beispiel gefällig? Das sexuelle Exklusivitätsversprechen - oft
fälschlich als Treue bezeichnet -, das in so vielen Beziehungen gilt,
hilft der Beziehung nur so lange, so lange keiner der Liebenden eine
dritte Person sexuell attraktiv findet (und das ggf. auch lebt). Dann
wendet sich dieses Exklusivitätsversprechen gegen die Individuen. Die
Individuen haben sich aufgrund ihrer individuellen Entwicklung davon
wegentwickelt, dieses Exklusivitätsversprechen für richtig zu halten -
dem sie ja vielleicht mal voller Überzeugung zugestimmt haben. Die
Liebenden haben sich von ihrem alten Gruppenstandpunkt "sexuelles
Exklusivitätsversprechen" entfremdet und er tritt ihnen als äußerlich
und unterdrückend gegenüber.

Was ist dann aber aus emanzipatorischer Sicht zu tun? Nun, scheint mir
ganz einfach: Die Gruppe auflösen :-( oder den Gruppenstandpunkt
aktualisieren :-) . Im geschilderten Fall würde das bedeuten, dass
sich die Liebenden trennen oder eben ein Einvernehmen darüber
erzielen, dass sexuelle Exklusivität eben kein konstitutives Element
ihrer Liebesbeziehung / Partnerschaft mehr ist. Wenn denn die Liebe
noch da ist, wäre letzteres für mich das selbstverantwortlichste und
damit emanzipatorischste Verhalten, das ich mir vorstellen kann.

Und genau hier setzt meine Fragestellung letztlich an. Wenn der
Gruppenstandpunkt ein wichtiges theoretisches Konstrukt ist, das mir
hilft Sozialsysteme zu verstehen - und darauf möchte ich mit meinen
mittlerweile zahllosen Beispielen hinweisen - wenn dieser
Gruppenstandpunkt also ein wichtiges theoretisches Konstrukt ist, dann
käme es darauf an, dieses Konstrukt aus emanzipatorischer Perspektive
abzuklopfen. Und ich gebe euch ja recht, dass dieser Gruppenstandpunkt
zum Außenstandpunkt mutieren kann. Es käme *gerade* darauf an,
Bedingungen anzugeben, unter denen diese Entfremdungseffekte dauerhaft
verhindert werden können, so dass der emanzipatorische Nutzen des
Gruppenstandpunkts erhalten werden kann. Ein paar Hinweise auf m.E.
wichtige Bedingungen habe ich schon angegeben, aber das hat Zeit.
Wichtig ist es erstmal, das theoretische Gerüst zu klären.

Mittlerweile denke ich auch, dass eine strikte Leugnung eines
Gruppenstandpunkts bzw. eine Denunziation als per se
anti-emanzipatorisch die Menschen nur noch als Monaden begreifen
*kann*. Wenn nur noch individuelle Standpunkte gelten dürfen, dann
wird entweder der darin integrierte Standpunkt der Gruppe geleugnet -
was geht, aber m.E. das Verständnis der Wirklichkeit nicht fördert -
oder es kommen eben die bürgerlichen Privatpersonen raus, die durch
nichts Soziales mehr miteinander verbunden sind und denen das Soziale
(von oben) eingeprügelt werden muss, damit nicht das
(anti-emanzipatorische) Chaos regiert. Für die Freie Kooperation habe
ich das bereits ausführlich ausargumentiert, bei "uns" sehe ich da
bisher vor allem wie gesagt eine Leerstelle (die ich gerne schleunigst
füllen möchte, bevor "uns" jemensch - zu Recht - dasselbe Problem
vorwirft ;-) ).

Ich kann aber auch die Frage umdrehen: Wenn es diesen
Gruppenstandpunkt nicht gibt / er per se anti-emanzipatorisch ist, was
konstituiert denn dann das Soziale auf einer theoretischen Basis? Was
ich von der Multitude verstanden habe, scheint mir gerade der hilflose
Versuch, das real existierende Soziale eben nicht betrachten zu
müssen: Eine amorphe Masse, deren Sozialität nicht näher betrachtet
wird. Damit behält mensch zwar ganz bestimmt eine weiße Weste - aber
das Soziale verschwindet nicht dadurch, dass mensch es nicht begreifen
will.

Für die Freie Kooperation habe ich (und andere) ausführlich erläutert,
was dabei herauskommt, wenn das Soziale eben nicht theoretisch gefasst
wird: Es verschwindet dann nicht, sondern es setzt sich hinter dem
Rücken der Menschen durch. Bei der Freien Kooperation letztlich im
ungebremsten Kampf aller gegen aller. Wie vor einiger Zeit schon mal
bemerkt: Die Bürgerlichen sind der Freien Kooperation insofern voraus,
dass sie das Soziale wenigstens nicht leugnen und ihm über den Staat
einen Rahmen geben. Dass dieser bürgerliche Ansatz
anti-emanzipatorisch ist, hatte ich des öfteren dargestellt. Wie sieht
denn nun aber verdammt nochmal die emanzipatorische Lösung aus?

Die Geschichte der "Moderne" beginnt mit der Entdeckung der "Immanenz".
Verkürzt: Der individuelle Mensch ist _selbst_ handlungsmächtig, und
nicht erst vermittels einer transzendenten Macht (Gott). Damit entdeckte
die Menschheit ihre produktive Handlungsmacht (potencia). Aufklärung usw.
waren Ausdruck dieser praktischen "Entdeckung".

Vielleicht ist ja jetzt etwas deutlicher geworden, dass der
(unentfremdete) Gruppenstandpunkt m.E. eben vollständig Ausdruck exakt
dieser Potentia ist.

Gleichzeitig gab es die
Kräfte der Ordnung, die ihre Macht der Beherrschung (potestas) erhalten
wollten.

Ich würde Ordnung nicht mit (entfremdeter) Beherrschung gleichsetzen.

Wie das hinbekommen? Indem man potencia nutzt, um potestas zu
erreichen, oder anders formuliert: Indem man die Kraft der Immanenz
(vereinfacht: die Selbstentfaltung) mit einer transzendenten Instanz
verknüpft. Das ist an erster Stelle (aber nicht allein) der Staat und
sein Inhalt, die Kapitalverwertung.

Das bestreite ich alles gar nicht. Dass das geht, sagt ja sogar Siebel
selbst.

Ich tendiere immer mehr dazu, dass dieser Schritt zur Entfremdung der
entscheidende Punkt ist. Und du zählst auch zwei Beispiele auf, die
wir sicher alle hier als entfremdet verstehen können. Hast du auch
Beispiele, bei denen keine Entfremdung vorliegt?

Wie das geschah, sei erstmal
dahingestellt, entscheidend ist: Ordnung ist nur herstellbar, wenn sich
seine Begründung und Durchsetzung an einen transzendenten Souverän
knüpft.

Nein, er muss nicht transzendent sein.

Ohne Transzendenz keine Ordnung/Struktur und umgekehrt:
Ordnung/Struktur wird selbst zur transzendenten Begründung:
"Ordnung/Struktur muss sein"

Klar, "Ordnung/Struktur muss sein" ist natürlich in seiner schlichten,
entbetteten Nacktheit transzendent. Bestreite ich überhaupt nicht und
habe ich auch nie behauptet.

("Immanent" kannst du das nicht begründen:
immanent würden wir fragen, was wir wollen.

Eben. Und wenn ich Ordnung/Struktur will? Wenn ich es für meine je
eigene Selbstentfaltung für sinnvoll erachte an gewisser Stelle eine
Ordnung zu haben und wenn ich mich mit anderen darauf einige - jeweils
mit engem Bezug auf die je eigene Selbstentfaltung? Was ist daran
transzendent? Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
Gruppenstandpunkt formulierbar. Oder, wenn der Gruppenstandpunkt nicht
sein darf, anders herum: Wie würdest du diese überindividuelle
Konstruktion namens Gruppe theoretisch fassen?

Noch ein Nebengedanke: Wie der Gruppenstandpunkt möglichst
emanzipatorisch rausgekriegt werden kann, davon handelt m.E. u.a. die
Geschichte der Aufklärung - leider mit mäßigem Erfolg. Dennoch:
Demokratie ist verglichen mit dem Gottesreich natürlich ein
erheblicher Schritt auf die Immanenz zu. Schade, das im
"realexistierenden" Sozialismus dieser Schritt verworfen und durch
nichts Besseres ersetzt wurde. Sicher ein wesentlicher Grund, warum
der "realexistierende" Sozialismus wohl vor allem als große
Enttäuschung der Hoffnung auf eine emanzipierte Gesellschaftsformation
betrachtet werden muss.

Wie anti-emanzipatorisch Demokratie aber auch ist, muss ich hier nicht
ausführlich erläutern. Und auch hier muss ich wieder auf den Konsens
kommen: Konsens ist für mich immer noch die emanzipatorischste Form
sich innerhalb der nicht-entfremdeten Gruppenstandpunktswolke zu
bewegen, sich ihr asymptotisch im Prozess der Konsensfindung
anzunähern . Auch oder vielleicht sogar gerade weil Konsens die
Ablösung und damit Entfremdung vom Sozialsystem maximal erschwert.

Eine Anrufung eines "Muss"
ist schlicht unmöglich, denn es wäre immer ein transzendentes "Muss".
Immanenz ist mit Normativen unvereinbar).

Wenn das Normative hilft, die individuelle (und kollektive?)
Selbstentfaltung zu befördern, dann ist es nicht unvereinbar sondern
die Voraussetzung für die Entfaltung der Immanenz.

Du würdest vermutlich argumentieren, dass das nicht geht, dass
Normatives Selbstentfaltung immer verhindert. Dann eine Frage: Worauf
stützt du denn dein Handeln sobald du es sozial tust (also eigentlich
immer)? Ich behaupte: Die Richtlinien deines Handelns, die
Verantwortung, die du dafür empfindest, speisen sich zumindest zum
Teil aus Normensystemen, die dir in deinem bisherigen Leben über den
Weg gelaufen sind. Nur dass du sie internalisiert und variiert hast
und jetzt als deine eigenen ansiehst. Wenn du diese Internalisierung
leugnest, dann postulierst du letztlich die gesellschaftlich
entbettete Monade, die eben ausschließlich aus sich selbst heraus
verantwortliches Handeln konstituiert. Wenn du mich fragst: Eine
bürgerliche Illusion mit den bekannten Folgen.

Genau hier gelte es aus emanzipatorischer Perspektive zu unterscheiden
zwischen Normensystemen, die je deiner Selbstentfaltung helfen und
solchen, die sie behindern. M.E. ist die Entfremdung hier der
Schlüssel.

Mit der Wertkritik kann man nun
leicht die Wertverwertung als Basis der Souveränkonstitution
entschlüsseln.

Zumindest in der Geldgesellschaft. Unbestritten.

Exkurs-Ende und Bogen zuende gespannt: bürgerlich nenne ich nun eine
Sichtweise, die einen transzendenten Ort bemühen muss, ein gedachter
abstrakter Standort ausserhalb des zu Bedenkenden (Gottesreich,
Kommunismus, Gruppenstandpunkt etc.).

Die Frage ist doch, wie sich dieser abstrakte Standort konstituiert.
Gottesreich und auch Kommunismus (Staat, Kapitalismus, alle möglichen
anderen -ismen) zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie die
Immanenz / die Leute eben nicht fragen, sondern in der Tat einfach
einen den Menschen äußerlichen, entfremdeten Standpunkt
hinkonstruieren - aus welchen Motiven auch immer. Vielleicht ist aber
am Beispiel der Liebesbeziehung klarer geworden, dass der
Gruppenstandpunkt nicht Ergebnis einer solchen äußerlichen
Konstruktion sein *muss*, sondern dass es einem Sozialsystem voll
immanente Konstituenten eines Gruppenstandpunkts gibt. Und willst du
die emanzipatorische Perspektive bewahren, dann darf es auch nicht
anders sein. Da sind wir uns ja vermutlich sogar sehr einig.

Die Differenz liegt m.E. jetzt vor allem darin, dass du - ähnlich
Benni - mir zu sagen scheinst: Ein Gruppenstandpunkt kann nicht anders
gedacht werden, als ein solcher entfremdeter / transzendenter
Standpunkt. Damit schüttet ihr m.E. aber das Kind mit dem Bade aus und
das Soziale landet im immaneten Überschwang gleich mit im Orkus.

Von diesem Ort ausserhalb - und nur
von dort - kann ich "Ordnung" herstellen und begründen.

Ah, die Gänsefüßchen deuten wohl an, dass du dir mit der "Ordnung" da
selbst nicht so sicher bist ;-) ...

Das nur als kleine "Irritation" von mir.

...da will ich gerne noch ein bisschen mehr Irritation drauf streuen
;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Wieder eine lange Mail. Aber ich hoffe, dass ich (wieder) ein
bisschen klarer machen konnte, was mich hier so elektrisiert und warum
ich eine emanzipatorische Theorie in diesem Punkt für alles andere als
offensichtlich halte.

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT05345 Message: 10/91 L2 [In index]
Message 05370 [Homepage] [Navigation]