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[ox] Re: Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt



Hi Stefan und Immanente oder Transzendente,

nach meiner Wahrnehmung drehen sich viele der Debatten um Freie 
Kooperation, Selbstentfaltung, Entfremdung und nun Immanenz und 
Transzendenz usw. um in der Tat eine sehr entscheidende Frage, nämlich um 
das, was du "Oekonux-Theorie des Sozialen" genannt hast. Das Spannende an 
Oekonux ist, dass wir mit der Nase drauf gestoßen werden, weil FS eben 
doch ziemlich anders ist als andere "Keimförmchen".

Deswegen ist IMHO für uns das "Empire" von Hardt/Negri von unschätzbarer 
Bedeutung. Es bricht viele Perspektiven auf, die sich (auch bei mir) 
verfestigt haben. Leider ist es nicht einfach zu lesen, und leider 
enthält es auch einiges wirres Zeug (oder ich versteh es nicht) und die 
Politische Ökonomie darin kann man knicken. Ich kann dennoch nur 
empfehlen, es sich mit anderen zu erschliessen, denn es ist nunmal kein 
Gutenacht-Buch.

Die beste Zusammenfassung (vielleicht kommt mir das nur so vor, weil ich 
das "Empire" schon gelesen habe) ist übrigens eine von Robert Foltin 
("Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude. Neue Begrifflichkeiten in der 
linken Diskussion. Zu Hardt/Negris 'Empire'"), erschienen in der 
Zeitschrift "Grundrisse". Eine Online-Version wird versprochen unter 
http://www.grundrisse.net.

Darin gibt es auch einen Artikel von Karl Reitter, der voll in unsere 
Diskussion hier passt: "Repräsentation und Multitude - ein Bericht".

On Saturday 07 September 2002 13:18, Stefan Merten wrote:
Nun ist mir die Freie Kooperation zwar relativ egal, nicht so aber die
Theoriebildung hier. Bei uns klafft nach meiner Wahrnehmung nämlich
exakt dieselbe Lücke: "Wir" wissen viel über das Individuum und haben
dazu auch einiges an Theoriebildung betrieben. Selbstentfaltung dürfte
das wichtigste Stichwort sein. Wie sich das Individuum aber mit
anderen Individuen zusammenfasst und Gruppen bildet - dazu wissen
"wir" bisher einfach nichts. Oder was habe ich so fundamental
übersehen?

Es gibt da viel, letztlich ist das die Baustelle der Soziologie. Siebel 
gehört doch auch dazu. Es ist nur meistens nicht brauchbar, IMHO.

Eine Frage ist aber noch nicht gestellt: Brauchen wir überhaupt eine Art 
"Theorie der Gruppe"? Das ist mir nicht klar. Als Arbeits-Hypothese würde 
ich mal sagen: Nein.

Bei den beiden Sozialpolen "Individuum" und "Gesellschaft" ist die 
Notwendigkeit einer selbstständigen, d.h. kategorial eigenständig 
wissenschaftlich ausweisbaren Theorie wohl unbestritten. Bei der Gruppe 
ist das nicht klar. Hier gibt es beide Varianten: Die Gruppe als Summe 
der Individuen her zu verstehen oder als Portion der Gesellschaft. Sind 
wir einig, das beide Ansätze zu verwerfen sind?

Bleibt eben "die Gruppe" als ebenso eigenständig kategorial fundierte 
Theorie. Was Siebel z.B. macht, ist genau das nicht. Genaugenommen macht 
der gar keine Theorie sondern systematisierte Deskription. Da kann man 
auch einige "Ahas" erleben, aber Theorie ist das eigentlich nicht, denn 
sie erklärt nichts.

Na gut, könnte man ja besser machen wollen als Siebel. Dann müsste man 
aber "die Gruppe" als eigengesetzliche "Ebene" begreifen, die sich 
qualitativ sowohl von der "Ebene" des Individuums wie der Gesellschaft 
abhebt. Das sehe ich nicht. - Ist das jetzt ein Widerspruch zu der obigen 
Aussage, dass die "Gruppe" weder von der "Seite" des Individuums noch der 
Seite der Gesellschaft theoretisch pepackt werden können?

Nein, und in der Auflösung steckt das ganze Dilemma des Themas. Die 
Begründung setzt nun ein Verständnis des Unterschieds von Immanenz und 
Transzendenz voraus. Ich meine nämlich, dass du das nicht richtig siehst. 
Du versuchst "die Gruppe" auf die Seite der Immanenz zu schummeln;-)

Immanenz/Transzendenz kann man auch (vereinfachend) mit 
Innensicht/Außensicht oder Standpunkt erster/dritter Person übersetzen. 
Der immanente/innere/erste Standpunkt ist immer nur von konkreten 
Individuen einnehmbar. Wenn es um eine gewisse Anzahl geht, dann ist es 
eine gewisse Anzahl konkreter Individuen. Das ist auch der Grund, warum 
der Begriff "Multitude" ("Menge" in der unglücklichen deutschen 
Übersetzung) seine zentrale Relevanz hat: Es geht nicht um die Masse 
(oder die Klasse, oder das Volk oder...), sondern um die Vielheit der 
konkreten individuellen Menschen. Jeder Standpunkt, der die je 
individuelle, unmittelbare sinnliche Erfahrung überschreitet, ist eben 
ein transzendenter (siehe Def.). Hier ist das "je", was ich so gerne 
verwende, das zentrale Wörtchen. 

Der Standpunkt einer Gruppe ist ein solcher transzendenter Standpunkt. Er 
überschreitet je meinen Standpunkt. Er liegt außerhalb von je mir, es ist 
ein Außenstandpunkt. Im Empire wird nun gezeigt, dass die Konstitution 
eines solchen transzendenten Standpunkts entscheidend ist zur 
Beherrschung der Multitude. Erst wenn der Standpunkt geschaffen wurde, 
kann er mit Repräsentation verknüpft werden, erst wenn Repräsentation 
hergestellt ist, kann die Multitude beherrscht werden. Repräsentation ist 
nicht die andere Seite von Domination, sondern seine Voraussetzung. Es 
ist eine der zentralen Herrschaftsstrategien.

So wird auch mit der Freien Software als Bewegung umgegangen. Es ist nicht 
"sie" selbst, die danach strebt - das ist ein wichtiger Unterschied! Uns 
fällt das übrigens daran auf, dass es uns schwerfällt, über *die 
FS-Bewegung* zu reden: Es gibt sie eigentlich nicht. Es gibt 
selbstgemachte (wer eigentlich, vielleicht am ehesten Raymond) und 
fremdgemachte Repräsentaten, und es gibt inzwischen Umfragedaten.

Kleiner Exkurs Immanenz-Transzendenz aus dem "Empire": Erstmal
Fremdwörterbuch "transzendent": die Grenzen der Erfahrung und der
sinnlich erkennbaren Welt überschreitend; übersinnlich, übernatürlich
(Philos.); Gegensatz: immanent

Schön, dass du das nochmal so deutlich hinschreibst. Nach dieser
Definition ist der Gruppenstandpunkt nämlich alles andere als
transzendent. Er ist zweifellos über- oder besser: zwischenindividuell
und intersubjektiv. Damit ist er kein individueller Standpunkt - klar.

Nein, nicht klar, sondern genau umgekehrt: ein interindividueller 
Standpunkt existiert nicht. Keiner kann ihn einnehmen. Erst eine 
Erklärung, jemand stehe auf diesem, erzeugt ihn. Und das ist dann 
automatisch der transzendente Drittstandpunkt.

Aber er ist damit noch lange nicht transzendent, denn er überschreitet
eben nicht die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren
Welt. Er ist nicht materiell greifbar - insofern ist er nicht sinnlich
erfahrbar - aber als Denkkonstruktion ist er wie so vieles andere im
menschlichen Leben erfahrbar und seine Auswirkungen sind es sogar
höchst sinnlich. Menschen spüren nämlich, wenn sie gegen oder mit dem
Gruppenstandpunkt handeln. Benni betont das alle Nas' lang, wenn er
sich gegen die Integration in eine Gruppe wehrt. Er *spürt* den
Gruppenstandpunkt, den er so bedrohlich findet.

Der Gruppenstandpunkt ist mitnichten sinnlich, es gibt ihn 
quasi-natürlicherweise nicht. Sondern was bei solchen identitären 
Konstruktionen passiert, ist der sinnliche Bezug zu einem transzendenten 
Standpunkt, der erst hergestellt werden muss. Das gibt es natürlich, 
keine Frage. All die Nationalismen, Rassismen, oder auch 
Menschenrechtstandpunkte usw. gründen darauf. Ich habe Bennis 
Interventionen stets als Ablehnung eben solcher hergestellter 
transzendenter Standpunkte wahrgenommen. Die sind als solche bedrohlich, 
unabhängig vom Inhalt.

Als soziales Wesen müssen Menschen auch diese Fähigkeit haben. Wenn
Menschen diese Abstraktionsleistung nicht hinbekämen, dann wären sie
darauf angewiesen, mit dem Nebel der Phänomene - hier: dem
widersprüchlichen Handeln anderer - zurechtzukommen.

Hier stecken Postulate drin, die nicht haltbar sind. Menschen brauchen 
keine Abstrakta wie irgendwelche "Gruppengesetze", um mit dem Handeln 
anderer "zurechtzukommen". Der "Nebel der Phänomene" ist die sinnliche 
interindividuelle Ebene, auf der nunmal das Leben spielt. Jede/r trifft 
dabei stets immer auch Verallgemeinerungen, doch sind es je meine 
Verallgemeinerungen, die auch je meinen Erfahrungen beruhen (dazu gehört, 
das mir andere ihre Verallgemeinerungen aufschwatzen). Es sind keine, die 
von einem anderen Standort aus zugänglich wären. Das Mittel, sie 
nachvollziehbar für andere zugänglich zu machen, ist das der 
Kommunikation. Das Verstehen, also der Versuch, meine Wahrnehmung als 
eine Variante möglicher Wahrnehmungen aufzunehmen, geschieht wieder nur 
von dem je individuellen Standort aus.

Ich bezweifle
alledings, dass das in irgendeiner emanzipatorischen Weise geht.
Menschen müssen sich über ihren Handlungsrahmen (möglichst) klar sein,
sonst ist verantwortliches und damit emanzipiertes Handeln gar nicht
möglich.

Es gibt nicht "das emanzipierte Handeln". Das ist eine Fiktion. Ich kann 
mich zu den Bedingungen in bestimmter Weise verhalten. Ich kann damit 
meine Handlungsmöglichkeiten in längerer Perspektive einschränken (mir 
damit selbst zum Feinde werden) oder sie erweitern (Stichwort: 
Selbstentfaltung). Dies geschieht wieder von je meinem Standort aus. 
Dieser ist auf dieser Ebene nicht verallgemeinerbar.

Gibt es eine Ebene der Verallgemeinerbarkeit? Ja, die gibt es. Du hast sie 
benannt: Es ist die der intersubjektiven/interindividuellen 
Verständigung. In diesem Medium (will ich das mal nennen: es ist kein 
irgendwie feststellbarer Standort) stellen wir allgemeine gemeinsame 
Handlungsmöglichkeiten fest, weil wir wissen, das je ich mich nur 
entfalten kann, wenn meine Entfaltungbedingung - die Entfaltung der 
anderen - auch gegeben ist.

Ich will ein einfaches Beispiel nehmen: Eine dauerhafte
Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen mit Partnerschaftsanteilen -
zur Vereinfachung mal ohne Kinder. Wenn wir eine solche Beziehung
anschauen, dann gibt es die beiden individuellen Standpunkte - ohne
Zweifel (na gut, *sollte* es geben...). Aber die beiden Liebenden
bilden natürlich bereits eine Gruppe - die Dyade ist die einfachste
Form des Sozialsystems. Es bildet und damit institutionalisiert sich
dadurch, dass die beiden sich individuell darüber klar geworden sind,
dass sie eine gewisse Dauerhaftigkeit zwischen sich wollen. Hier ist
exakt der Punkt, wo sich zwei vorher unverbundene Individuen zu einer
Gruppe verbinden.

Die Dyade ist eine typische transzendente Konstruktion der traditionellen 
Psychologie. Das ist solange kein Problem, wie die Dyade nicht mit 
individuell jenseitigen Bedeutungen aufgeladen wird. "Da ist ne' Gruppe" 
- so what? Aber dabei bleibt es eben nicht...

Wenn das klar ist, dann gibt es aber eben neben den beiden
individuellen Standpunkten den intersubjektiven Standpunkt der
Liebesbeziehung / Partnerschaft. In den meisten funktionierenden
Beziehungen ist relativ klar, was geht und was nicht - wenn auch oft
unausgesprochen. Und genau dies ist das Normensystem des Sozialsystems
Liebesbeziehung / Partnerschaft. Die Liebesbeziehung / Partnerschaft
ist also erheblich durch diesen Gruppenstandpunkt bestimmt.

Das würde die systematische Soziologie wohl so beschreiben. Was sie 
feststellt, ist: Da haben sich zwei einen transzendenten Standpunkt 
gebaut, von dem sie nun ihr Handeln erheblich bestimmen lassen. Na gut, 
sollen sie doch. Das Problem fängt an mit der Behauptung: Das ist immer 
oder natürlicherdings in Partnerschaften so. Das ist falsch, es erzeugt 
Transzendenz, die vorher nicht bestand.

Damit sind aber auch die beiden Individuen im Rahmen dieser
Liebesbeziehung - also erstmal nicht darüber hinaus - zunächst mal
bestimmt. Dies spiegelt sich in den Individuen natürlich wieder. Die
Liebenden nehmen z.B. Rücksicht auf die Wehwehchen / Bedürfnisse der
geliebten Person. Im Idealfall sind sie daran interessiert, deren
Selbstentfaltung zu befördern.

Ja, ist doch prima.

Nun frage ich mich, was an einer solchen Situation transzendent oder
äußerlich sein soll. Wenn es so läuft wie ich es geschildert habe -
wozu sicher Menschen mit Selbstverantwortung gehören - dann kann ich
das in keiner Weise als jenseits der erfahrbaren Welt oder den beiden
Individuen als äußerlich betrachten. Es ist zwar intersubjektiv aber
nicht äußerlich. Es ist zwar überindividuell aber nicht transzendent.

Wie ich darstellte, ist es transzendent: freiwillig gewählter Bezug auf 
einen transzendenten Standpunkt. Nochmal: Ist doch ok. Andere lassen ihr 
Handeln von anderen transzendenten Standpunkten bestimmen.

Und ich kann auch nicht im Leisesten erkennen, was an diesem
Verständnis von Liebesbeziehung / Partnerschaft anti-emanzipatorisch
sein soll. Die Liebenden werden - als selbstverantwortliche Menschen -
durch keine transzendenten Mächte gesteuert und tun das alles
freiwillig - incl. des Einlassens auf den Gruppenstandpunkt, d.h.
Eingehen der Liebesbeziehung / Partnerschaft.

Wenn es für die beiden ok ist, ist es doch gut. Daran ist nichts 
"anti-emanzipatorisches", daran ist auch nichts "emanzipatorisches". Es 
ist einfach so, es ist das Leben mit Entscheidungen von zwei Menschen. 
Anti-emanzipatorisch wird es dann, wenn die Verallgemeinerbarkeit genau 
dieses Verhaltens behauptet wird. Wenn behauptet wird: Das ist immer so, 
das muss so sein, eine Gruppe muss einen transzendenten Standpunkt haben.

Aber natürlich kann der Gruppenstandpunkt zum Außenstandpunkt
mutieren: Nämlich genau dann, wenn sich das Sozialsystem, zu dem ein
Gruppenstandpunkt gehört hat, sich von diesem (alten)
Gruppenstandpunkt entfernt / entfremdet. Dann tritt genau das auf, was
du und Benni beschreiben: Der alte Gruppenstandpunkt ist von der
Realität des Sozialsystems abgelöst und tritt den Menschen als fremdes
Konstrukt gegenüber. Es ist sogar transzendent im obigen Sinne, da es
sich in einer neuen Situation eben nicht mehr an einer bestehenden
sozialen Praxis orientiert und *deswegen* eben nicht mehr erfahrbar
ist.

Also ist das Alte das Gute und das Neue das Entfremdete? Kann es auch 
umgekehrt sein? Wer bestimmt das? Die "Realität des Sozialsystems"? Wie 
ist diese neue transzendente Instanz bestimmt? Hier kommst du völlig ins 
Schleundern, weil du - den transzendenten Standpunkt schon vorausgesetzt 
- nicht mehr entscheiden kannst, wann nun Entfremdung besteht. Du musst 
neue transzendente Standpunkte bauen, von denen es aus dann machbar sein 
soll, aber auch die sind nicht haltbar.

Dieses Konstrukt, das den Liebenden einst geholfen hat ihre sozialen
Beziehungen zu regeln, tritt ihnen dann als äußerlich gegenüber.
Aufgrund der normativen Kraft, die ihm *im Interesse* der
Liebesbeziehung / Partnerschaft einst zugebilligt wurde, wendet es
sich jetzt gegen die Liebesbeziehung / Partnerschaft und damit auch
gegen die Individuen. *Genau hier* wird der Gruppenstandpunkt vom
Hilfsmittel für Selbstentfaltung zum (den Menschen äußerlichen)
Unterdrückungsmittel. *Exakt hier* springt es um von emanzipatorisch
auf anti-emanzipatorisch.

Die eigenen Interessen können die Menschen immer nur selbst wahrnehmen. An 
dem Übergang ist nichts exakt. Wer beurteilt, was *im Interesse* der 
Partnerschaft ist? Wenn alles fluppt, beide in Übereinstimmung. Wenn es 
kracht, dann wirst du sehen wie sich plötzlich die je individuelle Sicht 
auf dieses *Interesse* Geltung verschafft. Dann platzt der transzendente 
Bezug.

Und genau hier setzt meine Fragestellung letztlich an. Wenn der
Gruppenstandpunkt ein wichtiges theoretisches Konstrukt ist, das mir
hilft Sozialsysteme zu verstehen - und darauf möchte ich mit meinen
mittlerweile zahllosen Beispielen hinweisen - wenn dieser
Gruppenstandpunkt also ein wichtiges theoretisches Konstrukt ist, dann
käme es darauf an, dieses Konstrukt aus emanzipatorischer Perspektive
abzuklopfen. Und ich gebe euch ja recht, dass dieser Gruppenstandpunkt
zum Außenstandpunkt mutieren kann. Es käme *gerade* darauf an,
Bedingungen anzugeben, unter denen diese Entfremdungseffekte dauerhaft
verhindert werden können, so dass der emanzipatorische Nutzen des
Gruppenstandpunkts erhalten werden kann. Ein paar Hinweise auf m.E.
wichtige Bedingungen habe ich schon angegeben, aber das hat Zeit.
Wichtig ist es erstmal, das theoretische Gerüst zu klären.

Du hast viele Beispiele gegeben. Dazu gibt es viele Gegenbeispiele. Sie 
sagen nichts über den theoretischen Gehalt. Dieser ist: Der 
Gruppenstandpunkt ist ein transzendenter Standpunkt sui generis. Er 
existiert nicht, er muss erst denkend konstruiert werden.

Mittlerweile denke ich auch, dass eine strikte Leugnung eines
Gruppenstandpunkts bzw. eine Denunziation als per se
anti-emanzipatorisch die Menschen nur noch als Monaden begreifen
*kann*. Wenn nur noch individuelle Standpunkte gelten dürfen, dann
wird entweder der darin integrierte Standpunkt der Gruppe geleugnet -
was geht, aber m.E. das Verständnis der Wirklichkeit nicht fördert -
oder es kommen eben die bürgerlichen Privatpersonen raus, die durch
nichts Soziales mehr miteinander verbunden sind und denen das Soziale
(von oben) eingeprügelt werden muss, damit nicht das
(anti-emanzipatorische) Chaos regiert. 

Das ist jetzt ein etwas fieses Argument. Es verknüpft die berechtigte 
Kritik am "Monadenstatus" der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft 
mit der aus meiner Sicht völlig verfehlten Forderung, es müssen einen 
Gruppenstandpunkt geben. Gerade die im "Empire" (wenn ich nur mal das 
nehme) dargelegte Sicht ist in der Lage die Menschen in ihrer Vielheit 
wahrzunehmen. Gerade dort wird dargelegt, das alle 
Unterdrückungsstrategien darauf hinausliefen, transzendente Standpunkte 
mit repräsentativen Instanzen zu versehen, die dann im vorgeblich 
*gemeinsamen Interesse* die Partialinteressen der Herrschenden 
durchsetzen. So funktioniert bürgerliche Demokratie, und das ist die 
Rolle von NGOs.

Ich tendiere immer mehr dazu, dass dieser Schritt zur Entfremdung der
entscheidende Punkt ist. Und du zählst auch zwei Beispiele auf, die
wir sicher alle hier als entfremdet verstehen können. Hast du auch
Beispiele, bei denen keine Entfremdung vorliegt?

Ja, meine Aktivität im Oekonux-Kontext.

Klar, "Ordnung/Struktur muss sein" ist natürlich in seiner schlichten,
entbetteten Nacktheit transzendent. Bestreite ich überhaupt nicht und
habe ich auch nie behauptet.

Oh, die "Ordnung" ist immer gut begründet, niemals "nackt". Immer aber 
transzendent.

("Immanent" kannst du das nicht begründen:
immanent würden wir fragen, was wir wollen.

Eben. Und wenn ich Ordnung/Struktur will? Wenn ich es für meine je
eigene Selbstentfaltung für sinnvoll erachte an gewisser Stelle eine
Ordnung zu haben und wenn ich mich mit anderen darauf einige - jeweils
mit engem Bezug auf die je eigene Selbstentfaltung? Was ist daran
transzendent?

Nichts.

Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
Gruppenstandpunkt formulierbar.

Nein. Du kannst deine Sicht haben, du kannst behaupten, es gäbe den GS, du 
kannst ihn dir wünschen, du kannst darum kämpfen. Aber niemand und nichts 
entscheidet: Es gibt einen Gruppenstandpunkt und das issa. Jeder Versuch 
müsste sich aus der Immanenz begeben, und den GS an überindividuelle 
Gegebenheiten binden: so ist es nun mal, das ist die Mehrheitsmeinung, 
die praktische Erfahrung zeigt es doch, es funktioniert doch so usw. Das 
sind Bindungen an transzendente "Instanzen", nur das nicht mehr "Gott" 
oder die "Wahrheit" ist.

Oder, wenn der Gruppenstandpunkt nicht
sein darf, anders herum: Wie würdest du diese überindividuelle
Konstruktion namens Gruppe theoretisch fassen?

Oben habe ich dazu was geschrieben. Ich würde erstmal zurückfragen: Wozu 
brauchst du eine theoretische Begründung für eine überindividuelle 
Konstruktion namens Gruppe?

Eine Anrufung eines "Muss"
ist schlicht unmöglich, denn es wäre immer ein transzendentes "Muss".
Immanenz ist mit Normativen unvereinbar).

Wenn das Normative hilft, die individuelle (und kollektive?)
Selbstentfaltung zu befördern, dann ist es nicht unvereinbar sondern
die Voraussetzung für die Entfaltung der Immanenz.

Normative sind immer transzendent und damit strukturell gegen 
Selbstentfaltung gerichtet. Sich selbst zu entfalten bedeutet gerade und 
immer mehr, genau sich nicht normkompatibel zu verhalten. Oder mit 
"Empire": Genau das Nichtnormative und das Nicht-Normierbare ist die 
Grundlage der Produktivität der Multitude. Finde ich, passt gut zur FS.

Du würdest vermutlich argumentieren, dass das nicht geht, dass
Normatives Selbstentfaltung immer verhindert. Dann eine Frage: Worauf
stützt du denn dein Handeln sobald du es sozial tust (also eigentlich
immer)? Ich behaupte: Die Richtlinien deines Handelns, die
Verantwortung, die du dafür empfindest, speisen sich zumindest zum
Teil aus Normensystemen, die dir in deinem bisherigen Leben über den
Weg gelaufen sind. Nur dass du sie internalisiert und variiert hast
und jetzt als deine eigenen ansiehst.

Hier verstrickst du dich in deine eigenen Argumente. Du leitest wieder aus 
Beschreibung des "so isses" (wer hat nicht irgendwas internalisiert...) 
ein "so muss es sein" ab. Ich sage: Selbstentfaltung bedeutet immer auch, 
mit verinnerlichten Normativen zu brechen.

Wenn du diese Internalisierung
leugnest, dann postulierst du letztlich die gesellschaftlich
entbettete Monade, die eben ausschließlich aus sich selbst heraus
verantwortliches Handeln konstituiert. Wenn du mich fragst: Eine
bürgerliche Illusion mit den bekannten Folgen.

Deine Logik ist: Du brauchst Internalisierung, damit die Menschen 
verantwortlich handeln. Ich sage: Selbstentfaltung ist gleichbedeutend 
damit, verantwortlich zu handeln. Da ist nichts "extra", im Gegenteil, 
jedes "extra" - etwa Normen -, die eigentlich Verantwortlichkeit 
erreichen sollen, zerstören sie letztlich, weil sie Selbstentfaltung 
verunmöglichen oder ihr mindestens hinderlich im Weg stehen. Und die 
Monade ist doch genau der sich selbst beschränkende und sich beschränken 
lassende Mensch, der sich auf Kosten Anderer behauptet. Also genau, der 
seine eigene Selbstentfaltung durch die Zerstörung der 
Entfaltungsbedingungen zerstört, sich selbst schadet.

Genau hier gelte es aus emanzipatorischer Perspektive zu unterscheiden
zwischen Normensystemen, die je deiner Selbstentfaltung helfen und
solchen, die sie behindern. M.E. ist die Entfremdung hier der
Schlüssel.

Nein. Dann sind wir beim Ethik/Moral/Normendiskurs dieser Gesellschaft. Da 
geht es nur darum, wie der transzendente Standpunkt begründet wird, von 
dem aus dann die Ethik usw. entwickelt wird: von Gott, den 
Menschenrechten - oder der "Selbstentfaltung"?? Nein, das kann es nicht 
sein.

Die Differenz liegt m.E. jetzt vor allem darin, dass du - ähnlich
Benni - mir zu sagen scheinst: Ein Gruppenstandpunkt kann nicht anders
gedacht werden, als ein solcher entfremdeter / transzendenter
Standpunkt.

Wie ich deutlich machte: transzendent muss nicht notwendig bedeuten 
entfremdet. Die "Entfremdung" tritt erst auf, wenn Prinzipien 
verallgemeinert werden sollen. Solange transzendentale Wünsche sozusagen 
"immanent" bleiben, ist es eben Sache der Individuen, ist es je meine 
Sache. Da hat sich keiner reinzumischen.

Damit schüttet ihr m.E. aber das Kind mit dem Bade aus und
das Soziale landet im immaneten Überschwang gleich mit im Orkus.

Nein, nur so kann das sich selbstkonstituierende Soziale gedacht werden. 
Mal als Kurzformel.

PS: Wieder eine lange Mail. Aber ich hoffe, dass ich (wieder) ein
bisschen klarer machen konnte, was mich hier so elektrisiert und warum
ich eine emanzipatorische Theorie in diesem Punkt für alles andere als
offensichtlich halte.

Verstehe ich sehr gut. Wir sind halt alle davon betroffen. Deswegen bin 
ich anderenorts auch etwas emotionaler geworden. Kann passieren. Ist 
nicht persönlich gemeint.

Ciao,
Stefan

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