Message 05372 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT05345 Message: 11/91 L3 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt (was: Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft)



Hallo Liste
Am Samstag, 7. September 2002 um 13:18 schrieben sie:


SM> Damit sind aber auch die beiden Individuen im Rahmen dieser
SM> Liebesbeziehung - also erstmal nicht darüber hinaus - zunächst mal
SM> bestimmt. Dies spiegelt sich in den Individuen natürlich wieder. Die
SM> Liebenden nehmen z.B. Rücksicht auf die Wehwehchen / Bedürfnisse der
SM> geliebten Person. Im Idealfall sind sie daran interessiert, deren
SM> Selbstentfaltung zu befördern.

SM> Nun frage ich mich, was an einer solchen Situation transzendent oder
SM> äußerlich sein soll.

 Vielleicht hab ich dich nicht richtig verstanden, aber in gewisser
 Hinsicht ist eine Partnerschaft eben jenes Produkt, welches im
 Idealfall auf zwei gegenteiligen Polen beruht, deren Synthese die
 Liebe ist, welche bei weitem nicht rational zu erklären ist, auch wie
 sich das Individuum danach verhält ;-), also schon eine transzendente
 Erfahrung.
 Aber Transzendenz hat auch was mataphysisches, ich kenne das Wort nur
 aus der hinduistischen Vorstellung, wo man die Welt als
 Traumkonstrukt sieht, hinter welchem eben die transzendente
 Vorstellung liegt, diese aber für westliches Verständniss schon fast
 bizarr zu erreichen gedenkt.
 

SM> Aber natürlich kann der Gruppenstandpunkt zum Außenstandpunkt
SM> mutieren: Nämlich genau dann, wenn sich das Sozialsystem, zu dem ein
SM> Gruppenstandpunkt gehört hat, sich von diesem (alten)
SM> Gruppenstandpunkt entfernt / entfremdet. Dann tritt genau das auf, was
SM> du und Benni beschreiben: Der alte Gruppenstandpunkt ist von der
SM> Realität des Sozialsystems abgelöst und tritt den Menschen als fremdes
SM> Konstrukt gegenüber. Es ist sogar transzendent im obigen Sinne, da es
SM> sich in einer neuen Situation eben nicht mehr an einer bestehenden
SM> sozialen Praxis orientiert und *deswegen* eben nicht mehr erfahrbar
SM> ist.

Das ist eigentlich nicht transzendent, sondern eher nur eine andere
Meinung. Aber gehen wir mal davon aus, es ist Transzendent, dann würde
der alte Gruppenstandpunkt in einen anderen philosophischen Bereich
übergehen, der über die Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung der
anderen Teilnehmer hinausführt, das heißt man verläßt das Rationale und
nähert sich der Metaphysik. Aber ein ganzes Sozialsystem verläßt
meiner Erfahrung nach nie die rationale Vorstellung, Transzendenz ist eher
ein individuelles Erleben.

SM> Beispiel gefällig? Das sexuelle Exklusivitätsversprechen - oft
SM> fälschlich als Treue bezeichnet -, das in so vielen Beziehungen gilt,
SM> hilft der Beziehung nur so lange, so lange keiner der Liebenden eine
SM> dritte Person sexuell attraktiv findet (und das ggf. auch lebt). Dann
SM> wendet sich dieses Exklusivitätsversprechen gegen die Individuen. Die
SM> Individuen haben sich aufgrund ihrer individuellen Entwicklung davon
SM> wegentwickelt, dieses Exklusivitätsversprechen für richtig zu halten -
SM> dem sie ja vielleicht mal voller Überzeugung zugestimmt haben. Die
SM> Liebenden haben sich von ihrem alten Gruppenstandpunkt "sexuelles
SM> Exklusivitätsversprechen" entfremdet und er tritt ihnen als äußerlich
SM> und unterdrückend gegenüber.

Ich glaube nicht, daß man sie dann noch als Liebende bezeichnen kann,
eher will man mehr und mehr.
Es müßte hier definiert werden was Liebe und was wirtschaftliches
Zusammenleben unterscheidet und warum man gezwungen ist, eine auf
wirtschaftlicher Basis gezeugte Ehe oder Verbindung einzugehen.

SM> Und wenn ich Ordnung/Struktur will? Wenn ich es für meine je
SM> eigene Selbstentfaltung für sinnvoll erachte an gewisser Stelle eine
SM> Ordnung zu haben und wenn ich mich mit anderen darauf einige - jeweils
SM> mit engem Bezug auf die je eigene Selbstentfaltung? Was ist daran
SM> transzendent? Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
SM> Gruppenstandpunkt formulierbar. Oder, wenn der Gruppenstandpunkt nicht
SM> sein darf, anders herum: Wie würdest du diese überindividuelle
SM> Konstruktion namens Gruppe theoretisch fassen?

Ordnung und Struktur ist in gewisser Hinsicht schon transzendent, wenn
ich so darüber nachdenke. Die Menschen in der Frühzeit sahen die
Ordnung nur in den Sternen oder dem Mondzyklus welcher es ihnen
ermöglichte, Vorraussagungen zu treffen, deshalb auch diese Panik bei
einer Sonnenfinsternis, die dann diese Ordnung mangels Verständnis
stört. Aus dieser Ordnung heraus entwickelte sich dann die Mathematik
etc., wobei man nicht sagen kann, warum die Ordnung so ist, wie sie
ist, also transzendent.
Eine Gruppe versucht mehr zu erreichen, als es dem einzelnen möglich
ist, eine Art Bildungspool. Dieser Bildungspool ist dann den wilden
Tieren oder den Naturkatastrophen überlegen und sichert somit seinen
Fortbestand. Oberstes Ziel einer Gruppe ist das Fortbestehen, in
weltlicher Hinsicht ganz lapidar Kinder, in geistiger der Fortbestand
der Idee. Um so größer die Gruppe, desto höher die Chancen für dieses
Anliegen. Die Entfaltung des einzelnen tritt dann allerdings hinter
diesen Auftrag, das heißt, ich bin bereit mich zu opfern, sollte es
nötig sein, damit den Fortbestand zu sichern.
Also nach außen hin, gegen rivalisierende Gruppen kann man mit einer
eigenen Gruppe immer besser bestehen, als allein.

SM> Noch ein Nebengedanke: Wie der Gruppenstandpunkt möglichst
SM> emanzipatorisch rausgekriegt werden kann, davon handelt m.E. u.a. die
SM> Geschichte der Aufklärung - leider mit mäßigem Erfolg. Dennoch:
SM> Demokratie ist verglichen mit dem Gottesreich natürlich ein
SM> erheblicher Schritt auf die Immanenz zu. Schade, das im
SM> "realexistierenden" Sozialismus dieser Schritt verworfen und durch
SM> nichts Besseres ersetzt wurde. Sicher ein wesentlicher Grund, warum
SM> der "realexistierende" Sozialismus wohl vor allem als große
SM> Enttäuschung der Hoffnung auf eine emanzipierte Gesellschaftsformation
SM> betrachtet werden muss.

Der Sozialismus lebt meiner Meinung nach vom Kampf gegen eine
herrschende Kaste, wird aber nach Erfolg eben zu dieser.
Ein gutes Buch dazu ist 'Im Räderwerk' von J. P. Sartre.
Den Bauern interessiert das reichlich wenig, da er nur um den
Fortbestand seiner Sippe interessiert ist und nicht an ideologischen
Gesichtspunkten. Für ihn geht es darum, ob eine Verbesserung seiner
Lebensumstände eintritt oder nicht. Leider ist es so, daß der Arbeiter
nach einer Stürzung der Oberkaste immer noch in derselben Fabrik steht
wie vorher, das ist in der Demokratie nicht viel anderst, nur hat das
Individuum den Nachteil, daß ihm suggeriert wird, er wäre selber
Schuld an seiner Misere.

SM> Wie anti-emanzipatorisch Demokratie aber auch ist, muss ich hier nicht
SM> ausführlich erläutern. Und auch hier muss ich wieder auf den Konsens
SM> kommen: Konsens ist für mich immer noch die emanzipatorischste Form
SM> sich innerhalb der nicht-entfremdeten Gruppenstandpunktswolke zu
SM> bewegen, sich ihr asymptotisch im Prozess der Konsensfindung
SM> anzunähern . Auch oder vielleicht sogar gerade weil Konsens die
SM> Ablösung und damit Entfremdung vom Sozialsystem maximal erschwert.

Konsens ist der Grundpfeiler einer Gruppe, am wichtigsten ist aber
Toleranz, nur wann muß diese aufgehoben werden ?

SM> Du würdest vermutlich argumentieren, dass das nicht geht, dass
SM> Normatives Selbstentfaltung immer verhindert. Dann eine Frage: Worauf
SM> stützt du denn dein Handeln sobald du es sozial tust (also eigentlich
SM> immer)? Ich behaupte: Die Richtlinien deines Handelns, die
SM> Verantwortung, die du dafür empfindest, speisen sich zumindest zum
SM> Teil aus Normensystemen, die dir in deinem bisherigen Leben über den
SM> Weg gelaufen sind. Nur dass du sie internalisiert und variiert hast
SM> und jetzt als deine eigenen ansiehst. Wenn du diese Internalisierung
SM> leugnest, dann postulierst du letztlich die gesellschaftlich
SM> entbettete Monade, die eben ausschließlich aus sich selbst heraus
SM> verantwortliches Handeln konstituiert. Wenn du mich fragst: Eine
SM> bürgerliche Illusion mit den bekannten Folgen.

Seh ich auch so. Was fehlt ist wohl das gemeinsame Ziel.

SM> Genau hier gelte es aus emanzipatorischer Perspektive zu unterscheiden
SM> zwischen Normensystemen, die je deiner Selbstentfaltung helfen und
SM> solchen, die sie behindern. M.E. ist die Entfremdung hier der
SM> Schlüssel.

Was denn für eine Selbstentfaltung, die sollte ja auch irgendwohin
führen. Ist Selbstentfaltung, wenn ich mich auf den Balkon stelle und
herunterpinkle ? Das Problem ist m. E. das fehlende gemeinsame Ziel,
man ist mittlerweile wieder an dem alten römischen Problem der 'panem
et circenses' Gesellschaft angekommen, in der es an jedem sozialen
Verhalten irgendwann mangelt, da man nicht weiß, was nun noch gemacht
werden sollte.

Exkurs-Ende und Bogen zuende gespannt: bürgerlich nenne ich nun eine
Sichtweise, die einen transzendenten Ort bemühen muss, ein gedachter 
abstrakter Standort ausserhalb des zu Bedenkenden (Gottesreich, 
Kommunismus, Gruppenstandpunkt etc.).

Nun, eben das gemeinsame Ziel. Ansonsten gebe es ja keine
Fortentwicklung, und ohne einen tranzendenten Ort wäre es das Ende
aller Illusionen.

-- 
Grüße
Uli

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT05345 Message: 11/91 L3 [In index]
Message 05372 [Homepage] [Navigation]