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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



am 17.07.2001 18:26 Uhr schrieb KXX4493553 aol.com unter KXX4493553 aol.com:

Lieber Johannes, ich bin kein Musiker, habe mich mal wieder anlässlich seines
50. Todestages mit Schoenberg beschäftigt - wenn das so ist, wie du das
sagst, wird das schon so stimmen. Aber sind Leute wie Webern oder Berg
wirklich nur "Sklaven ihres Materials" gewesen? Und hat Hans Eissler nicht
aufgezeigt, dass man auch "andere Konsequenzen" ziehen konnte?

Lieber Kurt-Werner, ich habe diese mail nicht nur geschrieben um die
Zwölftontechnik zu rehabilitieren, sondern weil mich darüber hinaus das
Verhältnis von Reflexion und Rationalisierung interessiert.
Zu Deinen Fragen, nein, Alban Berg und Hanns Eisler haben diese Technik
allerdings souverän beherrscht, wenn sie auch nicht von allen Möglichkeiten
Gebrauch machten. Und Webern war ein Sklave, weil er sich zu einem gemacht
hat. Warum, dafür lassen sich viele Gründe aufführen und ohne den Hinweis
auf seine subjektive psychische Konstitution geht das Ganze nicht auf. Das
die Seriellen nun gerade ihn als den einzig "konsequenten" Zwölftöner zu
ihrem Vorbild machten, war ein doppeltes Mißverständnis.
Man bedenke dabei allerdings, daß die Seriellen damals ganz junge Spunte
waren, begeisterte jugendliche hacker, die der Musik mit Parametern zu Leibe
rückten um ihr Geheimnis zu knacken. Das muß man sich mal vorstellen: der
neunzehnjährige Boulez hört zum erstenmal Schönbergs Bläserquintett, steht
hinterher auf und erklärt volltönend, daß jede neue Komposition, die keine
Zwölftontechnik verwende, für den Papierkorb geschrieben sei - und die Welt
hält den Atem an! Kurz darauf erklärt er Schönberg noch zu dessen Lebzeiten
für "tot", während Stockhausen die alte Komponistengarde aus dem
Elektronikstudio des WDR herausmobbt. Wenn man dann noch bedenkt, daß
Adorno, voller Angst die Zeichen der Zeit zu verkennen, diesen Schnöseln
trotz einiger Kritik dennoch eine weitgehende musikwissenschaftliche
Legitimation verschaffte, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von
Reflexion und Produktion in einer Weise, die auch wieder den Brückenschlag
zum Phänomen "freie Software" erlaubt.
Einmal zeigt sich aufs Neue, daß Innovationen einen ungemein betörenden und
benebelnden Charakter haben. Es wird ersteinmal drauflosphantasiert und man
glaubt jedesmal den Stein der Weisen, die Weltformel gefunden zu haben. Die
reflexive Seite ist in dieser Situation objektiv überfordert. Daneben gibt
es auch die Tendenz, daß sich der technische skill und das reflexive
Bewußtsein auseinanderentwickeln, soweit, daß die Reflexion auch nicht mehr
die Möglichkeiten der Technik erfasst. Adorno vergleicht die Seriellen, die
die komplexesten musikalischen Strukturen erzeugen und dabei nicht mehr in
der Lage sind, einen einfachen vierstimmigen Satz durchzuhören, mit Kindern,
die an den Schalthebeln komplizierter Maschinen stehen. Insofern beschwert
sich Benni zurecht, wenn er moniert, daß viele Oekonuxer bei hohem
theoretischen Interesse kaum über software informiert sind (ich kann mich
gleich dazu gesellen). In Anlehnung an Plato ließe sich sagen, entweder
müssen die Theoretiker Softwareexperten oder die Softwareexperten
Theoretiker werden...

Ich bin ja fest davon überzeugt, daß Kunst und Musik nicht nur die
gesellschaftliche Situation widerspiegeln, sondern auch konkret neue
Situationen utopisch vorwegnehmen können. Und -Adorno war ja manchmal
wirklich großartig- wenn es keine solche utopische Kunst zu geben scheint,
dann können wir zumindest formulieren, wie eine solche auszusehen hätte.
Das hat Adorno in einer Schrift mit dem interessanten Titel "Vers une
musique informelle" getan. Da sehe ich zu dem Oekonux-Projekt insofern
Parallelen, als hier die Frage nach einer freien Gesellschaft immer mit
der Frage verbunden ist, welche Aufgaben eigentlich eine freie
Software erfüllen muß.


JohSt

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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