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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



In einer eMail vom 14.07.01 19:45:42 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt 
stefan.meretz hbv.org:

Wenn du dich um eine direkte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der
 Kunst innerhalb der i.w.S. freien Software bemühen willst i.S. der
 Softwareentwicklung als Kunst, dann empfehle ich Donald Knuth: The Art
 of Computer Programming.

Lieber Stefan, vielen Dank für den Tipp. Um dir angemessen antworten zu 
können, müsste ich länger ausholen, aber dazu fehlt mir im Moment leider die 
Zeit. Das Abtippen der Passagen bei Groys hat schon lange genug gedauert.  
Ich will nur so viel sagen: ohne die Vorarbeiten dieser modernen 
KünstlerInnen gäbe es so etwas wie Oekonux überhaupt nicht, und es waren in 
erster Linie KünstlerInnen - bildende Künstler, Architekten, Literaten -, die 
sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gedanken über das Verhältnis 
von technologischer Entwicklung und der jeweiligen Gesellschaftsformation 
machten - wie verzerrt und defomiert auch immer, aber immerhin. Und auch 
damals wurde sich an den jeweils avanciertesten Techniken und an den 
avanciertesten ästhetischen Prinzipien ausgerichtet. Ohne die Stilmittel der 
modernen Kunst und nicht zuletzt des Films (Collage, Montage, Überblendung, 
"Schock"-Ästhetik etc.) wären die heutigen Video-Clips und die Computerspiele 
gar nicht denkbar. Und was die Parallelen betrifft: das Verhältnis von 
Politik, Macht und Intelligentsia wurde damals unter dem Stichwort "Macht und 
Geist" abgehandelt, zumindest in Deutschland; die russische 
Produktionsästhetik wollte mittels neuer Alltagsprodukte auch die sozialen 
Beziehungen verändern und den "neuen Menschen" schaffen; Vertreter des 
Bauhauses entwarfen utopische Städte, wo eine neuartige funktionale 
Architektur für eine neue (damals noch sozialistische) Gesellschaft entstehen 
sollte, usw.  Und ist nicht die "Zaum"-Sprache Chlebnikovs so etwas wie der 
Versuch, eine Art Programmiersprache (in heutiger Terminologie) zu schaffen? 
Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden auch die Wissenschaften Linguistik, 
Semiotik und Strukturalismus (nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den 
damals neu entstehenden modernen Ästhetiken), ohne deren Vorarbeiten die 
heutige Informatik auch ziemlich alt aussähe. Also es gibt da jede Menge 
Parallelen, der Unterschied besteht darin, dass "die Intelligenz" die 
"Eroberung der Macht" auf ihre Fahnen schrieb, währenddessen heutzutage 
gerade "machtfreie Räume" geschaffen werden sollen (von den Zapatisten bis 
Oekonux, Subcommandante Marcos mit Laptop im Urwald...). Aber ich bin da 
(zumindest in diesem Punkt) Foucaultianer, wenn man die Macht zur Vordertür 
rausschickt, schleicht sie zur Hintertür wieder rein. Wenn es keine Macht 
ohne Widerstand gibt, gibt es auch keinen Widerstand ohne Macht. 
Und noch etwas. mich beschleicht das Gefühl (es ist, wie gesagt, vorläufig 
nur ein Gefühl), dass ihr hier die "Zwei Kulturen"-Theorie reproduziert, d. 
h. die strikte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, oder noch 
genauer: die zwischen Humanwissenschaften und i. w. S. "kybernetischen" 
Theorien. Informatik, garniert mit ein paar "passenden" Marx-Zitaten (in über 
30 Bänden MEW ist immer was Passendes zu finden), befriedigt mich allein noch 
nicht. Ich will auch den Zaun zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern 
einreißen, so dass man sich in euren "Diskurs" einbringen kann. Aber das kann 
deswegen nicht gelingen, weil sich ein Großteil der Debatten auf "proprietär 
oder nicht proprietär - das ist hier die Frage" reduziert, z. T. in 
Endlos-Debatten über irgendwelche juristischen Klimmzüge. Ich will die 
Wichtigkeit dieser Debatten nicht in Frage stellen, aber für jemand wie mich, 
der eben "aus einer anderen Ecke" kommt, ist das etwas frustrierend, zu 
sehen, wie wichtige Aspekte völlig ausgeklammert eben, z. B. das 
"Zwei-Kulturen"-Dilemma.

Habe ich mich jetzt etwas verständlicher ausgedrückt?

Kurt-Werner Pörtner
 
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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