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[ox] Technik und Selbstentfaltung (was: Re: "Flügel")



Hi Thomas, Lutz, Annette, Listige!

Diesen Thread finde ich hochspannend. Nach meinem Gefühl werden hier
ein paar ganz wichtige Sachen diskutiert, die unsere Gedankengänge
(u.a.) entscheidend von alten Sachen unterscheiden: Der positive Bezug
auf moderne Technik. So gesehen war "Flügel" eigentlich ein gutes
Subject ;-) . Ich hab's dennoch mal geändert.

Wichtig an diesem Thread ist aber auch der Kern des Threads: Das
Verhältnis von Technik zur individuellen und kollektiven
Selbstentfaltung.

Ich versuch's mal und beantworte mehrere Mails in dieser hier.

Last week (7 days ago) Thomas Uwe Gruettmueller wrote:
On Son, 01 Okt 2000, Annette Schlemm wrote:
Was heißt das bei Dir "die technischen Aspekte für das Wesentliche
halten"???

Ich halte es für zunächst unwesentlich, ob ein Programm von Linus zum Spaß,
von RMS aus Überzeugung oder von einem Angestellten der SuSE GmbH zum
Broterwerb geschrieben wird. In allen drei Fällen entsteht Freie Software,
die uns allen zugute kommt und uns einer Welt ein Stück näherbringt, in der
wir alle zum Spaß oder aus Überzeugung irgendwelche Dinge tun und nicht mehr
zum Broterwerb.

Was Thomas hier unterstreicht finde ich wichtig: Wir müssen *noch über
die Produktivität des Kapitalismus hinaus* Technik haben, die uns die
Notwendigkeiten abnimmt und uns damit das Reich jenseits der
Notwendigkeiten, das Reich der Freiheit also, eröffnet.

Und wir geben uns eben *nicht* mit irgendwelchen drögen
Subsistenzkonzepten und Landkommune zufrieden, sondern wir *wollen*
auf dem erreichten Stand des materiellen Reichtums bleiben und ihn
auch an den Stellen ausbauen, an denen das nötig ist - an anderen
vielleicht entsprechend auch abbauen - je nachdem was die
gesellschaftliche und individuelle Bedürfnislage ebenso fordert.

Ich finde das nicht nur vom Ansatz her eine recht neue Diskussion -
wahrscheinlich hat's das zu Zeiten Oktoberrevolution schon mal gegeben
-, sondern auch eine *verallgemeinerungsfähige* Perspektive. Das ist
eine Perspektive, mit der ich zu Herr und Frau NachbarIn gehen kann
und sagen: "Hey, wir wollen eine neue Gesellschaft bauen. An deinem
materiellen Wohlstand wird dir nichts genommen werden - nur Arbeiten
mußt du dafür nicht mehr wenn du nicht willst." Wer könnte dazu Nein
sagen?

Ist die Technik ein Selbstzweck?

Technik ist unsere Lebensgrundlage. Halten wir die technische Entwicklung an,
verbrauchen wir die Rohstoffe zuende und haben dann aber keine Technik mit
der es anders weitergeht. Mit dem heutigen Wissensstand erhalten wir dann nie
wieder eine Chance auf den heutigen Stand der Technik zurückzukommen. Eine
Versorgung grosser Städte wäre plötzlich unmöglich. Das Chaos würde
ausbrechen und die Menschheit wahrscheinlich aussterben.

Durch ein Zurückschrauben der Technik könnten wir diesen Effekt allerdings
auch sofort haben, wenn wir wollen.

Ich würde dir insofern zustimmen, daß in den industrialisierten und
hochindustrialisierten Teilen dieses Planeten Technik eine
Lebensgrundlage geworden ist - genauso wie sie destruktiv geworden ist
und die biologische Lebensgrundlage mittlerweile nicht mehr nur
bedroht sondern immer mehr anfrißt (Stichwort: Klimakatastrophe).

Bleibt noch die dritte Möglichkeit, eine rasante Entwicklung von Wissenschaft
und Technik, die unser Überleben noch für viele tausend Jahre sicherstellt.

Daß diese heutige Technik global so destruktiv ist, ist nach meiner
Einschätzung auch eine Folge ihres Einsatzes in der blinden
Wertverwertung deren Ergebnis sie ist (ja, auch in den hingeschiedenen
sog. realsozialistischen Staaten). Aber da kann ich mich irren. Ich
weiß nicht, ob eine Technik, die aus Gründen der Selbstentfaltung
entwickelt wird, *per se* weniger destruktiv ist. Wir können das
momentan hoffen und vielleicht auch hoffen, daß sich bei Abwesenheit
des Profitprinzips gesellschaftliche Kräfte entwickeln, die
destruktive Technik tendenziell verhindern - aber das haben wir noch
nicht wirklich diskutiert.

Eins ist aber klar: Wenn Technikentwicklung weiter unter
Profitprämissen entwickelt wird, ist das in absehbarer Zeit das Ende
der Zivilisation so wie wir sie kennen.

Sollte Selbstentfaltung nur Mittel zur
Entwicklung der technischen Aspekte sein?

Umgekehrt. Entwicklung der technischen Aspekte sollte nur Mittel zur
Selbstentfaltung sein :o)

Eben. Thomas unterstreicht nochmal, was ich oben schon ausgeführt
habe.

Hm, das ist: Schaffe zuerst menschliche Umstände und die Menschen werden
sich entfalten?

Ich hab nochmal über die Sache mit dem fest eingebauten Wunsch nach
Selbstentfaltung nachgedacht. Irgendwo (aber wo genau, weiß ich nicht mehr)
schreibst du ja selbst, daß der bei Kindern fest eingebaut sei. Allerdings
wird er im Laufe ihrer Entwicklung gewöhnlich schrittweise deaktiviert. Bei
Menschen, die so deaktiviert sind, daß sie in ihrer wenigen Freizeit nichts
anderes mehr zustande bringen als den Fernseher einzuschalten, bringen
natürlich auch menschliche Umstände nichts.

Ich würde mich da auch fragen: Na und? *Ich* will in einer besseren
Welt leben und die führt nach meiner Überzeugung über den hier
diskutierten Weg. Wie Stefan Mz. in seiner "Macht des Faktischen"-Mail
sehr richtig ausgeführt hat, machen wir etwas *neben* diesen kaputten
Existenzen.

Zumindest, nicht diese allein. Da
muß man dann eben versuchen, den Wunsch nach Selbstentfaltung zu reaktivieren
und bis das geschafft ist, falls überhaupt jemals, den Fernseher und die
Kotzmaschinen weiterlaufen lassen, da es ansonsten Randale gibt.

Warum sollten wir das überhaupt versuchen? Wenn deren Selbstentfaltung
eben Fernsehen ist? Es werden sich sogar sicher Leute finden, die
Fernsehmachen als ihre Selbstentfaltung begreifen können...

Wenn die uns sehen und das gut finden, dann können sie ja auf den
Geschmack kommen. Und ich denke, das lebendige Beispiel ist allemal
wirksamer als jeder Versuch die Selbstentfaltung quasi von außen zu
reaktivieren.

Auf alle
Fälle sind menschliche Umstände eine wichtige Grundlage, die es zu schaffen
gilt.

Zweifellos. Das bedeutet eben eine ausreichende materielle Basis, denn
Selbstentfaltung *kann* nicht im (täglichen) Überlebenskampf
stattfinden. Das ist überhaupt vielleicht ein wichtiger Gedanke...

Ersteres haben wir ja im Sozialismus versucht. Wir dachten, mit
der Abschaffung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse sei "das
Wesentliche" passiert.

Armut und Obdachlosigkeit abzuschaffen ist nicht das einzige, was o.g.
"menschliche Umstände" ausmacht. Zur Selbstentfaltung benötigt man ferner
viel Freizeit und jede Menge technischen Krempel.

...den du auch im Ansatz schon hattest.

Allerdings würde ich dir nicht zustimmen, daß jedeR zur
Selbstentfaltung jede Menge technischen Krempel benötigt. Z.B. das
Riesenreich der Sexualität hat ein *irres* Selbstentfaltungspotential
von heute aus gesehen und da spielt Technik nun wirklich keine
entscheidende Rolle (*die* Technik, nicht die andere ;-) ;-) ).

Aber eben ein nicht zu vernachlässigendes Mittel (weil ich auch nicht
mehr 40 Stunden und mehr in der Woche rackern will).

mehr Freizeit, weniger fremdbestimmte Verausgabung

Sprich: Weniger Notwendigkeit, mehr Freiheit.

Trotzdem ertappe ich mich, wenn ich  mich längere Zeit mit Technik
beschäftigt habe, auch selber immer mal wieder dabei, daß mir die
Menschen und ihr Selbstbestimmungsrecht aus den Formulierungen
wegrutschen.

Ist das nicht ein ganz anderes wichtiges Thema?

Da verstehe ich dein Problem, Annette, auch nicht so richtig. Du tust
ja so, als wäre Technik und Selbstentfaltung unvereinbar? Wer sagt
das?

So sehr ich mich für Astronomie und Raumfahrt begeistere - für eine
nachkapitalistische Gesellschaft muß gelten, daß die Menschen selber
entscheiden, ob und wann sie wieviel ihrer Ressourcen und
Arbeitsleistungen für ein Raumfahrtprogramm investieren wollen. Es
sollte da kein Experten das Recht haben, ihnen vorzuschreiben, daß
"jetzt" die Zeit dafür sei und daß "die Technik" das erfordere...

Wenn manche Leute den Mars besiedeln wollen, aber noch nicht mal die Sahara
grün kriegen, dann ist das schon seltsam.

Also Selbstzweck sollte die Technik nicht sein, aber auch nicht strikt
nützlich -- sonst würde ja nichts neues mehr erfunden...

(Ich weiß ja, daß die Leute das irgendwann für ihre eigene
Selbstentfaltung brauchen ;-D )

ack

Was Annette ihr anspricht würde ich mal so sagen: Die Arbeitsleistung
mag Teil der Selbstentfaltung von Leuten sein. So gesehen wäre das
voll im Rahmen. Was wir hier noch nicht diskutiert haben, ist, wie die
kollektive Verfügung über endliche Ressourcen - die wahrscheinlich
alle hier unterschreiben würden - sich mit der individuellen Nutzung
dieser Ressourcen vermittelt. Spannende Frage.

6 days ago LutzH wrote:
Oje, mir scheint, dass Du entweder zu technikgläubig bist, oder ich
einen zu eingeengten Begriff von Technik habe.

Das ist *exakt* der dünne Grat auf dem wir hier wandeln. Ich würde
mich auch gegen eine blinde Technikgläubigkeit wenden - die ich aber
auf der Liste nicht sehe - aber eben auch gegen eine blinde
Technikverdammung.

Das Motto muß m.E. heißen: Technik kann uns helfen - entwickeln wir
sie zu *diesem* Zweck und dann laßt sie uns helfen.

Es kann doch wirklich
nicht nur darum gehen, den ganzen Laden, z.B. auch durch Entwicklung
effizienterer Verfahren etwa der Ausnutzung von Rohstoffen, am Laufen zu
halten. Wenn dies nicht mir einer positiven Verbesserung der
Lebensqualität einher geht, wird dabei nur den angeblichen
Notwendigkeiten hinterher gehechelt (Beispiel: Das
3-Liter/Wasserstoff/whatever-Auto. Die Frage, ob und wenn ja wie der
motorisierte Individualverkehr überhaupt sinnvoll ist, wird dabei nicht
gestellt).

Das wäre blinder Technizismus - genau. Das will aber hier sicher
keiner. Daß die *Bedürfnisse* - und eben nicht deren momentan
häufigste Form der Befriedigung - im Mittelpunkt stehen müssen ist
glaube ich klar.

Bleibt noch die dritte Möglichkeit, eine rasante Entwicklung von Wissenschaft
und Technik, die unser Überleben noch für viele tausend Jahre sicherstellt.
Natürlich muß das Wissen über Funktionsweise und Benutzung zur
Allgemeinbildung gehören, so wie heute Lesen, Schreiben, Rechnen.

Nein, nicht das Wissen über sondern die Diskussion über Funktion,
Benutzung, Einsatz, Sinn und Zweck muss allgemein sein.

Das mischt sich. Auch in der Anti-AKW-Bewegung gab es Leute, die sich
richtig gut mit AKWs auskannten - und das brauchst du, um eine
informierte Entscheidung zu treffen.

Fließbandarbeit ist stupide. Die
will keiner machen. Daran kann man sich nicht entfalten. Solche Arbeiten
sollte man versuchen zu automatisieren, damit sie gar keiner mehr machen muß.

Sofern sie denn überhaupt notwendig sind. Fließbandarbeit zu
automatisieren, die nur der Selbstbewegung des Wertes geschuldet ist,
kann ersatzlos entfallen.

*Diese* Fließbandarbeit schon.

Aber eben (noch) nicht jede stupide, gesundheitsgefährdende oder
sonstwie unmenschliche Tätigkeit. Gerade weil wir noch nicht die
Technik haben, die uns diese Tätigkeiten abnimmt, müssen sich noch
Menschen dafür hergeben die zu machen. Und das muß aufhören. Entweder
weil das Bedürfnis nach den Produkten solcher Tätigkeit entfällt oder
weil automatisiert werden kann.

5 days ago Thomas Uwe Gruettmueller wrote:
On Fre, 06 Okt 2000, LutzH wrote:
On Thu, Oct 05, 2000 at 09:31:25PM [PHONE NUMBER REMOVED], Thomas Uwe Gruettmueller wrote:
On Son, 01 Okt 2000, Annette Schlemm wrote:
Oje, mir scheint, dass Du entweder zu technikgläubig bist, oder ich
einen zu eingeengten Begriff von Technik habe. Es kann doch wirklich
nicht nur darum gehen, den ganzen Laden, z.B. auch durch Entwicklung
effizienterer Verfahren etwa der Ausnutzung von Rohstoffen, am Laufen zu
halten.

"Am Laufen halten" klingt ziemlich nach Stillstand.

Da sitzt Thomas kapitalistischer Denkweise auf, nach der Stillstand
gleichzusetzen ist mit Rückschritt. Unfug! Dieser Gedanke ist einzig
ein Ausfluß des ständig sich ausdehnen müssenden Marktes!

Es hat über sehr lange Perioden der Menschheitsgeschichte sehr
statische Gesellschaften gegeben und ich denke nicht, daß die Leute
damals nicht unglücklicher waren als heute. Dynamik ist kein Wert an
sich.

Ich möchte nicht, daß jemand denkt, Selbstentfaltung *solle* etwas Nützliches
hervorbringen. Eine Welt ist anzustreben, in der jeder immer und überall sich
frei entfalten kann. Dieser Zustand muß aber nicht selbst schon durch freie
Entfaltung erreicht werden.

Ganz wichtiger Punkt! Und ist auch historisch so: Der Kapitalismus als
Vorgeschichte der GPL-Gesellschaft hat ja nun nicht gerade von
Selbstentfaltung für die Massen gestrotzt - dennoch wird er die
Grundlage gelegt haben.

Weil auch vollständige Selbstentfaltung nicht zu "schönen"
Umständen führt?

"Schöne Umstände" sind die Möglichkeit zu vollständiger Selbstentfaltung.
Teilweise Selbstentfaltung (s.o.) kann zu solchen Umständen führen, aber das
ist nicht unbedingt der effektivste Weg.

Da bin ich anderer Meinung. Auf dem erreichten Stand der
Produktivkraftentwicklung *ist* die Selbstentfaltung ganz
offensichtlich der effektivste Weg zu weiterer Entwicklung. Das wird
sich in den kommenden Jahren sicher noch deutlicher kristallisieren.

Anderes Beispiel: die oben geforderte rasante technische Entwicklung:
Diese ist notwendig, und es ist völlig egal, wer entwickelt, hauptsache
es kommen dabei z.B. Fahrzeuge heraus, die auch ohne Benzin noch fahren.

Nein. Die Hauptsache ist, dass für alle Menschen Lebensumstände
entstehen, die mit Recht als "angenehm" zu bezeichnen sind. Ob dazu der
(s.o.) motorisierte Individualverker notwendig ist, wäre noch zu klären.

An den hab ich gar nicht gedacht. Allerdings, selbst wenn man sämtliche
Fahrgäste und Güter auf die Schiene verlädt, braucht man immernoch Busse und
LKWs, weil es einfach nicht möglich ist, den Zug vor jedem Haus und jedem
Supermarkt halten zu lassen.

Oder du brauchst ein Transportsystem, das auf völlig anderer Grundlage
arbeitet. Wie wäre z.B. ein unterirdisches Rohrpostsystem?


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


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