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Re: [ox] Proprietarismus und Sozialismus



Hallo Stefan,

In Zeiten, in denen es keine realen (d.h. materielle Waren-)Märkte
mehr gibt, die unter Bedingungen der Profitmaximierung noch zu
verwerten wären, ist es naheliegend, daß die ideelle
GesamtkapitalistIn mal wieder nach einem noch unverwerteten Stück
Gesellschaft sucht.

Na ja, es gibt durchaus noch ziemlich viele materielle Maerkte.

Auch Dienstleistung von privat zu privat eignet sich gut zur
kapitalistischen Verwertung.

Deshalb ruft ja auch EU-Kommissar Liikanen

	B2B or not to be

Ueberall, wo es fuer den Kapitalismus etwas zu verwerten gibt, ist gleich
unsere Politik als Hysterie-Anheizer zur Stelle.  Obwohl die
Wirtschafts-Hysterie keineswegs von einer guetigen unsichtbaren Hand
gelenkt wird und viel Raeume fuer politische Gegenakzente offen laesst.
Dabei ist Liikanen noch einer unserer Hoffnungstraeger.
 
M.E. ist fuer den Gemeineigentumsbereich eigentlich eine entschlossene
gemeinschaftliche/staatliche Foerderung notwendig.  Eigentumsrechte
funktionieren dort entweder gar nicht oder sind mit hoechster Behutsamkeit
einzurichten, wie beim Logileg-Entwurf vorgeschlagen.

Ich möchte mal die Frage aufwerfen, inwieweit bei Gemeineigentum
eigentlich von Eigentum im engeren Sinne die Rede sein kann. 

Der Wortteil "Gemein" negiert den Wortteil "Eigentum".  Deshalb koennte
man einfacher sagen

		Konzept		Implementation
physisch	Patent		Eigentum
logisch		Allmende	Urheberrecht


Die Verfügungsgewalt - ein Aspekt von Eigentum - ist (irgendwie)
gemeinschaftlich organisiert, aber wesentliche Aspekte privaten
Eigentums - z.B. die Profitmaximierung - sind beim Gemeineigentum in
aller Regel gar nicht erwünscht. 

Produktivitaetsmaximierung ist durchaus ueberall erwuenscht.

Vielmehr geht es oft darum, der Gemeinschaft eine allgemeine
Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, was im Zweifelsfall auch
defizitär sein kann

Es geht nicht um Profit, aber oft auch um mehr als eine Infrastruktur.
Es sei denn man rechnet Mozarts Werke zur "Infrastruktur".  
Infrastruktur ist so etwas oft nur deshalb, weil es sich nicht 
zur Aneignung eignet.
 
Ich verstehe sehr wohl die Klagen all derer, die das Ende eines Mozart im
Armengrab ungerecht finden und in der Utopie des Proprietarismus das Heil
suchen.  Ich gehe aber nur noch weiter:  das Eigentumsprinzip foerdert
nicht die wirklich grossen Leistungen, wie man etwa auch am Zustand der
Kultur heute, 200 Jahre nach Mozart, sieht.  

Vielleicht können wir das sogar soweit verallgemeinern: Herausragende
Leistungen sind relativ unabhängig vom finanziellen Anreiz. Das ist
natürlich ein Schlag ins Gesicht der ganzen Marktradikalen, aber das
tut mir gar nicht leid ;-) . Bestes aktuelles Beispiel dafür ist die
Freie Software, aber auch in der Wissenschaft wird nicht wegen der
"Spitzengehälter" hervorragendes geforscht.

Allerdings gedeihen herausragende individuelle Leistungen auf einer
materiellen Basis.  Es musste schon viele Musiker geben, die ein Auskommen
hatten, bevor es zu einem Mozart kommen konnte.  Fuer das Auskommen
sorgten u.a. Fuerstenhoefe.

Ist das Kriterium also herausragende Leistungen - die heute fast immer
übrigens neue Informationen zu sein scheinen -, so könnten wir
festhalten, daß das Prinzip Lebenschancen gegen Leistung - vulgo:
Lohnarbeit - sicher nicht das beste Prinzip ist. Vielmehr müßten die
Bedingungen, die in Freier Software und Wissenschaft die Grundlage
bilden, gefördert werden.

Zur Sicherung der breiten materiellen Basis kann auch eine grosse
Lohnmaschine helfen.
 
Dazu gehört u.a.

* Freier Fluß von Gedanken
* ein gewisses Maß an Wohlstand
* die Möglichkeit Freier Vernetzung
* Freie Zeit und Energie der Handelnden
* ...sicher noch mehr...

Hieraus sollte man nicht folgern, dass etwa die Freiheit vom Zwang zum
Prinzip "Lebenschance gegen Leistung" der Kultur besonders foerderlich
ist.

Es koennte auch umgekehrt so sein, dass sich manche grosse Leistung erst
dort entfaltet, wo man gegen diese Last der Zivilisation ankaempfen und
sich freischwimmen muss.

Sowohl fuer die persoenliche als auch fuer die gesellschaftliche
Entwicklung koennte als Prinzip gelten, dass die Freiheit zunaechst durch
Disziplin erworben werden muss.

Dieses Prinzip zu negieren ist riskant.  Damit kann man jede berechtigte
und zukunftstraechtige Sache diskreditieren.

Ich sehe z.B. den Ansatz der Gruenen, ein Mindesteinkommen zu garantieren,
als durchaus zeitgemaess an.  Dazu gehoert dann aber auch eine
Mindest-Arbeitspflicht.  Wer das Einkommen in Anspruch nimmt, sollte auf
einem Markt der oeffentlich ausgeschriebenen Sozialdienste eine Aufgabe
waehlen.

Im Gegenteil:  Utopien fuehren direkt in die
Hoelle.

Dann lebst du in der Hölle: Auch die Verfaßtheit Deutschlands als
Nationalstaat war im 19. Jahrhundert eine (bürgerliche) Utopie - um
nur ein Beispiel heutiger Realität zu nennen, die früher Utopie war.

Ich unterscheide zwischen Utopien und auf realistischer
Politikeinschaetzung beruhenden Projekten.  Das Projekt Nationalstaat war
offensichtlich realistisch.  Frankreich hatte es vorgemacht, andere auch.
Auch manches, was niemand vorgemacht hat, ist realistisch.  Nicht
realistisch sind m.E. aber z.B. Projektionen von Ordnungsvorstellungen in
fremde Bereiche, so wie z.B. 

- die Projektion des Eigentums auf die Welt der geistigen Konzepte
- die Projektion der Allmende auf die Welt der materiellen Gueter
- die Projektion der Hackerkultur auf die unqualifizierte,
  undisziplinierte und nichtskoennende Masse

Aber die Ecke links unten im Schema ist eher die des naturrechtlichen
Gemeineigentums, die rechts oben die des naturrechtlichen Privateigentums.

There is no such thing like Naturrecht. Das ist m.E. schon ein
Widerspruch in sich selbst. Recht ist ein fundamental kulturelles
Etwas und Kultur ist eben nicht Natur.

Prinizpiell richtig.
Dennoch gibt es Lebensweisen die funktionieren koennen und solche die es
nicht oder nur zeitweilig um den Preis hohen Leidens koennen.
Um diese Erfahrung zu beschreiben, hilft der Begriff vom "Naturrecht".

Schon gar keinen Sinn macht es dann von "naturrechtlichem x-eigentum"
zu sprechen.

in obigem Sinne schon.  Allerdings sollte man da nicht den Mund zu voll
nehmen und wissen, dass man sich irren kann.  
 
Ich kann nur wiederholen, was ich hier schon ein paar mal erwähnt
habe: Wenn jemensch in seiner Argumentation anfängt, die Natur zur
Hilfe zu nehmen, dann ist praktisch sicher, daß dieser Mensch eine
Ideologie verbreiten will.

Sehr richtig.
Ich bin zweifellos auch dabei, eine Ideologie zu begruenden:  ein
einpraegsames Begriffssystem, mit dem man politisch arbeiten kann. 
Das ist sogar immer eine Nebenfunktion des Begriffs "Naturrecht".
 
Politische Systeme wie z.B. die Demokratie sind wiederum nach ihrer
Faehigkeit zu messen, die naturrechtliche Balance zu wahren, d.h. dem
Eigentum und den Menschenrechten ebenso zu ihrer Geltung zu verhelfen wie
der gemeinschaftlichen geistigen Sphaere und der Kultur.
 
Das ist genau die Argumentationsschiene, die ich von den
Anarcho-Kapitalisten (noch ein Widerspruch in sich; ohne `Innen' - mir
ist noch keine entsprechende Frau begegnet ;-) ) her kenne: Das
Gesellschaftssystem sei das Beste, das die "natürlichen" Eigenschaften
"der" menschlichen Gesellschaft am besten zur Geltung bringt - oder
bei dir: die naturrechtliche Balance zu wahren. 

Es ist m.E. sogar Deine Argumentationsschiene.
Du beobachtest auch, unter welchen Bedingungen Kreativitaet entsteht und
basierst politische Visionen auf einer bestimmten Anthropologie.

Es ist nicht einfach, eine
Mehrheit der Bevoelkerung davon zu ueberzeugen, dass fuer eine geistige
Allmende Pflichtbeitraege erbracht werden muessen.

Früher - als es noch mehr Gesellschaftlichkeit gab, der Anhang von
Christoph in dem Forward, das ich vorhin geschickt hatte, hat an der
US-Gesellschaft verdeutlicht was ich meine - früher war es einfacher
zu vermitteln, daß für die Zwecke der Allgemeinheit auch jedeR einen
Beitrag zu leisten hat. Aber in Zeiten, in denen der größte
Steuerhinterzieher als Superheld gilt, ist das natürlich anders.

Hierzu hat leider auch die 68er Bewegung einiges beigetragen.
Uebertreiben will ich das nicht.  Und unberechtigt oder sinnlos war die
Bewegung auch nicht. 
Es war eben eine von vielen Kulturrevolutionen, welche die
Gesellschaftlichkeit abgetragen haben.
Viele dieser Bewegungen wurden im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts
von Weber, Evola und allerlei Modernisierungsskeptikern beschrieben.
Auch der Nationalsozialismus war wohl ein Produkt dieser
Verrohung und Entgesellschaftung.
Die Forderung nach einem bedingungslosen Mindesteinkommen geht weiter in
jene Richtung, die wir hier kritisieren.
Gesellschaftlichkeit bedeutet auch Anerkennung von Werten wie Disziplin
und Autoritaet.
Wie eben jene Amerikaner sagten, die ich hier zitierte, wird ein Neuanfang
sich auch aus allerlei konservativen und kulturbewussten Quellen speisen
muessen.
Vom "Aufstand der Kulturen" schrieb ja Alain de Benoist in aehnlicher
Weise und wurde dabei nicht nur von der Jungen Freiheit sondern auch von
der TAZ sehr positiv rezipiert.
M.E. hat der Verlust der Gesellschaftlichkeit direkt in den ideologischen
Proprietarismus gefuehrt.
Was ausser dem Eigentum gibt es denn noch an
vermittelbaren Ordnungsprinzipien?

Staatsdiener schmieren dem Souveraen aber lieber Honig um den Bart und
machen ihm weis, Adam Smiths unsichtbare Hand werde schon alles regeln.
Die regelt aber nur den Bereich rechts oben.  Was Smith durchaus wusste.

Genau. Weswegen z.B. die Bahnen und die Posten zu Beginn der
bürgerlichen Gesellschaften i.d.R. verstaatlicht und damit quasi in
Gemeineigentum überführt worden sind.

Allerdings tauchte auch recht bald die Ideologie des "Nachtwaechterstaats"
auf, und heute scheinen die Staaten nur noch dann bemueht zu werden, wenn
es darum geht, unter dem Vorwand der "Standortvorteile" weitere
gemeinschaftliche Bereiche zu privatisieren.  Ein Einsatz fuer die
Allmende wuerde ja auch anderen Standorten zugute kommen, was der
herrschenden Wirtschaftsideologie zufolge nicht erlaubt ist.

Vielleicht erzwingt diese Situation wiederum die Errichtung eines
internationalen politischen Gegenpols zum internationalen Kapitalismus.
Wie das mit dem "Aufstand der Kulturen" zu vereinbaren ist, ist mir noch
unklar.

Mal wieder viel starker Tobak -- aber immerhin wird hier ja recht gewagt
diskutiert und es koennten am Ende realistische Visionen rauskommen, wenn
man nichts zu denken scheut.

-phm


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http://www.oekonux.de/



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