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Nochmal: gesellschaftliche Natur (was: Re: [ox-de] Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!)



Hallo Hans-Gert,

danke für deine Mail. Ich erlaube mir Kürzungen, v.a. dort, wo ich keine 
Aussage machen will|brauche|kann oder wo ich nicht angesprochen bin. 
Den Thread zur "Entscheidung" nehme ich aus dieser Antwort raus. IMHO 
ist das bessern einzeln zu diskutieren und überfrachtet die Mails nicht 
so.

Am Wednesday 26 July 2006 11:30 schrieb Hans-Gert Gräbe:
Ich dagegen sage im Kontext aktueller wissenschaftlicher
Erkenntnisse, daß die biologische Existenz des Menschen und die aus
dieser Existenz ableitbare Fähigkeit zu Emotionen, zur Entwicklung
von Wünschen und Bedürfnissen in den ersten Tagen und Wochen nach
der Geburt jeder jeweils individuellen gesellschaftlichen oder
sonstigen Spiegelung vorausgeht, d.h., den Spiegel darstellt, in
dem sich die gesellschaftlichen Verhältnisse autoritärer Kulturen
im Prozess der Entwicklung einer Persönlichkeit abzubilden
beginnen.

und auch
(s.mz 17.7.)

Nein, ich sage dass die gesellschaftliche Natur des Menschen
angeboren ist, was der Begriff "Natur" auch ausdrücken soll. Sonst,
so mein Argument, wäre es dem Menschen nicht möglich, sich in
Gesellschaft hinzuentwickeln, wenn er nicht biologischerweise zur
Vergesellschaftung fähig wäre.

- d'accord. Das eine ist einfach die ontogenetische, das andere die
phylogenetische Dimension. Ich verstehe eure Differenzen nicht - ihr
redet schlicht aneinander vorbei, oder?

Beides sind im weitesten Sinne Aussagen zur Ontogenese. Aber ist auch 
egal: Das, was ontogenetisch möglich ist, ist phylogenetisch geworden. 
Aus meiner Sicht ist die Differenz, dass Jac eine ungesellschaftliche 
Phase der reinen Lebendigkeit (bzw. des reinen Spiegels) annimmt, die 
dem Prozess der gesellschaftlichen Formung oder Spiegelung vorausgeht. 
Und ich eben nicht - mit dem o.g. eher logisch-strukturellen Argument, 
dass eine Vergesellschaftung nur möglich ist, wenn die Fähigkeit dazu 
bereits vorhanden, mithin angeboren ist. Anderenfalls setzt man das 
Biotische dem Gesellschaftlichen entgegen (dieses Argument, auch eher 
logischer Natur, nenne ich jetzt zusätzlich). - Unterm Strich ist aber 
diese Differenz erstmal vernachlässigbar, auch wenn sie sie 
wechselseitig für uns beide wichtig ist und an verschiedenen Punkten 
immer wieder "durchscheint".

Die von dir betonte biologische körperliche Existenz (mit Emotionen
etc.) ist für mich keine Frage, da habe ich keinen Widerspruch. Ich
sage nur, dass eben jene Körperlichkeit die gesellschaftliche Natur
des Menschen ist.

Das verstehe ich dann aber nicht mehr.  Hältst du es für unerheblich,
die Differenz zwischen Körperlichkeit und Gesellschaftlichkeit, also
zwischen ES und ICH aufzumachen, die Jac aufgemacht hat, wenn über
jene "gesellschaftliche Natur" gesprochen wird?

Was meinst du mit Differenz? Differenz bzgl. welcher Dimension?

Ich halte es für notwendig, das Verhältnis zwischen Körperlichkeit und 
Gesellschaftlichkeit im Diskurs permanent aufrecht zu erhalten, also 
die Einheit der Differenz zu betonen. Ich weiss, dass das schwer ist, 
denn der vorherherrschende Diskurs trennt diese beiden Aspekte und 
setzt sie einander entgegen (sozusagen die Unvereinbarkeit in der 
Differenz). Aber die Debatte hier auf Oekonux ist bereits deswegen 
außergewöhnlich, weil der Begriff der gesellschaftlichen Natur 
mindestens teilweise akzeptiert zu sein scheint - auch wenn um die 
genaue Bedeutung noch gerungen wird. Damit ist Oekonux meilenweit dem 
Mainstream voraus.

Zusammen mit einer Kollegin habe ich mich länger mit dieser Frage am 
Beispiel der sog. "Neuronalen Netze" auseinandergesetzt. Die Informatik 
kann schon mit dem Begriff "Gesellschaft" nichts anfangen, bestenfalls 
im Sinne von "Auswirkung auf die Gesellschaft". Für die gibt's 
nur "Hardware", wo "Software" drauf läuft, beim Computer wie beim 
Menschen. - Wir haben die Ergebnisse seinerzeit unter dem 
Titel "Neuronale Netze und Subjektivität" als Buch veröffentlicht. Bis 
auf das Mathekapitel mit den schwer darzustellenden Formeln, das uns 
wg. seiner De-Mystifikation allerdings sehr wichtig war, ist alles 
online: http://www.opentheory.org/neuronale_netze/

Die o.g. Problematik haben wir dort als das Verhältnis von bestimmenden 
zu nicht bestimmenden Faktoren der gesellschaftlichen Natur des 
Menschen diskutiert und ein "Ebenenmodell" für die Strukturierung von 
Forschungssettings vorgeschlagen:
http://www.opentheory.org/neuro_netze_kap_5/text.phtml

Im Satz der angeborenen Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftliche
Vermittlung. Die Gesellschaft weckt diese Fähigkeiten ja erst. Erst
in der Konfrontation des kindlichen Gehirns mit der Umwelt
entstehen die eingeprägten Spuren im Gehirn, d.h., das Gehirn des
Kindes und die Körperlichkeit, in der sich dieses Gehirn befindert,
ist nicht gesellschaftlich vermittelt, sondern der von der
Gesellschaft unterscheidbare Spiegel, auf der sich die Spiegelung
der Gesell- schaft abbildet.

AUCH SO zu verstehen? Aber wohl doch eher NEIN (s.mz, 18.7.)

Ganz klar: nein.

... es gibt keine "Körperlichkeit an sich". Der gesellschaftliche
Mensch ist eine Ganzheit, und dazu gehört sein Körper.

Jepp.

... da dadurch die Gesellschaft und das gesellschaftliche
Verhältnis nicht mehr Primat sein kann, sondern diese Rolle an den
konkret lebenden Menschen in seiner Körperlichkeit abtreten muß. -
Diesem Primat entwachsen zwei eigenständige historische Bewegungen
im dialektischen Verhältnis zueinander. Zum einen die Bewegung der
Produktion als tätige Auseinandersetzung des Menschen mit der
Natur, symbolisiert in der Hand, zum anderen die Bewegung der
Reflexion als tätige Auseinandersetzung des Menschen mit dem
Ergebnis seiner Wahrnehmung von der Natur, symbolisiert durch
seinen Kopf bzw. sein Gehirn.

Dies nun verstehe ich inzwischen vollkommen anders. Die Frage nach
dem "Primat" verstellt den Blick darauf, dass die Dynamik der
Entwicklung erst in der prozesshaften Interaktion BEIDER Komponenten
verstanden werden kann. Deine Synonyme "Hand" und "Kopf" sind genau
die beiden Formen des Kantschen "Gebrauchs der Vernunft". Dem
privaten Gebrauch der Vernunft im Tun der "Hand" zur tätigen
Veränderung der Welt geht der öffentliche Gebrauch der Vernunft, des
Kopfes, zum Raisonnieren voraus und umgekehrt sind es die Erfahrungen
des Gebrauchs der "Hand", welche den entscheidenden Input für das
Raisonnieren des Kopfes geben.

Und wenn hier so was wie "Primat" durchschimmert, dann kann es m.E.
nur der Umstand sein, dass das einzige kreative, verändernde Element
in diesem Kreislauf der TÄTIGE Mensch ist. Die Kraft zur (und
Richtung der) Veränderung kommt also aus dem Inneren der Menschen
selbst. Das aber seinerseits in äußere Verhältnisse eingespannt ist,
die eine stabilisierende Komponente gegen zu rasche Veränderungen ins
Spiel bringen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich 100pro verstehe, aber der Tendenz 
nach stimme ich dir zu. Auch bei "Hand vs. Kopf" oder, sehr 
beliebt, "Kopf vs. Bauch" aka "Denken vs. Fühlen" halte ich eine 
Entgegensetzung für falsch. Mir ist aber auch deine Formulierung 
der "prozesshaften Interaktion" noch zu schwach, weil diese immer noch 
eine Getrenntheit voraussetzt. Aber vielleicht meinst du es nicht so. 
Stärker wäre eine Formulierung, die die Einheit in der Differenz 
betont, wie etwa: "Jedes Denken ist gleichzeitig ein Fühlen"; "Es gibt 
keine Verwendung der Hand ohne Benutzung des Kopfes" etc.

Insofern übe ich auch Kritik an Marx, der die Arbeitsteilung, 
insbesondere die von "materieller" und "geistiger" Arbeit, zum 
Ausgangspunkt der Entstehung von Klassengesellschaften macht.
- Aber: Andere Baustelle;-)


Ich möchte dich noch auf etwas hinweisen, hab mich aber bisher nicht 
getraut: Die Verwendung von Grossbuchstaben wird in aller Regel als 
Brüllen wahrgenommen, so auch von mir. Du brauchst aber NICHT BRÜLLEN. 
Wenn ich dich [nicht] verstehe, dann liegt es nicht an der Lautstärke. 
Vgl. http://www.google.de/search?hl=de&q=grossbuchstaben+br%C3%BCllen
Als Betonungszeichen sind *Sternchen* für Verstärkung ("strong") und 
_Unterstriche_ für Betonung ("emphasis") gebräuchlich. Danke.

Ciao,
Stefan

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