Message 12192 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT11910 Message: 73/137 L10 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Hallo Stefan und Jacob,

(s.mz 26.7.)
Zusammen mit einer Kollegin habe ich mich länger mit dieser Frage am 
Beispiel der sog. "Neuronalen Netze" auseinandergesetzt. ... ist alles
online: http://www.opentheory.org/neuronale_netze/

... und ein "Ebenenmodell" für die Strukturierung von 
Forschungssettings vorgeschlagen:
http://www.opentheory.org/neuro_netze_kap_5/text.phtml

Muss ich erst noch lesen (haben wir sogar in unserer Bibliothek :-) )
und das kann etwas dauern. Aber ich versuch mich doch schon mal an einer
Antwort, vielleicht auch auf dem Kontrast der Debatte mit Jacob.

(Jac 28.7.)
Ich trenne zwischen Evolution und Gesellschaft. Der Körper ist evolutionär
vermittelt, d.h., dem Zusammenspiel zwischen Genen und Umwelt. Bislang
ist mir kein Fall bekannt geworden, wo ein gesellschaftliches Verhältnis
sich genetisch beim Menschen abgebildet hätte. 

Genau diese Trennung kann ich - besonders auf dem Hintergrund der
"Erziehungs"frage (ich schreibe das jetzt mal bewusst in Quotes) -
überhaupt nicht nachvollziehen. Beides hat doch was mit "Entfaltung von
Erinnerungen" zu tun. Die einen "Erinnerungen" sind in den Genen
(Plural!) "gespeichert", die anderen in den "Werten", die den
Erziehungen (Plural!) zu Grunde liegen.

Mit Plural meine ich hier die jeweiligen Konkreta, also die konkreten
Gene in einem konkreten Fisch, die einen (gegenüber den prototypischen
Genen - die eine reine Abstraktionsleistung der Menschen darstellen)
Defekt enthalten, welcher dazu führt, dass gerade dieser Fisch ein
schiefes Maul bekommt.

Gene als Träger dessen, was du als evolutionär vermittelt bezeichnest,
enthalten also maximal eine vielfältige vorsortierte *Potenz* von
Entfaltungs<b>möglichkeiten</b> (NB an Stefan: genau hier funktioniert
das mit den Sternchen in meinem Mailprogramm - mozilla 1.7.13 - nicht).
Die im Übrigen auch genau definierte Umgebungsbedingungen zu ihrer
Entfaltung benötigen, inklusive wohldefinierter Zeitfenster. Beispiel:
die Contergan-Babys. Und das geht doch nach der Geburt nahtlos weiter;
die Entfaltung des Menschleins als biopsychosoziale Einheit. Entfaltung
musischer Fähigkeiten, des geometrischen Vorstellungsvermögens,
akzentfreie Sprache usw. usw. - all das funktioniert doch ganz genauso
als Wechselspiel zwischen Anlagen und Umgebungsbedingungen in Zeitfenstern.

Kinder erwarten nicht, daß ihr Erlebnisraum durch Erwachsene so 
strukturiert wird, daß ihnen nur noch die Befolgung der Anweisungen
der Erwachsenen übrig bleibt. 

Das behaupte ich auch gar nicht. Ich argumentiere nur gegen deine
Hypertrophierung dieses "Erlebnisraums", weil ich es persönlich
(Konkreta von Erziehungen; meine eigene und die meiner Kinder) nie
anders erlebt habe als dass die Möglichkeit der Entfaltung und der
abgesteckte Raum, in den hinein das Kind sich entfaltet, eine subtile
Einheit bilden. Für eine optimale Entwicklung bedarf es des
Fingerspitzengefühls des "Erziehers", nicht zu viel und nicht zu wenig
dieses Raums zu lassen.

(Jac 28.7.)
Morus Markard notiert: ...

"Dazu ist es erforderlich, sich radikal von der Auffassung zu 
verabschieden, dass die Erzieher tatsächlich besser wissen, 
was für die Kinder gut ist ... "

In der Erziehungshaltung ist die Verfügbarkeit des Kindes schon
mitgedacht. 

In einer gewisen *Art* von Erziehungshaltung, die hier auf der Liste
aber wohl keiner vertritt. Und die m.E. immer ein Abstraktum ist, eine
Normvorstellung, die Konkreta sind dagegen um Größenordnungen subtiler.
Schon allein deshalb, weil sich Kinder damit nicht zufrieden geben,
sondern um Entfaltungsraum ringen, wenn er zu eng bemessen ist. Und zwar
mit einer außerordentlichen Beharrlichkeit, die Erwachsene schier zur
Verzweiflung treiben kann. Etwa die berühmten Fragen "Warum?" in einem
gewissen Alter.

Ganz exstrem habe ich eine solche Vorstrukturierung bei meiner Arbeit
in einem christlichen Kindergarten erlebt, wo jegliches Fragen a la
"Wie kommen den die Kinder in Mutties Bauch?" oder "Hat Papa auch
einen Piep-Hahn?" den Kindern nicht beantwortet werden durfte, ohne
sich dem Verdacht auszusetzen, die Kinder "zur Sünde zu verleiten".

Sexualerziehung ist ein *ganz* heißes Eisen, weil machtbasierte
Gesellschaften von Anfang an auf Sexualunterdrückung setzen. Und zwar,
weil dort die eigene Lebendigkeit in Form körperlicher Lust am
unmittelbarsten zu spüren ist. Deshalb müssen da ganz dicke
psychologische Barrieren aufgebaut werden und wurden es seit
Jahrtausenden. Mehr dazu bei W. Reich und bei [Hoevels-83]. Im Übrigen
ist mir nicht klar, ob die Wurzeln der "Erinnerung" da noch viel tiefer
reichen, weil du "Sexualverbote" auch im Tierreich hast, Stichwort
Alpha-Tiere.

Und nun nahtlos weiter bei Stefan

(s.mz 26.7.)
- d'accord. Das eine ist einfach die ontogenetische, das andere
die phylogenetische Dimension. Ich verstehe eure Differenzen
nicht - ihr redet schlicht aneinander vorbei, oder?

Beides sind im weitesten Sinne Aussagen zur Ontogenese. Aber ist auch
 egal: Das, was ontogenetisch möglich ist, ist phylogenetisch
geworden. Aus meiner Sicht ist die Differenz, dass Jac eine
ungesellschaftliche Phase der reinen Lebendigkeit (bzw. des reinen
Spiegels) annimmt, die dem Prozess der gesellschaftlichen Formung
oder Spiegelung vorausgeht.

Wie gesagt - ich denke das in Entfaltungsprozessen. Die ontologische
Dimension spannt den Möglichkeitenraum auf als "Erinnerung" an das viele
Millionen Mal Erfolgreiche, die konkrete Situativität spannt den Rahmen
auf, in welchen hinein diese konkrete Entfaltung stattfindet und in
diesen Rahmen hinein entfaltet sich ein konkretes Individuum. Das dabei
seinerseits sowohl Erfahrungen aufsammelt, die in den "Erinnerungspool"
eingehen, als auch durch seine eigene Entfaltung auf die Rahmen
einwirkt, in der sich die con-currente Entfaltung auch anderer -
gleichzeitig und ungleichzeitig - vollzieht.

Unterm Strich ist aber diese Differenz erstmal vernachlässigbar, auch
wenn sie sie wechselseitig für uns beide wichtig ist und an
verschiedenen Punkten immer wieder "durchscheint".

Wenn wir uns um (je) einen *analytischen* Zugang zum Geschehen in der
Welt bemühen und uns nicht die (angeblichen) Unzulänglichkeiten unserer
je eigenen Theorien um die Ohren hauen. Was im Endergebnis nicht nur
unproduktiv, sondern auch müßig ist, weil jede "Wahrheit" über eine
"Küchenfrage" eh nur eine "halbe" ist. Aber ich lese deine mail so, dass
du das nicht anders siehst.

Hältst du es für unerheblich, die Differenz zwischen
Körperlichkeit und Gesellschaftlichkeit, also zwischen ES und ICH
aufzumachen, die Jac aufgemacht hat, wenn über jene
"gesellschaftliche Natur" gesprochen wird?

Was meinst du mit Differenz? Differenz bzgl. welcher Dimension?

Ich halte es für notwendig, das Verhältnis zwischen Körperlichkeit
und Gesellschaftlichkeit im Diskurs permanent aufrecht zu erhalten,
also die Einheit der Differenz zu betonen.

Bei mir ist es genau umgekehrt, mir ist die Differenz in der Einheit
wichtiger. Vor die Synthese die Analyse zu setzen. Damit die Synthese
nicht die Quelle der Dynamik übersieht, die nach meinem Verständnis -
und da kann ich gut nachfühlen, was die PM-Leute zur Kategorie des
"Prä-Lebendigen" führt - im Einzwängen dieser Differenzen in einen
äußeren stabilisierenden Rahmen zu suchen ist (der sich aus dieser und
anderen eingezwängten Dynamiken konstituiert). Das ist für mich der Kern
der Versklavungshypothese der "Hyperzykler" um Jantsch, Eigen, Prigogine
etc.

Die Informatik kann schon mit dem Begriff "Gesellschaft" nichts
anfangen, bestenfalls im Sinne von "Auswirkung auf die Gesellschaft".
Für die gibt's nur "Hardware", wo "Software" drauf läuft, ...

Damit kann ich nun wieder gar nix anfangen. Was ist "die Informatik"?
Wieso wirfst gerade du, der die Janich-Kontroverse aus nächster Nähe
kennt (so hatte ich dich vor einem Jahr verstanden), hier alle(s) in
einen Topf? Haben wir nicht auch gerade in *dieser* Frage auf dieser
Liste bereits einige Debatten hinter uns? Auch wenn die Ergebnisse - aus
dir sicher gut bekannten Gründen - nicht die Konsistenz von
"Oekonux-Positionen" haben. Was ich auch gar nicht schlimm finde.
Vielleicht wird ja auch das, was "Oekonux-Positionen" heißt, viel zu
hoch gerankt und hemmt weitere Entfaltung? Gerade in der Wissensfrage
kann ich mich dieses Eindrucks als "Betroffener" nicht erwehren.

Und gibt es nicht mit [Fuchs-Kittowski] und seinem "Hardware, Software,
Orgware" sowie seiner "These wider den Computer als Automat" auch klare
Ansätze, an die angeknüpft werden kann? Von Capurro et al. ganz zu
schweigen.

.. als das Verhältnis von bestimmenden zu nicht bestimmenden Faktoren
der gesellschaftlichen Natur des Menschen diskutiert und ein
"Ebenenmodell" ... vorgeschlagen

Hat das was mit den Stufen zu tun, die du im de.wiki unter
WissenUndInformation/Themenspeicher findest (sorry, kein Link,
oekonux.de ist gerade wieder mal down)?

Ganz klar: nein.

... es gibt keine "Körperlichkeit an sich". Der gesellschaftliche 
Mensch ist eine Ganzheit, und dazu gehört sein Körper.

Jepp.

Widerspruch, siehe oben, (paradigmatisch) "die Differenz in der Einheit"
und anderenmails (konkret) "die Differenz zwischen Körperlichkeit und
Gesellschaftlichkeit, also zwischen ES und ICH aufmachen". Halte ich an
dieser Stelle für besonders wichtig, weil der Übergang in Richtung einer
FG - wie ich ihn derzeit verstehe - eine (tiefenpsychologisch angelegte)
Psychotherapie für einen ausreichenden Anteil von *Akteuren in dieser*
Gesellschaft einschließt. Was ja auch nicht anders sein kann, denn
"diese Gesellschaft macht krank" (W. Reich). War übrigens m.E. auch
schon Adorno und Fromm weitgehend klar. Wie das genau geht wäre zu
diskutieren. Da ja Psychoselbsttherapie eigentlich nicht funktioniert.

Und wenn hier so was wie "Primat" durchschimmert, dann kann es
m.E. nur der Umstand sein, dass das einzige kreative, verändernde
Element in diesem Kreislauf der TÄTIGE Mensch ist. Die Kraft zur
(und Richtung der) Veränderung kommt also aus dem Inneren der
Menschen selbst. Das aber seinerseits in äußere Verhältnisse
eingespannt ist, die eine stabilisierende Komponente gegen zu
rasche Veränderungen ins Spiel bringen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich 100pro verstehe, aber der
Tendenz nach stimme ich dir zu. Auch bei "Hand vs. Kopf" oder, sehr 
beliebt, "Kopf vs. Bauch" aka "Denken vs. Fühlen" halte ich eine 
Entgegensetzung für falsch.

In der Tat, falsch verstanden, denn "Kopf vs. Bauch" aka "Denken vs.
Fühlen" kommt ja *beides* "aus dem Inneren der Menschen selbst".  Ich
meinte noch einmal den Entfaltungsgedanken, hier als "Metabolismus"
gedacht. Es geht um Bewegungsformen der Menschheit als Gattung, die sich
aus den "tätigen Auseinandersetzungen der Menschen mit ihren je eigenen
Lebensbedingungen" (mein weiter Arbeitsbegriff - hier natürlich Plural
der Konkreta) konstituiert, wenn wir das gesellschaftliche Sein (wieder)
als *Tun* wahrnehmen (Holloway-04) und damit seiner fetischisiert
naturrechtlichen Verbrämung entkleiden wollen.

Und diese "tätigen Auseinandersetzungen" sind eingespannt zwischen
Raisonnieren und Tun im Kantschen Sinn. Auch hier Betonung der
"Differenz in der Einheit" statt "Einheit der Differenz".

Stärker wäre eine Formulierung, die die Einheit in der Differenz 
betont, wie etwa: "Jedes Denken ist gleichzeitig ein Fühlen"; "Es gibt 
keine Verwendung der Hand ohne Benutzung des Kopfes" etc.

Meine Lesart: Jeder Verwendung der Hand geht die Benutzung des Kopfes
voraus. Und: Der Kopf wird in einer Weise benutzt, wie es die Hand
"diktiert".  Koevolvierende, durch Rückkopplung aneinander gebundene
Eigendynamiken. Noch einmal Verweis auf die "Hyperzykler".

Insofern übe ich auch Kritik an Marx, der die Arbeitsteilung, 
insbesondere die von "materieller" und "geistiger" Arbeit, zum 
Ausgangspunkt der Entstehung von Klassengesellschaften macht.
- Aber: Andere Baustelle;-)

Für mich nicht. Meine These der "pubertären Form" konsequent zu Ende
gedacht führt auf den Gedanken, dass Klassengesellschaften *auch* eine
Reaktion auf das Bedürfnis (der Menschheit als Gattung!) nach Freiheit
im Sinne der FG unter unzureichenden materiellen Bedingungen sind. Habe
ich neulich in Antwort auf Jobst versucht genauer auszuführen.

Du brauchst aber NICHT BRÜLLEN. ... Als Betonungszeichen sind
*Sternchen* für Verstärkung ("strong") und _Unterstriche_ für
Betonung ("emphasis") gebräuchlich.

Es war ein Versuch meinerseits, eine Emphasize-Formatierung zu wählen,
die in *allen* Medien (insbesondere den verschiedenen Wikis
einschließlich der Printdarstellungen) wiederzuerkennen ist. Aber wenn
es stört, dann kann ich das gern ändern.

Viele Grüße, Hans-Gert.

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT11910 Message: 73/137 L10 [In index]
Message 12192 [Homepage] [Navigation]