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Re: [ox] Wer ist dieses "wir" ?



Hallo Hartmut und Jacob,

noch zwei Bemerkungen meinerseits, dass Jacobs Argumente keineswegs
*nur* psychoanalytisch zu begründen sind.

Jac: Aha, ein wenig Sozial-Darwinismus. Wundert mich doch etwas, wie sich ein
solcher Darwinist auf diese Liste verirren kann, der "das Überleben des
Tüchtigsten" predigt, welches sich als Leistungsdruck tarnt.

phm: Die Rhetorik, mit der dieses Prinzip hier negiert wird, ist die Rhetorik
der Schoepfungslehre.  Man betreibt viel Wissenschaftstheorie, stellt
selbstverstaendliches als Ideologie dar und befreit sich selbst scheinbar
von allen Scheuklappen, um insgeheim viel groessere Scheuklappen in die
Diskussion einzufuehren.

Jac: Eine Überbetonung des äußeren Druckes, eine geforderte Leistung zu er-
bringen, beinhaltet eine der allgemeinen kulturellen Entfremdung geschul-
dete Verkürzung des Lernens. Der Mensch wird ausschließlich als gesteuert
durch äußere Reize begriffen, als Marionette, an der die Umwelt bestimmte
Reaktionen erzwingt. Lernen hat nichts mehr mit einer Wahl zu tun, für
eine Reaktion aktiv einen passenden Reiz zu wählen, wie es in weniger auto-
ritär strukturierten Gesellschaften nicht nur möglich ist, sondern auch
bis heute (vor-)gelebt wird. Darauf zu bestehen, beide Prinzipien des 
menschlichen Lernens zu berücksichtigen, hat mit einer Überwindung der
Schwerkraft rein gar nichts zu tun.

Ersteres ("Der Mensch wird ausschließlich als gesteuert durch äußere
Reize begriffen, als Marionette, an der die Umwelt bestimmte Reaktionen
erzwingt") hat seine Wurzeln auch in den Erfordernissen der
fordistischen Produktionsweise des "ein Kopf und tausend Hände". Das ist
aber weitgehend am Ende, wenn es in Zukunft viel stärker um Erfahrungen,
Kompetenz, Wissen geht, also das "Reagieren" selbst nicht mehr
"normiert" gedacht werden kann, sondern stark vom Individuum abhängt.
Hartmut, ich glaube, das relativiert deine Position stark. Eine wie von
dir gedachte Extrapolation von Werten ist m.E. auch aus diesen Gründen
nicht haltbar. Sie (diese Werte) müssen zumindest mal gründlich
auseinandergenommen und ggf. wieder zusammengesetzt (eben als "von
Menschen gemacht erkannt") werden. Das ist auf dieser Liste bisher aber
in der Tat erst in Ansätzen geschehen.

Es gibt viel Analogien zum Übergang vom seriellen Kontrollfluss
von-Neumann-Rechner zu nebenläufigen Kontrollflüssen in verteilten
Architekturen in der Informatik.

Durch die als Entfremdung definierte Menschenverstümmelung erschei-
nen viele Überzeugungen als selbstverständlich und ganz natürlich, die
es in Wahrheit nur deshalb sind, weil damit Bedürfnisse des verkürzten
menschlichen Seins - eine Reaktion zu sein, die durch den äußeren Druck
der Reize erzwungen wurde - in dieser Gesellschaft bedient werden. Wir
neigen dazu, weil wir in uns nur Leere und eine tiefe Identifikation mit einer
uns völlig fremden Sicht unserer eigenen Wirklichkeit finden, wenn wir in
uns hineinschauen. Diese fremde Sichtweise unserer Wirklichkeit verspricht
uns Sicherheit, uns selbst zu meistern, von unseren Emotionen nicht fort-
gerissen zu werden, weil unsere Persönlichkeit in der fremden, äußeren
Sichtweise unserer Wirklichkeit und nicht in unseren Bedürfnissen und
Emotionen verankert ist.

Genau das wäre die Dimension, die anzuschauen wäre. Werte sind ja die
"Glaubenssätze des Über-Ich", die so immanent da sind, dass man sie für
gewöhnlich gar nicht mehr als solche wahrnimmt.

Hier zeigt sich der Unterschied beider Schulen der Psychoanalyse: die eine
Schule will Menschen befähigen, im Sinne der herrschenden Kultur die
eigenen Emotionen besser zu steuern und störende Emotionen und Be-
dürfnisse loszuwerden, die revolutionäre Schule dagegen sieht die Aufgabe
der Psychoanalyse darin, Menschen zur Selbstentwicklung und -verwirk-
lichung unter Berücksichtigung des vollständigen Satzes von Emotionen 
und Bedürfnissen zu befähigen. 

Verhaltenspsychologischer vs. tiefenpsychologischer Ansatz. Heute wird
weitgehend nur der erstere gelehrt, wenn ich es recht verstehe.

HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
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