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Re: [ox] Wer ist dieses "wir" ?



Hallo Hartmut,

Am Donnerstag, 11. Mai 2006 08:01 schrieb PILCH Hartmut:
Ich sehe Leistungsdruck schlicht als Grundbedingung menschlicher (und
überhaupt biologischer) Existenz.  Ebenso ist die Möglichkeit, diesen
Druck durch Tausch zu vermindern eine Grundbedingung.  Dabei geht man
anderen Menschen/Wesen gegenüber Verpflichtungen ein und übernimmt
somit einen Teil des Drucks, der auf ihnen lastet.  Aber der Druck
bleibt Motor all der Anstrengungen, die man übernimmt, um ihn zu
mindern.  Je weniger direkt er spürbar ist, umso entfremdeter das
Gemeinwesen.  Besonders entfremdet war wohl die Industriegesellschaft
des 19.-20. Jahrhunderts mit ihren Großunternehmen und
Sozialstaatsbürokratien.  Nur dort konnten vermutlich Vorstellungen wie
die einer gänzlichen Überwindung des Leistungsdenkens gedeihen.

Aha, ein wenig Sozial-Darwinismus. Wundert mich doch etwas, wie sich ein
solcher Darwinist auf diese Liste verirren kann, der "das Überleben des
Tüchtigsten" predigt, welches sich als Leistungsdruck tarnt.

Die Rhetorik, mit der dieses Prinzip hier negiert wird, ist die Rhetorik
der Schoepfungslehre.  Man betreibt viel Wissenschaftstheorie, stellt
selbstverstaendliches als Ideologie dar und befreit sich selbst scheinbar
von allen Scheuklappen, um insgeheim viel groessere Scheuklappen in die
Diskussion einzufuehren.

Moment, das Prinzip, zwecks des sogenannten Überlebens in einen Austausch
mit der Umwelt zu gelangen, habe ich mit keinem Wort negiert.  Ebenfalls ist 
es eine Tatsache, daß die Strukturen des Gehirns sich durch den frühkind- 
lichen Kontakt mit der Umwelt bilden - aber in diesen Prozess greift der pä-
dagogische Ansatz ja schon zum Schaden der Heranwachsenden ein. Schon
dieser Kontakt wird kanalisiert und eingeengt, um  verstümmelte Menschen
zu produzieren, aus der Überzeugung heraus, würde man diese Verstüm-
melung unterlassen, würden die unverstümmelten Menschen später im Sinne
der gesellschaftlichen Überzeugungen Verbrecher werden.  Das geht über eine 
simple Ideologiekritik weit hinaus.

Ausgangspunkt Deiner Überzeugung ist der Mensch als "tabula rasa",
als leere Hülle, in der durch äußeren Druck, eine bestimmte Leistung zu
erbringen, Innerlichkeit und Identität angelegt wird. In der Verkürzung Deines
Ansatzes auf einen Absatz generalisierst Du den äußeren Druck der Umwelt
zum allein wesentlichen Prinzip. Andere Biologen sind jedoch durchaus in
der Lage, zuzugeben, daß noch andere gleichwertige Prinzipien eine ebenso
grundlegende Rolle spielen, die z.B. der Bildung eines emotionalen Gehirns
erwachsen.  Ausgangspunkt meiner Überlegung ist es, daß jeder Mensch 
keine leere Hülle bei seiner Geburt darstellt, sondern seine eigene Existenz 
und eine Vielzahl eigener Gefühle und Bedürfnisse, die diese Existenz 
ausmachen, mit auf die Welt bringt, die im vorgeburtlichen Reifungsprozess 
angelegt wurden.  Dieser Ausgangspunkt ist auch Stand der augenblicklichen
wissenschaftlichen Forschung.

Eine Überbetonung des äußeren Druckes, eine geforderte Leistung zu er-
bringen, beinhaltet eine der allgemeinen kulturellen Entfremdung geschul-
dete Verkürzung des Lernens. Der Mensch wird ausschließlich als gesteuert
durch äußere Reize begriffen, als Marionette, an der die Umwelt bestimmte
Reaktionen erzwingt. Lernen hat nichts mehr mit einer Wahl zu tun, für
eine Reaktion aktiv einen passenden Reiz zu wählen, wie es in weniger auto-
ritär strukturierten Gesellschaften nicht nur möglich ist, sondern auch
bis heute (vor-)gelebt wird. Darauf zu bestehen, beide Prinzipien des 
menschlichen Lernens zu berücksichtigen, hat mit einer Überwindung der
Schwerkraft rein gar nichts zu tun.

Durch die als Entfremdung definierte Menschenverstümmelung erschei-
nen viele Überzeugungen als selbstverständlich und ganz natürlich, die
es in Wahrheit nur deshalb sind, weil damit Bedürfnisse des verkürzten
menschlichen Seins - eine Reaktion zu sein, die durch den äußeren Druck
der Reize erzwungen wurde - in dieser Gesellschaft bedient werden. Wir
neigen dazu, weil wir in uns nur Leere und eine tiefe Identifikation mit einer
uns völlig fremden Sicht unserer eigenen Wirklichkeit finden, wenn wir in
uns hineinschauen. Diese fremde Sichtweise unserer Wirklichkeit verspricht
uns Sicherheit, uns selbst zu meistern, von unseren Emotionen nicht fort-
gerissen zu werden, weil unsere Persönlichkeit in der fremden, äußeren
Sichtweise unserer Wirklichkeit und nicht in unseren Bedürfnissen und
Emotionen verankert ist.

Hier zeigt sich der Unterschied beider Schulen der Psychoanalyse: die eine
Schule will Menschen befähigen, im Sinne der herrschenden Kultur die
eigenen Emotionen besser zu steuern und störende Emotionen und Be-
dürfnisse loszuwerden, die revolutionäre Schule dagegen sieht die Aufgabe
der Psychoanalyse darin, Menschen zur Selbstentwicklung und -verwirk-
lichung unter Berücksichtigung des vollständigen Satzes von Emotionen 
und Bedürfnissen zu befähigen. 

Das Prinzip dieser fremden Sichtweise unserer Wirklichkeit übertragen wir in 
unsere Ideologien, wissenschaftlichen Fragestellungen und Weltanschau-
ungen, um uns und andere davon zu überzeugen, gar nichts anderes sein zu 
können als ein verkürztes Selbst, welches die  eigene Lebendigkeit negiert.
Äußere Ideen, Dinge und Verhältnisse werden dadurch so übermächtig und 
unüberwindbar wie die pädagogische Autorität dem Säugling gegenüber, so 
daß am Ende nicht wir Ideen, Dinge und Verhältnisse haben, sondern von
diesen besessen werden. Oder um es mit Emmerson zu sagen: "Dinge sitzen 
im Sattel und reiten die Menschen."

Jacob
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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