Re: [ox] Weltliche Religion
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Wed, 17 May 2006 15:53:12 +0200
Jac wrote:
Bislang wurde nicht die Bourgeoisie proletarisiert, sondern durch
den New Deal und die Sozialversicherungssysteme das Proletariat
nachhaltig im Mittelstand bourgeoisiert. Werte und Sitten der
Bourgeoisie drangen ins Proletariat ein, nicht umgekehrt. Nicht die
Bourgeoisie entdeckte durch Verarmung die Werte des Proletariats
als eher der eigenen Lage entsprechend, sondern das Proletariat
entdeckte und übernahm die Werte der Bourgeoisie als eher der
eigenen Lage als Eigentümer von Konsumartikeln, Autos, Häusern
und Grundstücken entsprechend.
Das haben wir neulich hier in Leipzig mal diskutiert (Titel: "Schafft
der Kapitalismus (doch noch) die unternehmerische Persönlichkeit?"). Es
kam raus, dass der Begriff des "Unternehmers" über die Zeit eine
ziemliche semantische Entwicklung genommen hat. Zu Marxens Zeiten war
das noch der "Undertaker", der die Riskiken einer Unternehmung -
einschließlich der finanziellen - schulterte. Bei Marx (dem späten)
werden vor allem die finanziellen Aspekte davon betrachtet. Die
Innovationsfunktion etc. bleiben weitgehend außen vor. Wie auch immer -
damals war das alles weitgehend in Personalunion und "Bourgeois",
Kapitalist", "Unternehmer" nur unterschiedliche Bezeichnungen für real
ein und dieselbe Person. Das ist heute im Zeitalter der anonymen
Kapitalströme auch auf der personellen Ebene längst nicht mehr so.
Mehr unter http://www.hg-graebe.de/WAK-Leipzig/2006-05-10.html
Das Proletariat verwandelte sich von einer aus Staat, Gesellschaft und
der Warenwelt weitgehend ausgeschlossenen Gruppe in eine in die bour-
geoise Konsumwelt eingebundene Gruppe.
Insofern ist Marxens "Bourgeoisie und Proletariat" vielleicht ungenau im
Fokus. Selbst der Ansatz, dass einer von zwei Polen das sie
konstituierende Gesellschaftmodell aus den Angeln heben könnte ist ja
eigentlich widersinnig. Aber was hat Marx da "gesehen" und vielleicht
falsch interpretiert? Wie gesagt, (Moglen-03) ist für mich da noch immer
die konsistenteste Antwort, die ich bisher gelesen habe.
Und auch der Staat, der von
Marx als Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft definiert wurde, entwickelte
sich nicht nur selbst zum Produzenten, sondern auch zum versteckten
Gegenspieler unbegrenzter Konkurrenz und Kapitalkonzentration, in-
dem dieser durch die Kartelämter wieder und wieder in den Markt ein-
griff.
Das sind allerdings nur Aspekte einer komplexen Realität.
Die marxsche Theorie formuliert daher kein Naturgesetz, weil
ihre Vorhersagen durch die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts bislang
falsifiziert wurden.
Hmm, was ist "die marxsche Theorie"? Die ökonomische (des späten Marx)
halte ich schon für sehr aussagekräftig. Ist halt nicht alles Ökonomie,
heute weniger denn je, auch wenn es uns täglich eingeredet wird. Aber da
sind wir schon wieder bei psychologischen Phänomenen.
Viele Grüße, HGG
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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