Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Mon, 27 Jun 2005 12:55:53 +0200
Stefan Merten wrote:
HGG: (m.E. die Kernfrage im Streit mit Karsten Weber in Chemnitz),
Wer war noch schnell Karsten Weber? Ist er hier auf der Liste?
Wenn ja: Kann er nicht für sich selbst sprechen? Wenn nein: Inwiefern
spielt dein Streit mit ihm hier eine Rolle?
Karsten Weber war der nette junge Mann, der in Chemnitz am Sonntag den
Plenarvortrag gehalten hat. Als Diskussionsleiter erinnere ich mich,
dass auch du mit im Raum saßt. Insofern verstehe ich deine Frage nicht.
Aber hier auf der Liste spielt er wohl selbst keine aktive Rolle. Seinen
Text "Der Preis der Informationsfreiheit" steht unter
http://www.hg-graebe.de/Texte/RLKonf-2005.html
Es war auch nicht allein "mein" Streit mit ihm, sondern der von Kurt
Reiprich, Jörg Wittenberger, Wolfgang Fischer, etc. - und ich dachte
auch von dir, aber da habe ich mich also geirrt.
*Insofern* wir uns darüber verständigen wollen, was das Mehr der
"Macht der vereinten Individuen" gegenüber der "Vereinigung der
Macht der Individuen" ist
Ich kann dieser formelartigen Formulierung nichts entnehmen :-( .
Es ist ein Dauerbrenner zwischen uns: Gibt es jenseits von
"Selbstentfaltung(en)", also der Summe der lokalen Effekte sich selbst
entfaltender, sich selbst ermächtigender Individuen, ein Mehr - globale
Effekte - einer gemeinschaftlichen Entfaltung. Wenn ja - meine These -,
wie sind diese zu fassen?
würde ich deine Frage (die Rolle der nicht verbalisierbaren eigenen
Erfahrungen und die Frage, ob auch die einem Sozialisierungsprozess
unterliegen) *zunächst* ausklammern wollen. Allerdings auch die
Frage "Kennen Tiere Wissen?"
Diese Haltung halte ich aber für eine extrem ahistorische, kulturell
bornierte und noch dazu nicht hinreichende.
Was, das Theorie reduzierende "zunächst"?
Mit anderen Worten: Eine extrem eurozentrische Sichtweise, die sich
in der Tradition der breitesten Blutspur befindet, die die Menschheit
auf diesem Planeten erlebt hat.
Ah ja. So darf man also nicht denken. Was soll das?
Noch dazu ist sie nicht hinreichend, da der Begriff des
gesellschaftlichen Wissens damit auf das formalisierbare reduziert
wird. ...
Klar ist sie nicht hinreichend, aber vielleicht als allererste Näherung
ans Thema doch brauchbar? Der Wissensbegriff wird sehr schnell sehr
komplex, wie du selbst festgestellt hast.
Davon abgesehen denke ich, dass die Grenzen zwischen sehr
individuellem "verborgenem" Wissen wie dem oben beschriebenen und
"verborgenem" Wissen wie etwa dem Wissen über soziale
Verhaltensweisen fließend sind. ...
Vollkommen d'accord. Adorno, Horkheimer und die ganzen anderen Leute der
Frankfurter Schule haben sich in der ersten Hälfte des 20. Jh nicht von
ungefährt fast synchron der Psychoanalyse zugewendet. Auch in den
Chemnitzer Thesen findest du dazu genug.
Allerdings enthält der Wissensbegriff eine weitere Klippe: Wenn wir
anfangen konkret zu werden, dann steht sehr schnell auch unsere eigene
kommunikative Praxis zur Diskussion. Und die ist gerade im Bereich des
"verborgenen" Wissens stark mit psychologischen Phänomenen aufgeladen,
wofür unser flame anderenorts ein erstklassiger Beleg ist.
Ich hatte in Chemnitz im Zusammenhang mit dem
Informationsfreiheitsbegriff nicht von Ungefähr die Frage der
Datenspur aufgerufen.
??? Ich vermute, dass andere ähnlich abgehängt sind wie ich.
Was ist eine Datenspur?
Eine Datenspur ist das, was Tun oder sogar Sein in Raum und Zeit
hinterlässt. Das, was die Spurensicherer der Kripo aufdecken, woran die
Biene den Honig erschnuppert, das Faltungsmuster im Stein als Resultat
einer Gebirgshebung etc.
D.h. eine Datenspur kommt ohne Messgeräte/Sinnesorgane aus?
Ja, denn das Hinterlassen einer Datenspur und das Aufnehmen einer
Datenspur sind vollkommen getrennte und autonome Prozesse. Letzteres
geschieht auch allein in der Verantwortung des aufnehmenden Individuums
- sofern es verantwortungsfähig ist (was bei Karsten Weber eine
Eigenschaft war, die nur Individuen zukommt). Das war in Chemnitz die
Kontroverse zum Thema Arzt / Patient: Der Arzt nimmt die Datenspur des
Patienten auf und stellt eine unheilbare Krankheit fest. Hat der Patient
ein (positives) Recht auf die Mitteilung dieser Diagnose? Weber hat dazu
strikt "ja" gesagt, aber die theoretische Begründung dafür war aus
meiner Sicht nicht schlüssig, eben wegen der Spezifik der Datenspur, an
der es aus prinzipiellen Erwägungen heraus kein Eigentum geben kann.
Privatsphäre ist in diesem Sinne ein *gesellschaftliches* Konstrukt.
.. so was wie ein Gedächtnis. Als Fähigkeit Erinnerung festzuhalten (eben
die Datenspur?).
Ich kann dir leider nicht folgen :-( .
Und Lebewesen sind offensichtlich in der Lage, diese
Erinnerung aufzunehmen. Individuell und - sicher graduell abgestuft -
auch kollektiv (jede Form von Herde hat so was). Da unsere Ideen was mit
unseren Erinnerungen zu tun haben und all das unser Wesen bestimmt - ist
das vielleicht unsere Seele?
Inwiefern spielt der historisch durchaus hochbeladene Begriff der
Seele hier eine Rolle?
Datenspuren im oben gebrauchten Sinne erinnern an Gewesenes und sind
damit - neben der historisch deutlich jüngeren Form der verbalen
Wissensweitergabe - die Form, in der Historizität als die "vorgefundenen
Bedingungen unseres Seins" überhaupt auftritt. "An ihren Daten werdet
ihr sie erkennen" paraphrasiere ich mal das Bibelzitat, denn es ist
genau diese Ausprägung der "Taten", die hier eine Rolle spielt. Dass du
nach deinem ausführlichen Plädoyer für nichtverbale Erinnerungsformen
genau hier die "Seele" nicht spüren kannst wundert mich. Was bedeutet es
denn, wenn jemand "seine Seele in eine Sache legt"? Ist das nicht genau
die Intentionalität seiner Taten, die sich vielleicht aus seiner
Datenspur zurückerspüren lässt? Ist es ein Unterschied, ob ein Tun ein
"Job" oder mehr ist? Wenn ja, welcher Natur ist dieses "mehr"?
Bei Kuhlen waren Informationen diejenigen xy, die für uns
handlungsleitend sind.
Ist Kuhlen auf der Liste? Wenn ja: Kann er nicht für sich selbst
sprechen? Wenn nein: Inwiefern spielt er hier eine Rolle?
Nein, Kuhlen ist einer der beiden Sprecher des Urheberrechtsbündnisses,
http://www.urheberrechtsbuendnis.de, und
war auch in Chemnitz. Aber ich gebe den Fauxpas zu: es war bereits am
Freitag abend, also vor deiner Ankunft.
Produktionsweise, was ist das?
Du stellst diese Frage nicht im Ernst, oder?
Doch, die stelle ich sehr ernst, weil bei Marx die gesamte
Wissensreproduktion nicht in seinem Begriff der Produktionsweise
enthalten ist. Es ist bei ihm die Weise der Produktion im engeren Sinne.
Genau das reicht hier nicht mehr aus.
Da glaube ich mich mit dem Begriff der Leitsozialisation weiter.
Was ist eine Leitsozialisation? Vielleicht die deutsche Lei[td]kultur?
Kann es sein, dass du hier von einem OHA-Phänomen redest? Das würde
ich aber dann der materialistischen Produktionsweise als
Überbauphänomen unterordnen.
Die Leitsozialisation ist für mich derjenige unter den vielfältigen
Sozialisierungsprozessen der Gesellschaft, um den herum sich
Gesellschaft aufbaut. Im Kapitalismus also die als Erwerbsarbeit
daherkommende Sozialisierung produktiver Arbeit im engeren Sinne, aus
der sich die gesamte Gesellschaft strukurierende "Macht des Geldes"
speist. In meinem Mawi-Paper und auch meinem Vortrag in Wien habe ich
dargestellt, dass ich hier einen Shift sehe zur "Macht des Wissens" und
so auch das Ringen zwischen Alien-Zivilisation und Maquis bei C. Spehr
verstehe.
Was die Verbindung zum OHA-Phänomen betrifft, so kan ich dazu wenig
sagen, weil ich noch nicht so recht verstanden habe, was sich dahinter
verbirgt.
Als wer oder was wähnst du dich weiter? Weiter in welche Richtung?
Ich meine, dass der Begriff der Leitsozialisation das präziser fasst,
was du mglw. mit dem Begriff der Produktionsweise verbindest.
HGG: Ich hatte in Chemnitz im Zusammenhang mit dem
Informationsfreiheitsbegriff nicht von Ungefähr die Frage der Datenspur
aufgerufen. ...
El Casi: Gibt es bei Deinem Gebrauch von Datenspur einen Unterschied zum
Gebrauch von Spur?
Eigentlich nicht. Die Datenspur verstehe ich als etwas, das wir
unwillkürlich hinterlassen wie das Wärmebild unseres Körpers, Fuß- oder
Fingerabdrücke beim Anfassen etc.
Hieran so was wie Eigentumsrechte zu
binden halte ich für sehr inkommod.
Warum sollte mensch?
In der Diskussion um den Informationsfreiheitsbegriff wird das aber
gemacht: Jeder ist Herr über die von ihm produzierten Daten und kann wie
ein Eigentümer darüber befinden, wer was wie nutzen darf. So jedenfalls
das theoretische Konstrukt, das der Gesetzgebung zu Grunde liegt.
Im Gegenteil, diese Datenspur freizügig aufnehmen zu können
("information wants to be free") ist etwas Gesellschaft
konstituierendes - "an ihren Taten werdet ihr sie erkennen".
Diesen Satz "information wants to be free" halte ich für eine
Ideologie. Hier werden Informationen andropomorphisiert
(vermenschlicht). Informationen sind aber nicht mal Lebewesen und
ihnen einen Willen ("want") zu unterstellen ist pure Esoterik (siehe
diesen absurden Meme-Diskurs...).
Ich verstehe nicht, wie du dir Gesellschaft anders vorstellst, als auf
der Basis permanenten gegenseitigen Beobachtens? Jegliche diskursive
Kommunikation setzt doch eine solche Beobachtung als Kontext generierend
voraus, oder? Nicht die Informationen haben einen Willen, sondern die
diskursiven Bedingungen sind so, dass es aussieht, als ob "information
wants to be free". Deshalb muss auch darauf gedrängt werden, solche
Bedingungen für diskursive Kommunikation zu setzen, also Eben Moglens
7-Punkte-Programm verwirklichen.
Allerdings bin ich schon für Anthropomorphisierung, wenn wir über die
Bewegungsgesetze *menschlicher* Gesellschaftlichkeit reden.
Nein, für eine theoriehaltige Debatte ist dieser Satz gänzlich
ungeeignet. Es muss vielmehr darum gehen, welcher Gebrauch von
Informationen für welche Menschen zu einem bestimmten historischen
Zeitpunkt für welche Ziele sinnvoll ist.
Genau einen solchen instrumentellen Zugang halte ich für zu eng, weil er
die Menschen letztendlich entmündigt.
Damit wird aber Karsten Webers Begründung geistiger Eigentumsrechte auf
das zurückgeworfen, um was es wirklich gehen muss - die Begründung einer
Privatsphäre und deren begriffliche Abgrenzung.
Ah, der Karsten scheint es dir angetan zu haben. Wenn er nicht auf der
Liste ist, dann ist das hier allerdings vergebliche Liebesmüh.
Och, es gibt ja auch noch mails außerhalb der Liste. Und außerdem das
ox-Archiv, nun auch - dank deiner Mühen - mit einer guten Suchfunktion :-)
Viele Grüße, Hans-Gert
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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