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Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Stefan,

na, dann will ich mich mal ans Beantworten deiner Fragen machen :-)

HGG: ... wenn bei der Ausprägung der Semantik dieses Begriffs
(und darum muss es dann auch gehen) das qualitativ Neue der
aufkommenden Gesellschaft sichtbar wird. Erst auf _dem_ Hintergrund
gewinnt auch die ganze Keimformdebatte neben ihrer phänomenologischen
dann auch _inhaltliche_ Substanz.

SMz: Auch das reicht IMHO noch nicht hin, denn die verlängerte Frage lautet:
Neue Qualität - in Bezug auf welche Dimension?

Dazu muss die begriffliche Semantik aber vorher geschärft, sozusagen ein "Glossar" erstellt werden.

HGG: Es geht um den Wechsel von der
Sozialisation produktiver Arbeit zur Wissenssozialisation als
Leitsozialisation der Gesellschaft.

SMz: Siehst du, hier hast du implizit die Dimension, bzgl. derer du die
Qualität betrachtest, mit drin: "Sozialisation". Allerdings weiss ich
nicht wirklich, was du damit meinst: Was ist denn "Sozialisation
produktiver Arbeit"?

Damit meine ich das "Aufsaugen dieser individuellen Arbeiten durch den Gesellschaftskörper", wie wohl Marx geantwortet hätte, was im Kern die Konfrontation und Anerkennung des je privaten Mühe- und Nutzenkalküls, der mit dieser Arbeitsleistung verbunden ist, mit einem durchschnittlichen gesellschaftlichen Aufwand, oder sagen wir allgemeiner einem "state of the art", bedeutet. Ein recht subtiles Verhältnis, das du wohl als Dichotomie "personal-gesellschaftlich" reflektierst. Es ist ein Verhältnis, welches heutige Realität (der privaten konkreten Arbeiten) mit aus dem Vergangenen gespeisten Erwartungen (genau so ist der "state of the art" ja beschaffen) konfrontiert und so Zukunft vorstrukturiert. Diese Erwartungen haben ihre Wurzeln in Erfahrungen, die selbst wieder aus privaten konkreten Arbeiten erwachsen sind, aber einer langwelligeren Dynamik unterliegen als ebendiese privaten konkreten Arbeiten. Also ein typischer Mehrskalen-Effekt, der sich methodisch zB. in einem Gerüst von Mikro- und Makroevolution im Sinne der Hyperzyklen reflektieren lässt.

Ein solcher Zugang macht dann zumindest auch deutlich, was ich lange an deinem Zugang kritisiere: Es ist durchaus sinnvoll, das Mehrskalenverhältnis wie bei den "Hyperzyklern" als Summe von Zwei-Skalen-Verhältnissen zu studieren, da sieht man schon eine Menge mehr als beim klassischen Ein-Skalen-Zugang, aber die Dynamiken der realen Welt sind vielfältiger skaliert als eine Dichotomie "personal-gesellschaftlich" zu erfassen vermag.

HGG: Sie berücksichtigt nicht, dass "Wissen" nicht
nur beschafft, sondern auch angeeignet werden muss.

SMz: Das Aneignungsargument hast du schon in mehreren Kontexten gebracht.
Ich habe immer drüber hinweggelesen, weil ich nicht weiss, worauf du
hinaus willst. Ich frage jetzt Mal: ...

Ich wei0 nicht, ob du in deiner nun folgenden Frage Aneignung im selben Sinn gebrauchst wie ich hier. Ich meine Aneignung nicht im politökonomischen, sondern schlicht im lebensweltlichen Sinne: Es reicht nicht aus ein Buch zu kaufen, du musst es auch lesen; es reicht nicht eine Software - und sei es Open Source - zu beschaffen, du musst auch verstehen, wie man mit ihr umgeht. Erst dann wird das dort gespeicherte "Wissen" für deine eigene Lebenspraxis relevant.

Du kannst heute kaum mehr Wissen
einfach so "aufnehmen", sondern jede Aneignung ist immer mit
Vergegenständlichung verbunden,

Das verstehe ich in dem Licht überhaupt nicht, Aneignung ist in _diesem_ Sinn ja eher "Entgegenständlichung". Aber das hat etwas mit Syntax und Semantik (von noch weiter drüberliegender Pragmatik oder gar Hermeneutik will ich gar nicht reden) zu tun, wo du mir sicher zustimmst, dass die "Vergegenständlichung" - jenseits ihrer kontextuellen Einbettung - ausschließlich syntaktischen Charakter hat; mit einem chinesischen Buch kann ich nichts anfangen, weil ich kein Chinesisch kann, auch wenn da was ganz Tolles über Open Source drinstehen sollte.

SMz: Zweiter nachfragender Einwand: Ist Wissen bei dir eine individual-
oder eine gesellschaftstheoretische Kategorie? Du sprichst meistens von
der individuellen Aneignung - IMHO kann der Begriff "Wissen" aber nur gesellschaftstheoretisch adäquat gefasst werden.

Beides in einer subtil interagierenden Mischung. Capurro reflektiert darüber im letzten Kapitel seines Buches sehr ausführlich und kommt u.a. bei Kant vorbei: "Raisonniret so viel ihr wollt, aber gehorchet", was eine aus heutiger Sicht sehr kurzschrittige Fassung einer Dichotomie von öffentlichem und privatem Gebrauch von Vernunft ausdrücken soll: Dem öffentlichen Gebrauch, dem "Raisonniren", dem unbestimmten, entgrenzten, aber unverbindlichen "Wälzen von Gedanken", steht der private Gebrauch - auch bzw. gerade in Ausübung eines "öffentlichen Amts" - gegenüber, der in einem gesellschaftlichen Kontext nur in einer verantwortungsbeladenen Begrenztheit möglich ist. Beides steht in einem sehr engen Spannungsverhältnis, das du mit deiner Frage nicht auffängst. Meine Antwort in Mawi-Paper lautet deshalb: Wissen ist eine individuell vermittelte Gesellschaftlichkeit, (produktive) Arbeit eine gesellschaftlich vermittelte Individualität.

Das ist zugleich nach meinem Verständnis der zentrale Unterschied, wie in beiden Fällen das "Aufsaugen durch den Gesellschaftskörper" geschieht. Eisslers Aufsatz ist in vielem lesenswert, besonders seine Kritik der Übertragung des Eigentumsbegriffs auf "Geistiges", das Pullovergleichnis, die geschichte mit den Sklaven etc. An _dieser_ Stelle bleibt die Argumentation aber schwach.

Übrigens lese ich gerade wieder mal im Spehr-Band "Gleicher als andere" (Dietz Verlag 2003) und habe festgesteltl, dass ich dort zwei wichtige Arbeiten bisher gar nicht zur Kenntnis genommen hatte: Die Aufsätze von Wolf und Mocek.

Während letzterer ("Einen Preis auch für Wilhelm Weitling") die enorme historische Dimension der Debatte noch einmal vor Augen führt, ist ersterer genau an dieser Dimension dran: "Die heute in einem Übergang zur freien Kooperation zu lösende Aufgabe besteht also darin, einerseits alle Herrschaftsverhältnisse zu überwinden, wobei den geschlechtlich verfassten Reproduktionsverhältnissen und den kulturell verfassten Kommunikationsverhältnissen aufgrund der sich in ihnen vollziehenden Umwälzungen eine besondere Dringlichkeit zukommt ..." Meine These im Mawi-Paper ist, dass beim Umwälzen der Kommunikationsverhältnisse anzusetzen ist, während alle bisherige "Revolution" bei den Herrschaftsverhältnissen angesetzt hat. Aber da sind wir wohl nicht sehr weit voneinander entfernt, wenn ich den Titel deines Vortrags in Chemnitz lese ...

Was ist "Phase 2"?

Das Aneignen nach den Beschaffen.

HGG: Die Argumentation sollte hier nicht hinter Eben Moglens "dotCommunist
Manifesto" zurückgehen.

SMz: Was meinst du hier?

Na, zB. den klaren Aufriss der Historizität von "Owners and Creators", die Beschreibung "Digital technology transforms the bourgeois economy...", das Interplay "Freedom and Creation", die Beschreibung des Dilemmas "As, in the new digital society, creators establish genuinely free forms of economic activity, the dogma of bourgeois property comes into active conflict with the dogma of bourgeois freedom" (wozu du aber auch bei Stephan Eissler lesen kannst), der Front "But the law of bourgeois property is not a magic amulet against the consequences of bourgeois technology: the broom of the sorcerer's apprentice will keep sweeping, and the water continues to rise. It is in the domain of technology that the defeat of ownership finally occurs, as the new modes of production and distribution burst the fetters of the outmoded law." (die du aber gern auch in meinem Mawi-Paper lesen kannst) usw.

HGG: dann näher auf eine intensive Kontroverse zum Informationsbegriff ein,
die der Marburger Wissenschaftsphilosoph Peter Janich 1998 losgetreten
hat.

SMz: Eine für die Informatik peinliche Debatte. Nur leider war auch Janich
so schwach, aber das wenige, was er richtigerweise kritisiert hat,
hat die Hardcore-Informatiker ziemlich angegangen.

Und würde es sicher noch heute. Insofern ist es schon interessant, Klemms Artikel gerade im Informatik-Spektrum, dem Hausblatt der GI, zu finden. Hatte ich so gar nicht erwartet. Aber warum sollen die Informatiker nicht auch langsam aufwachen, nachdem sich die Masse der Wissenschaftssphäre inzwischen hinter so was wie der Göttinger Erklärung versammelt.

Capurro habe ich mal live erlebt, und er hatte (mir) nichts Neues zu
sagen - ich fand's eher fad. Das hat mich davon abgehalten, sein Buch
zu lesen. Habe ich was verpasst?

Glaube schon, aber das lässt sich ja ändern :-) Ich bin mit Capurro durch die Chemnitzer Konferenz in Korrespondenz. Er kommt selber nicht, aber hat Karsten Weber aus FFO empfohlen, so dass ich dem Sonntag auch mit Interesse entgegensehe. Sein Buch titelt zwar "Leben im Informationszeitalter", es geht aber in den ersten 4 Kapiteln vor allem um Lebenskunst im Informationszeitalter. Sehr spannend, da es die ganze Selbstentfaltungsdebatte in einem mir vollkommen neuen, in Wirklichkeit extrem alten Licht erscheinen lässt. Inzwischen habe ich gelernt, dass diese Lebenskunst-Debatte derzeit an vielen Fronten geführt wird und klare Brücken zu Adorno etc. sowie auch Bloch und seinem "Prinzip Hoffnung" existieren, wie du in dem lesenswerten Bändchen "Unabgegoltenes im Kommunismus" der RL Sachen, http://www.rosa-luxemburg-stiftung-sachsen.de/seiten/ver-diskurs.html in verschiedenen Aufsätzen entnehmen kannst. Wäre also ein echtes Thema für die Luxemburg-Konferenz 2006.

Finde ich nicht "verjährt" -

deshalb ja auch die Quotes.

Viele Grüße, Hans-Gert

--

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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