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[ox] Re: Autarkie und Uebergang



Hi StefanMz, Graham, FranzN, Liste!

Last month (52 days ago) Stefan Meretz wrote:
Überlegt doch mal die
hier angedeutete Frage: Ist Autarkie möglich oder unmöglich, notwendig
oder unnötig, wichtig oder unwichtig? Und: welche Art Autarkie?
Und das im Hinblick auf den Übergang zu GPL-Gesellschaft.

Schon länger her aber eine durchaus interessante Frage! Mal sehen, ob
ich sie noch ein bisschen weiter treiben kann.

Zunächst: Bisher wurde die Frage nur im Zusammenhang mit der
Konstellation der Oktoberrevolution gestellt: Die Entwicklung findet
in einem Land statt, dass bzgl. Produktivkraftentwicklung rückständig
war. Die Frage ist aber m.E. auch für die bzgl.
Produktivkraftentwicklung am weitesten entwickelten Regionen
interessant. Auch hier kann ja die Frage gestellt werden, in wie weit
Autarkie im Übergang eine Rolle spielen kann / sollte / muss.

Bei der Freien Software ist Autarkie ja nun nicht angesagt - sie ist
ja voll ins kapitalistische System eingebettet, eine Insel quasi im
kapitalistischen Meer (auf der vielleicht auch schon Schiffe gebaut
werden können - und nicht nur hinter Dämmen. Um dieses Bild mal ein
bisschen weiter zu treiben.) Gibt es eine theoretische Grenze, wo
solche Keimformen nicht mehr eingebettet sein können ohne die
Keimformeigenschaft zu verlieren? Mein Gefühl tendiert zu: Nein, eine
solche Grenze gibt es nicht. Würde es sie geben, so wäre es keine
Aufhebung des Bestehenden mehr, sondern (wieder nur noch) ein bloßes
Anti - die Keimform also keine Keimform mehr.

Aber nochmal zu Potenzen von GPL-Gesellschaft in Ländern, in denen die
Produktivkraftentwicklung verhältnismäßig zurück ist.

Warum ist das wichtig?

Eine GPL-Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht "inkompatibler" zum
Kapitalismus als es z.B. die DDR war:
- keine Warenproduktion (kein Markt, kein Geld, keine Arbeit), sondern
  Produktion freier Güter auf der Grundlage von Selbstentfaltung
- keine staatliche Organisation, sondern Selbstorganisation

War die DDR oder ist Kuba oder ist Venezuela (um mal ein anderes Beispiel
zu nehmen) "näher" an der GPL-Gesellschaft dran? Hm, ich würde mal so
antworten: Substanziell nein, vom Wollen vieler Menschen vielleicht
schon.

Mich würde interessieren, warum du das Wollen dort anders einschätzt
als in den hochindustrialisierten Ländern. Meinst du, die Zurichtung
auf Tausch sei in den voll entwickelten Geldgesellschaften noch viel
tiefer in den Köpfen als dort? Aber in Argentinien gab es in der Krise
z.B. auch sofort wieder (privat organisierten) Tausch. Na gut,
Argentinien war wohl auch recht flächendeckend in den Kapitalismus
integriert.

Was meinst du / ihr?

Unterstellen wir das Wollen. Was könnte so eine warenproduzierende
Gesellschaft wie DDR, Kuba, Venezuela mit einer "idealistischen"
Regierung (das unterstelle ich) nun machen, wenn ihnen die
GPL-Gesellschaft plausibel erscheint?

Nochmal, um es fest zu halten: Hier handelt es sich um
Gesellschaftsformationen, die von der Produktivkraftentwicklung recht
weit hinter der Spitze zurück sind. Die Spirale, die in diesem Thread
schon zur DDR beschrieben wurde, gilt dort also grundsätzlich auch.

* Sie haben die Warenproduktion und die Einbindung im Weltmarkt am Hals,
die ihnen einerseits Mittel verschafft (Importe), andererseits sie tiefer
in die Todesspirale zieht (niemals werden sie so ökonomisch-effektiv wie
USA etc. produzieren - siehe oben).

Ja. Die Spirale ist zumindest auf der Ebene kapitalistischer
Produktion schlicht nicht hintergehbar. Bliebe die Ebene der
Produktion schon nach dem Modell der GPL-Gesellschaft / Freien
Software. Dazu später mehr.

* Sie haben den Staat am Hals, der das einzige Mittel ist, regulierend in
die sich selbstregulierende Warenproduktion einzugreifen, womit sie
gewungen sind, das zu verstärken, was eigentlich abgeschafft gehört.

Na, wenn unsere Phantasie für eine Regierung reicht, die zur
GPL-Gesellschaft will, dann können wir uns ja vielleicht auch noch
einen absterbenden Staat vorstellen ;-) .

Ohne Witz: Entscheidend wäre, dass der Staat sich an den Stellen
zurück zieht, wo GPL-gesellschaftliche Strukturen schon übernehmen
können. Also z.B. keine staatliche Software-Produktion - mal als
plattes Beispiel. Oder eben die Entkopplung vom umgebenden
Kapitalismus hinkriegen: D.h. staatliche Schutzräume, in denen Freie
Software entwickelt werden kann. D.h. Grundeinkommen für
Freie-Software-EntwicklerInnen. Hmmm...

Vielleicht sollten wir ein Beratungs-Team für Hugo Chavez und
Fidel Castro zusammenstellen?

Hierzu eine ganz pragmatische Antwort: Wenn diese Herrn und ihre Teams
sich für die GPL-Gesellschaft interessieren, dann *machen* wir hier
schon deren Beratungs-Team. Was sollte sie schließlich davon abhalten,
bei uns mit zu lesen...

Nur: was sollen wir raten?

...und sich die für sie interessanten Rosinen raus zu picken. Wäre mir
auch wesentlich sympathischer als irgendwelche Politikberatung :-) .

Last month (52 days ago) Graham Seaman wrote:
Cuba: http://lanic.utexas.edu/la/cb/cuba/castro/1966/19660227
(suche: 'intellectual property').
Absolut nicht aktuelle, aber relevant z.B: 'our revolutionary country is
prepared to give up its intellectual property to benefit the rest of the
world.' u.s.w...

Ja, die Solidarität Kubas mit Menschen anderswo hat mir auch schon
öfter das Herz gewärmt :-) .

Venezuela (mehr relevant, aber nur Spanisch):
http://conexionsocial.org.ve/
besonders:
tecnologie: http://www.consejolocal.org/foro-clpp/list.php?f=5
(freies linuxtraining usw) und:
economia social y cooperativas:
http://www.consejolocal.org/foro-clpp/list.php?f=22

hier sind vollig ausdrückliche Anschlüsse zwischen freies software und
die 'alte' politik.. :-)

Warum machen die staatlichen AkteurInnen das eigentlich genau?
Bestimmt nicht, weil sie scharf auf GPL-Gesellschaft sind - würde ich
jedenfalls vermuten. M.E. geschieht das dort, weil sie sich ganz
handfeste Vorteile versprechen:

* Freie Software ist in vielerlei Hinsicht kostengünstiger

* Freie Software steigert die Unabhängigkeit

* Freie Software kann die lokale Informatik-Service-Industrie
  beflügeln

* ...

Dies sind aber alles zunächst mal nur Gründe, die positiv auf die
bestehenden kapitalistischen Verhältnisse wirken sollen. Was ja auch
schon mal nett ist und sicher auch einen gewissen Erfolg verspricht.

Nicht falsch verstehen: Ich finde es großartig, was da in Südamerika
und anderswo geschieht. Ich finde es auch Klasse, dass sich klassische
PolitikerInnen darauf einlassen - zeugt zumindest von Modernität.
Meine Frage ist aber momentan, ob es die GPL-Gesellschaft schneller
vorwärts bringt, als es der Einsatz Freier Software und die
Verbreitung der mit ihr verbundenen Logik ("Gegen die Logik der
Knappheit!") ohnehin täte.

Oder anders formuliert: Was könnte denn staatliches Handeln sein, das
die GPL-Gesellschaft vorwärts bringt?

Last month (52 days ago) Franz Nahrada wrote:
Stefan Meretz writes:
Optimist. Vielleicht sollten wir ein Beratungs-Team für Hugo Chavez und
Fidel Castro zusammenstellen? Nur: was sollen wir raten?

Die Frage ist gut, vielleicht ist sie auch eine Neuauflage der Fragen, die
sich Menschen vor 1917 stellten. Damals war klar, die gesellschaftliche
Transformation kann nur in den entwickelten Zentren der Weltwirtschaft,
sprich Deutschland und England passieren...es ist aber alles ganz anders
gekommen. Ein rückständiges Agrarland hat sich zur zweitgrößten Weltmacht
entwickelt und sogar einen Krieg gegen das voll industrialisierte
Deutschland aushalten können.

Hat es? Ohne die massiven Lieferungen der USA ab 1943(?) wäre das wohl
nicht der Fall gewesen. Wenn ich mich recht erinnere, haben die USA
doch mindestens vor ihrem eigenen Kriegseintritt da massiv geholfen.
Wohl kaum, wenn die Sowjets das auch locker alleine geschafft hätten.

Ich glaube, daß wir mehr denn je in einem Weltsystem leben, und daß die
immer größer aufklaffenden Lücken, die die Wirtschaft läßt, vor allem an
den Peripherien entstehen. Es ist einfach eine totale Schizophrenie,
einerseits wie Robert Kurz in Antipolitik und Antiökonomie darauf
hinzuweisen, daß an diesen Lücken sich die Möglichkeit des Neuen
entscheidet

Die Schizophrenie steckt m.E. darin, zu glauben, dass da, wo das Elend
am größten ist, die Rettung her kommen kann. Die Lücken - um nicht zu
sagen: die gähnenden Abgründe - verschlingen viel mehr das bisschen
Zivilisation, das sich bisher schon gebildet hat. In den Nachrichten
wird das dann als Bürgerkrieg / Taliban-Regime / Anomie (Somalia)
gebracht. Gerade erst ist der Irak in diesen Abgrund gestoßen worden,
in der die sekundäre Barbarei tägliche Realität ist.

Ja, die Linke hat seit den 1960ern eine lange Tradition in der
Projektion der (Er)lösung auf die Peripherie. M.E. war das immer schon
Quatsch. Heute, nach Ende der besonderen Konstellation des Kalten
Kriegs wird das nur offenbar.

und dann doch wieder zu warten, bis der Fabber alle Probleme
löst.

Wer tut das deiner Meinung nach?

Nein, ich finde daß es sehr wohl die Mühe und den Aufwand lohnen würde,
sich zu dieser Frage mal den Kopf zu zerbrechen. Und ganz sicher ist das,
was bei einer solchen Anstrengung raus kommen würde sicher nicht die
Wiederholung des Disasters des großen Sprungs nach vorne im China der
fünfziger Jahre, mit Hochöfen in jeder Kleinstadt. Das war Voluntarismus,
der von der Struktur derr Produktion absah und aus der großen Industrioe
ihr Gegenteil verfertigen wollte.

Ganz ehrlich, Franz, das von dir zu hören freut mich ganz
außerordentlich :-) .

Jedenfalls können wir allen raten, eine technologische Basis der
Automation aufzubauen. Automation für Kleinserien ist eine weltweite
Lösung, sie ist nicht vom Standort abhängig.

Das stimmt. Aber ist sie für die weniger industrialisierten Staaten
wirklich sinnvoll? Da geht es doch in vielen Fällen erstmal darum, die
Massengüterproduktion gescheit ans Laufen zu bringen. Wer sich mal mit
Kuba-Solidarität befasst hat (z.B. Taller de Solidaridad) weiß, was
ich meine. Ok, Ersatzteile wären bei der Existenz Freier Baupläne
wahrscheinlich wirklich sinnvoll derart klein-aber-doch-industriell
herzustellen.

Und die stofflichen
Potentiale der Kreislaufwirtschaft, die wir auch erst in Ansätzen als
effiziente und ökonomisch starke Alternative entdecken. Wie gesagt, Freie
Software, nachwachsende Rohstoffe und Automation, das sind die Säulen
einer jeden Entwicklung, die im Weltsystem heute noch eine Chance haben
will. Aber das sind eben Hypothesen, die ein intensives Studium notwendig
machen, das über mehr als punktuelle Interventionen hinausgeht. Vielleicht
wäre das auch ein schönes Thema für einen Konferenz-Workshop.

Wäre sicher ein interessantes Thema für die Konferenz :-) .

Last month (52 days ago) Franz Nahrada wrote:
Immerhin: die Bedingungen zur Entstehung kooperativer globaler Projekte,
meinetwegen mit China und Cuba, sind gegeben.Das Internet transportiert
heute Ideen überallhin und die Zahl der Anschlüsse z.B. in China steigt
dramatisch.

Ja. Vielleicht ist das Internet einfach eine Basisinfrastruktur für
die GPL-Gesellschaft, wie es Straßen (ohne Zollschranken) für die
bürgerlichen Revolutionen war.

Weil es den Menschen im der DDR und CSSR relativ gut ging, konnten dort
Wurzel
einer GPL Gesellschaft kaum entstehen. Dafür war vermutlich erst die
Erfahrung mit
einer globalenAusbeutung wie es exemplarisch WINTEL praktizieren,
erforderlich.

Das ist ja wohl arger Zynismus. Es muß einem also so richtig schlecht
gehen, um etwas auf die Beine zu stellen?

Meine Meinung: Ganz im Gegenteil. S.o.

Sorry: Es brauchte geistige und zeitliche Ressourcen freie Zeit, um die
Tools zu schaffen die heute freie Software zur realistischen Option
machen.

Die braucht es auch, um überhaupt über den kapitalistischen Tellerrand
hinaus denken zu können.

Der DotCom Boom hat vielen Leuten diese Zeit gegeben

Das ist eine oft gehörte These, zu der ich neulich erst die Gegenthese
gelesen habe - oder habe ich sie sogar hierher gepostet? Wie, glaubst
du, hat der DotCom-Boom vielen Leuten diese Zeit gegeben? Woher nehmen
die Freie-Software-EntwicklerInnen diese Zeit dann heute?

Ich würde sogar - analog zu Bennis Bemerkung - eher das Gegenteil
behaupten: In den DotCom-Buden haben die Leute sich nicht selten
völlig aufgerieben - aber nicht in erster Linie um Freie Software zu
schreiben, sondern für recht proprietäre Zwecke. Ich meine also, dass
der DotCom-Boom *gerade nicht* vielen Leuten mehr Zeit gegeben hat...

und auch eine
gewisse Befreiung von alltäglichen materiellen Sorgen.

...weil sie die Kohle, die sie hatten, nämlich eben nicht für ein
entspanntes Leben und Freie Software genutzt haben, sondern für's
Schuften. Bestenfalls wird dann die Konkursmasse unter GPL gestellt.

Auch wenn ich
meine, daß natürlich von DIESER Bedingung nichts abhängig sein sollte, so
ist doch anzuerkennen daß es eben so war.

Um nochmal in diese Kerbe zu hauen: Das gesellschaftliche Mehrprodukt
muss in nennenswertem Umfang bei den potentiellen Agenten einer
(R)Evolution ankommen, damit sich was tut. Aus dem Elend entwickelt
sich nichts. Wäre das so, müssten wir jedes Erdbeben als revolutionäre
Situation bejubeln.

Und heute gibt es politische
Willensäußerungen aus China und Vietnam, die eigentlich sehr spannend
sind. Doch wer geht darauf ein?? Wäre interessant, die FSF zur OX3
einzuladen und mit ihnen über diese Fragen zu sprechen.

Noch spannender fände ich es, einen chinesischen Regierungsvertreter
einzuladen. Oder?


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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