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Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?



* Joost Klüßendorf <kluessej gmx.de> [2003-05-25 17:37]:
Eine Behauptung Kritischer Psychologie ist, dass dieses Modell von
Wissenschaft nicht auf menschliches Handeln angewendet werden kann. Der
Mensch ist aufgrund seines freien Willens in der Lage sich bewußt zu
seinen Bedingungen zu verhalten. Die Bedingungen determinieren ihn
nicht, daher sind können auch keine Aussagen gemacht werden im Stile:
Wenn (Bedingung) ==> Dann (Reaktion)

Genau, das Argument kann ich nachvollziehen. Die Annahme eines
prinzipiell freien Willens halte ich ebenfalls fuer sinnvoll[1], die
Folgerung, `Wenn=>Dann'-Aussagen sind fuer individuelles Handeln nicht
moeglich, ist logisch[2].

M.E. ist das aber _kein_ Gegensatz zum Konzept von objektiven Interessen
oder objektiven gesellschaftlichen Gesetzmaessigkeiten. Mit letzteren
sind gerade die gesellschaftlichen Bedingungen (Strukturen) benannt, auf
die der freie Wille stoesst. Diese Bedingungen koennen (und muessen,
will man sie aendern) eben auch zum Gegenstand von Sozialwissenschaften
gemacht werden.

Hier sage ich, dass sich aus den Bedingungen, die das konkrete
Individuum in dieser Gesellschaftsform vorgelatzt kriegt, Interessen
ableiten lassen, die von der Entscheidung des freien Willens vollkommen
unabhaengig sind. Der freie Wille ist durch diese Interessen ebensowenig
determiniert wie durch andere Bedingungen, ich kann keine Aussage
treffen `Wenn(Interesse)=>Dann(Interessenverfolgung)'. Das kann ich
nichtmal bei dem biologisch bestimmten Interesse an Nahrungsaufnahme.
Diese Abstraktion vom freien Willen mache ich deutlich, indem ich vom
Individuum rede, nur _insofern_ es in seiner bestimmten gesellschaftl.
Lage ist. Da es aber in seiner Lage _ist_ und diese Lage der
wissenschaftlichen Analyse zugaenglich ist, kann ich, _insofern_ es in
der Lage ist, seinen Standort einnehmen, ohne ihn zu befragen (und damit
Objektivitaet konstituieren). Ich kann nur nicht den Standort seines
freien Willens einnehmen, das ist seiner, und nicht mein Gegenstand.
Wenn ich allerdings die von mir analysierten oekonomische Formen (wie
StefanMZ angedeutet hat) nicht als von _konkreten_ Menschen _getragene_
(eben "personifizierte") verstehe, kann ich das nicht machen. Wenn der
Mensch aber nicht _auch_ Traeger von gesellschaftlichen Formen ist,
leuchtet mir nicht ein, inwiefern der Mensch ueberhaupt ein
"gesellschaftlicher Mensch" ist.

Holger [ein Freund von Fussnoten]

1) Eine Einschraenkung wuerde ich bezueglich des Gegenstands "freier
   Wille" machen: Trotz der _prinzipiellen_ Unbestimmtheit des freien
   Willens macht es Sinn, sich anzuschauen, welche Denkformen ihm durch
   die materiellen Verhaeltnisse, in denen er sich bewegt, _nahegelegt_
   werden. Wenn der freie Wille sich kritisch zu diesen ihm vorgesetzten
   Denkformen stellt, kostet das Anstrengung. Zugegeben ist es nicht
   moeglich, anzugeben, in welchem "Ausmass" das Sein das Bewusstsein in
   diesem Sinne konkret bestimmt, da nicht angebbar ist, unter welchen
   Bedingungen der freie Wille besagte Anstrengung auf sich nimmt (sonst
   waere er nicht "frei"). Es ist aber sehr wohl moeglich, das "Ausmass
   an notwendiger Anstrengung" zu bestimmen (wie Marx das tut, wenn er
   in den drei Baenden des Kapitals die verschiedenen Ebenen des
   "notwendig falschen Bewusstseins" mit Waren-, Geld-, Lohn-,
   Kapitalfetisch etc. benennt, oder wie man das konkreter z.B.
   bezueglich des Interessenbegriffs tun kann, wenn man sich das Ausmass
   an materieller Ausdifferenzierung anschaut).

2) Die Folgerung gilt aber nur fuer den Gegenstand `individuelles
   Handeln', weil er eben _auch_ dadurch bestimmt ist, wie der freien
   Wille sich zu den Bedingungen des Handelns stellt. Sie
   gilt _nicht_ fuer gesellschaftliche Strukturen. Die Aussage
   `Wenn(Reallohnsteigerung)=>Dann(Entlassungen)' kann ich (ceteris
   paribus und unter durchschnittl. Bedingungen) fuer den Gegenstand
   `Kapitalismus' sehr wohl machen, weil dies ein struktureller Vorgang
   ist. Hier handeln zwar tatsaechlich Individuen (konkrete Kapitalisten
   entlassen Leute), und bei keinem einzelnen Kapitalisten kann ich die
   Handlung vorhersagen. _Aber_: Die Struktur _determiniert_ hier die
   Handlung, _solange_ sich der Wille nicht der _Struktur_ widersetzt
   (aus ihr "aussteigt", sie zerstoert, whatever). Zerstoert der Wille
   die gesellschaftliche Struktur, ist der Gegenstand meiner Aussage
   futsch, trotzdem war die Aussage richtig (und im Uebrigen auch
   unverzichtbar zum Verstaendnis der individuellen Handlung).

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"After turning off the power to replace a part, turning the power on again
is relatively simple."  -- SPARCstation 10 Service Manual
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