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Re: [ox] Re: Sinnvolles Handeln und Keimformen



Hallo Stefans und so,

On Mon, Dec 23, 2002 at 10:10:31PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
"Revolutionär" bzgl. dem Kapitalismus sind Phänomene m.E. dann, wenn
sie, wenn sie den Kernbereich des kapitalistischen Prinzips
betreffen. Und dieser liegt nun mal in der Produktion *für* den
Tausch. Nicht in der Kindererziehung, nicht in der Distribution von
Gütern und vielleicht nicht mal im Staat an sich - obwohl diese Dinge
natürlich alle mehr oder weniger massiv durch das kapitalistische
Prinzip überformt werden.

"liegt nun mal" ist kein Argument.

Doch ist ein Argument, da das "nun mal" das Vergesellschaftungsprinzip 
über den Wert konstituiert: unabhängige Privatproduzenten produzieren für 
den Markt, wodurch die Produkte Waren-/Wertform bekommen.

Die "Privatproduzenten" sind aber heute eben nicht mehr unabhängig,
sondern von Distributiosns- und Marketingnetzwerken abhängig. Das war
zwar schon immer so, ist aber heute noch viel krasser. Z.B. haben die
Supermarktketten eine gewaltige Macht und die machen nix als
Distribution. Oder Microsoft - auch im wesentlichen ein
Distributionsbetrieb. Die Produktion ist vielfach im Zuge ihrer
Immaterialisierung zum Anhängsel der Distribution geworden. Sprich:
Die Warenform stellt sich _auch_ über Distributionsnetzwerke her.
Nichts anderes heisst doch auch das Wort vom "Prosumenten".

In diesem Sinne haben übrigens Graham und Lohof IMHO Recht: Da wird
tatsächlich kein Wert (im wertkritischen Sinne) produziert. Im
postoperaistischen Sinne aber sehr wohl.

Ohne Kinderaufzucht gibt es
genausowenig eine Gesellschaft, wie ohne Produktion und Distribution.

Na ja, ohne Luft gäbe es auch keine Gesellschaft. Das stimmt, ist aber 
alles bezüglich der Vergesellschaftungsform unspezifisch.

Ich kann mit "bezüglich der Vergesellschaftungsform unspezifisch" nix
anfangen. Das gilt doch auch für die Produktion. In jeder -
unspezifischen - Gesellschaft gibt es Produktion. In der Warenförmigen
Gesellschaft gibt es dann ebenso warenförmige Produktion wie
warenförmige Distribution. 

Und auch für die Annahme, dass die Produktion der "Kernbereich des
kapitalistischen Prinzips" sei, spricht vielleicht einiges. Aber:

Wir sind uns ja wohl einig, dass eine der Grundvorraussetzungen einer
Wertgesellschaft die Knappheit ist. Wie wird nun aber Knappheit
hergestellt? Wie wir in der Unterscheidung zwischen Knappheit und
Begrenztheit gelernt haben auf sehr vielfältigen Wegen. Da ist zum
einen die Produktion aber eben auch die Distribution (Die Knappheit
von Nahrungsmitteln in Afrika z.B. ist ein Distributionsproblem) und
Dinge wie Marketing u.ä.. ja im Informationszeitalter ist es sogar so,
dass Konsumption Knappheit verringern kann! Auch ist es ja wohl eine
Binsenweisheit, dass in einer globalisierten Welt, Distribution immer
wichtiger wird.

Du reisst was auf der Erscheinungsebene auseinander, was konstitutiv aber 
zusammengehört: Warenproduktion stellt Knappheit her. Afrika hat kein 
Distributionsproblem, sondern das Problem, dass es von der Wertverwertung 
abgekoppelt ist. Das zeigt sich dann darin, das hier Nahrungsmittel 
vergammeln, während sie dort fehlen: Distribution in Warenform 
funktioniert nicht.

Afrika ist nicht von der Wertverwertung abgekoppelt - wären sie es,
würde es ihnen ja gut gehen. Das ist IMHO auch so ein krisianischer
Unsinn. Selbst in den heftigsten Regionen ist gerade das Problem, dass
die Leute für den Weltmarkt (Diamanten, Öl, Rauschgift, ...) bluten
müssen. Nur geschieht das heute eben nicht mehr in imperialistischer
sondern in imperialer Weise, sprich die Kontrolle wird über ein
Netzwerk von Warlords, Schwarzmärkten, Konzernen etc. am Laufen
gehalten und nicht mehr direkt über die Kolonialmächte und ihre
lokalen Stadthalter.

Das besondere an FS ist nun eben gerade _nicht_ dass sie ein Phänomen
der Produktionssphäre ist und deshalb besser in klassische
marxistische Theorien passt, als andere Sachen (z.B. Umsonstläden),
sondern das besondere an FS ist, dass sie diese Grenzen eben gerade
aufhebt. Produktion, Distribution, Konsum, Marketing, fallen
tendenziell alle in eins.

IMHO kann man das nicht sagen. Man kann sagen, dass reproduktive 
Tätigkeiten auch produktiv werden usw. - wie das Hardt/Negri z.B. mit 
ihrem Begriff der immateriellen Arbeit machen. Sie sagen aber nicht: 
alles ist (tendenziell) nur noch eins.

Doch, sagen sie. z.B.:

"Das neue an der neuen Informationsinfrastruktur ist die Tatsache,
dass sie in die neuen Produktionsprozesse eingelassen und ihnen
vollständig immanent ist. Information und Kommunikation führen die
heutige Produktion an und sie sind die eigentlich produzierten Waren;
das Netzwerk selbst ist Ort der Produktion wie der Zirkulation." (S.310)

Das ist im übrigen auch ein Grund, weswegen ich denke, dass
postoperaistische Theorien, die einen viel weiter gefassten
Produktionsbegriff haben, besser für FS passen als Krisis u.a.
Wertkritiker (siehe meinen Empiretext).

Da sieht so aus - Erscheinung eben. Das Hardt/Negri nicht kapieren, was 
ökonomisch da abgeht, zeigt das Empire durch fast völlige Abwesenheit 
einer Kritik der politischen Ökonomie. Kapieren kann man FS eher mit 
Wertkritik.

Ich finde darin sehr wohl eine Kritik der politischen Ökonomie, nur
eben eine andere, nicht-(so-sehr)-marxistische. Sie sehen den
Kapitalismus mit Deleuze/Guattari als "Immanenzmilieu". Das das nicht
so doll ausformuliert ist, wie die uralte marxistische Kritik die
schon ganze Generationen in der Mangel hatten, mag ja sein, aber
deswegen einfach nur zu sagen, sie hätten gar keine Vorstellung davon,
stimmt nicht.

Der ganze alte Marxkram funktioniert nicht mehr, weil sein Begriff von
Arbeit und von Produktivität heute nicht mehr passt. In den
Grundrissen hat er das ja selbst schon skiziert ("generel intellect")
soweit meine rudimentären Marx-Kenntnisse tragen - nur halt später
wieder "vergessen", weil es aus der damaligen Perspektive halt nicht
so wichtig war. 

Und in diesem Sinne kann man Umsonstläden dann durchaus als Stätten
der Produktion verstehen. Produktion von ko-kurrenter (siehe
http://www.opentheory.org/ko-kurrenz/text.phtml) Nachbarschaft z.B.

Das kommt mir sehr überspannt vor. Faktisch ist es Weitergabe von nicht 
mehr Gebrauchtem, und das ist doch auch ok. Da kommen Leute ins 
Nachdenken, vielleicht sogar über den (Schwach)Sinn von Warenproduktion. 
Auch schön. Da wird aber nichts produziert - auch nicht in einem weiten 
Sinne von produzieren, denn es fehlt der re-produktive Bezug. Die ganzen 
Aspekte der immateriellen Arbeit die Hardt/Negri herausheben haben einen 
eindeutigen Bezug: die ReProduktion der Gesellschaft. Da können sich 
Umsonstläden bestenfalls "dranhängen", sie können aber selbst - im 
Empire-Sinne - nichts konstituieren, schon gar nichts Neues. Das ist der 
wesentliche Unterschied zur FS.

Sehe ich anders. Wieso soll das nix neues sein, wenn man in der
Nachbarschaft nicht-wertförmige Brennpunkte etablieren kann? Und was
ist das sonst, wenn nicht re-produktion. Schliesslich ist es ja nicht
mehr so, dass die Sachen nicht mehr gebraucht werden. Sie werden eben
nur von den Gebern nicht mehr gebraucht, von den Nehmern aber schon.

Gleichzeitig müssen solche Phänomene um "revolutionäres" Potenzial zu
haben, für viele Menschen besser sein als das, was der Kapitalismus
zu liefern im Stande ist. Damit fällt jede Nischenproduktion für
einen kleinen Kreis schon mal raus.

FS hat als genau solch eine Nischenproduktion angefangen.

Das stimmt, aber sie hat sich gesellschaftlich verallgemeinert (im Bereich 
der Software). Und sie hat IMHO eben Keimformcharakter, weil das Prinzip 
auch ReProduktionsprinzip einer Freien Gesellschaft werden kann. Das 
können Umsonstläden nicht werden.

Auch für FS gibt es ganz harte Grenzen, das man sie nicht mal eben so
locker-flockig verallgemeinern kann. Sonst wären wir hier ja weiter
(Siehe Franzens nette Kafkamail). Sicher ist FS in einem ganz anderen
Stadium als Umsonstläden, das bestreite ich ja nicht. Aber die
Potentiale würde ich in beiden Fällen als ungefähr gleich gross
einschätzen. Umsonstläden haben ja nun viele Schwächen von FS nicht,
z.B. dass sie nicht rein immateriell, digital und high-tech sind.
Nicht das ich was gegen High-Tech habe, aber das Leben von vielen
Leuten dreht sich halt nicht nur darum woher sie die neueste Software
kriegen, sondern auch um andere interessante Dinge, z.B. woher sie
Babyklamotten oder Teetassen kriegen. Oekonux krankt ganz massiv
daran, dass hier nie Konsequenzen daraus gezogen wurden, dass
Nicht-Techies oft nur sehr wenig mit unserem Geschwätz anfangen
können.

Zudem fallen m.E. auch die Bereiche raus, die der Kapitalismus in
seiner Kontraktionsbewegung schon wieder verlassen oder gar nicht
erst vollständig durchdrungen hat. Tauschringe, die im wesentlichen
dort gedeihen, wo die Geldwirtschaft schon wieder auf dem Rückzug
ist, gehören dazu, aber auch die Zusammenbruchsregionen dieses
Planeten von Jugoslawien über Somalia und Afghanistan bis nach
Indonesien und Argentinien.

Argentinien ist zur Zeit das Land, das weltweit am effektivsten
Selbstorganisation produziert. Und Selbstorganisationsfähigkeit ist
absolut entscheidend für jede Keimform.

Ja, auch richtig. Aber "Selbstorganisation an sich" bringt noch überhaupt 
gar nichts. 

Sehe ich anders. Man merkt es alleine schon daran, wenn man mal mit
Leuten redet, die irgendwann mal mitgekriegt haben, dass
Selbstorganisation funktionieren kann. Selbst wenn die sonst die
härtesten Aliens sind, haben die da was fürs Leben kapiert und werden
immer ein offenes Ohr haben. Umgekehrt können die straightesten
Linken, die solche Erfahrungen nicht haben, totale Tupfnasen sein,
wenn man ihnen mit sowas wie Oekonux kommt - weil sie eben keine
praktischen Erfahrungen haben. 

_Das_ ist für mich _auch_ Keimform. Nicht nur eine abstrakte
polit-ökonomische Kategorie, sondern konkrete Erfahrungen von
konkreten Leuten, an denen man anknüpfen kann. Immanenz eben.

Das genau braucht auch das Kapital, an dieser Stelle haben 
die Keimform-KritikerInnen absolut recht. 

Das Kapital braucht eh alles. Das ist doch der Witz dran. Das ist ja
sowieso völlig absurd, das ausgerechnet die Leute die sonst immer am
allermeisten von "Totalität" reden und das es nix Wahres im Falschen
gibt, diejenigen sind, die einem dann vorhalten, wenn man das Wahre im
Falschen nicht findet. So nimmt man sich wirklich systematisch jede
Handlungsfähigkeit.

Und: Die KeimformkritkerInnen _haben_recht_! Sag ich ja immer. Nur ist
"Recht haben" halt auch eine völlig uninteressante Kategorie.
Interessant ist nicht wer Recht hat, sondern wer am Ende den längeren
Atem hat. Keimformen wird es dann geben, wenn es genügend Leute (an
strategisch wichtigen Stellen) gibt, die das wollen. Alles, was eine
Keimform-Theorie leisten kann, ist die strategisch wichtigen Stellen
auszumachen. Und dazu gibt es eben verschiedene Ansätze. Der
Wertkritische Ansatz hat halt einfach das Problem, dass er nicht
weiterführt. Er ist nur-negativ.

Selbstorganisation - wofür? Im 
Moment ist Selbstorganisation in Argentinien ein Moment es unmittelbaren 
Überlebens, dies aber notwendig in der alten Form - das ist doch das 
Drama.

Ja, traurig. Aber nicht zu ändern.

Damit es keine/r falsch versteht: Das spricht kein bischen gegen 
Umsonstläden, Verteidigung von Lebensansprüchen, Widerstand oder sonst 
was. Nur das hat nicht die Potenz, etwas Neues zu konstituieren. Und 
darum geht es aber bei der Keimform-Diskussion, IMHO.

Beides hängt zusammen. Und zwar nicht in dem Sinne, wie Stefan Mn. das
immer sieht: Du machst das, ich mach das. Man muss beides immer
gleichzeitig machen und aufeinander beziehen, sonst endet es im
Besitzstandswahren und im Utopismus (und Stefan Mn. ist schon mehr als
die Hälfte zu letzterem gegangen). Nenn das meinetwegen dialektisch.
FS ist entstanden aus einer Verteidigungshaltung gegen die
Kommerzialisierung der Softwarewelt und sie wird heute wieder in eine
Verteidigungshaltung gedrängt - siehe Patente, TCPA, ...

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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