Message 06102 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT05338 Message: 111/159 L19 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Re: Sinnvolles Handeln und Keimformen



Hi Benni et al,

On Tuesday 24 December 2002 02:17, Benni Baermann wrote:
Doch ist ein Argument, da das "nun mal" das
Vergesellschaftungsprinzip über den Wert konstituiert: unabhängige
Privatproduzenten produzieren für den Markt, wodurch die Produkte
Waren-/Wertform bekommen.

Die "Privatproduzenten" sind aber heute eben nicht mehr unabhängig,
sondern von Distributiosns- und Marketingnetzwerken abhängig. Das war
zwar schon immer so, ist aber heute noch viel krasser.

Das meint das "unabhängig" nicht, natürlich sind sie nicht unabhängig von 
der Distribution, ganz im Gegenteil. "Unabhängig" meint "voneinander 
getrennt". Die getrennten Privatproduzenten werden miteinander und mit 
den Individual-Konsumenten über den Tausch verbunden. Und dieser Tausch 
zwingt den Produkten die Waren- bzw. Wertform auf. Das ist "nun mal" so.

Z.B. haben die
Supermarktketten eine gewaltige Macht und die machen nix als
Distribution. Oder Microsoft - auch im wesentlichen ein
Distributionsbetrieb. Die Produktion ist vielfach im Zuge ihrer
Immaterialisierung zum Anhängsel der Distribution geworden. Sprich:
Die Warenform stellt sich _auch_ über Distributionsnetzwerke her.

Dort vollzieht sie sich, sie stellt sich dort nicht her. Da die Güter als 
Waren für den Tausch hergestellt werden, ist es sinnlos, das zu trennen. 
Das legt nämlich leicht die Fehleinschätzung nahe, die Warenform und der 
Wert würde _in_ der Distributionssphäre entstehen.

Nichts anderes heisst doch auch das Wort vom "Prosumenten".

Das heisst IMHO die Verknüpfung von Konsument und Produzent, dass also der 
Konsument durch sein artikuliertes Bedürfnis die Produktion "auslöst" (im 
Idealfall). Die "Verbindung im Tausch" wird dadurch nicht aufgelöst, 
sondern nur vorverlagert.

In diesem Sinne haben übrigens Graham und Lohof IMHO Recht: Da wird
tatsächlich kein Wert (im wertkritischen Sinne) produziert. Im
postoperaistischen Sinne aber sehr wohl.

Das sind zwei völlig verschiedene Wertbegriffe: Ersteres ist ein 
ökonomischer Begriff, zweites ein moralischer. Äpfel und Birnen IMHO.

Ohne Kinderaufzucht gibt es
genausowenig eine Gesellschaft, wie ohne Produktion und
Distribution.

Na ja, ohne Luft gäbe es auch keine Gesellschaft. Das stimmt, ist
aber alles bezüglich der Vergesellschaftungsform unspezifisch.

Ich kann mit "bezüglich der Vergesellschaftungsform unspezifisch" nix
anfangen. Das gilt doch auch für die Produktion. In jeder -
unspezifischen - Gesellschaft gibt es Produktion. In der Warenförmigen
Gesellschaft gibt es dann ebenso warenförmige Produktion wie
warenförmige Distribution.

Mit "spezifisch" meine ich nicht, "Produktion" als solche sei spezifisch. 
Spezifisch ist, wie sich das bestimmende Prinzip der Vergesellschaftung 
herstellt: über den Tausch und die Wertform, weil Produktion zwar 
gesellschaftlich, aber getrennt privat vollzogen wird: sozusagen 
ungesellschaftlich gesellschaftlich. Dass man das nicht so einfach 
wegbekommen kann (etwa durch Kooperation von Produzenten oder so), hat 
der Realsoz gezeigt: Da wollte man die "Ungesellschaftlichkeit" teilweise 
durch Zentral-Planung überwinden.

Afrika ist nicht von der Wertverwertung abgekoppelt - wären sie es,
würde es ihnen ja gut gehen. Das ist IMHO auch so ein krisianischer
Unsinn. Selbst in den heftigsten Regionen ist gerade das Problem, dass
die Leute für den Weltmarkt (Diamanten, Öl, Rauschgift, ...) bluten
müssen. Nur geschieht das heute eben nicht mehr in imperialistischer
sondern in imperialer Weise, sprich die Kontrolle wird über ein
Netzwerk von Warlords, Schwarzmärkten, Konzernen etc. am Laufen
gehalten und nicht mehr direkt über die Kolonialmächte und ihre
lokalen Stadthalter.

Abgekoppelt von der Wertverwertung heisst (leider) nicht, das die Wertform 
weg wäre. Wenn unter den Bedingungen der Wertform Verwertung nicht mehr 
stattfindet, dann kommt es genau zu den von dir (und Krisis, da seid ihr 
ganz einig) beschriebenen Zerfallsformen.

Produktion, Distribution, Konsum, Marketing, fallen
tendenziell alle in eins.

IMHO kann man das nicht sagen. Man kann sagen, dass reproduktive
Tätigkeiten auch produktiv werden usw. - wie das Hardt/Negri z.B. mit
ihrem Begriff der immateriellen Arbeit machen. Sie sagen aber nicht:
alles ist (tendenziell) nur noch eins.

Doch, sagen sie. z.B.:

"Das neue an der neuen Informationsinfrastruktur ist die Tatsache,
dass sie in die neuen Produktionsprozesse eingelassen und ihnen
vollständig immanent ist. Information und Kommunikation führen die
heutige Produktion an und sie sind die eigentlich produzierten Waren;
das Netzwerk selbst ist Ort der Produktion wie der Zirkulation."
(S.310)

Da steht, alles wird mit IT gemacht. Information und Kommunikation werden 
als Waren produziert. Das alles passiert netzwerkartig. Kein bisschen: 
alles ist eins. H/N sprechen vom wechselseitigen Gegenwärtigsein von 
Produktion und Konsumtion (S. 308), aber noch nicht mal vom Prosumenten.

Da sieht so aus - Erscheinung eben. Das Hardt/Negri nicht kapieren,
was ökonomisch da abgeht, zeigt das Empire durch fast völlige
Abwesenheit einer Kritik der politischen Ökonomie. Kapieren kann man
FS eher mit Wertkritik.

Ich finde darin sehr wohl eine Kritik der politischen Ökonomie, nur
eben eine andere, nicht-(so-sehr)-marxistische. Sie sehen den
Kapitalismus mit Deleuze/Guattari als "Immanenzmilieu". Das das nicht
so doll ausformuliert ist, wie die uralte marxistische Kritik die
schon ganze Generationen in der Mangel hatten, mag ja sein, aber
deswegen einfach nur zu sagen, sie hätten gar keine Vorstellung davon,
stimmt nicht.

Es ist Kritik, aber keine Kritik der politischen Ökonomie. Das ist ja kein 
Problem, ich finde da ja auch viele gute Ansätze und beziehe mich 
durchaus positiv auf das Empire (z.B. der Begriff Immanenz-Transzendenz) 
- nur eben zur Ökonomie haben sie nicht mehr als oberflächliche 
Beschreibung zu bieten. Es ist schon richtig, wenn sie selbst von der 
"Soziologie der immateriellen Arbeit" sprechen.

Der ganze alte Marxkram funktioniert nicht mehr, weil sein Begriff von
Arbeit und von Produktivität heute nicht mehr passt.

Ja, deswegen ist ja die Kritik von Krisis an diesem Marx und vor allem den 
dann sich darauf beziehenden Arbeitsmarxismus so wichtig. Es gibt nicht 
"den" alten Marxkram.

In den
Grundrissen hat er das ja selbst schon skiziert ("generel intellect")
soweit meine rudimentären Marx-Kenntnisse tragen - nur halt später
wieder "vergessen", weil es aus der damaligen Perspektive halt nicht
so wichtig war.

Es war damals IMHO so weit der Zeit voraus, dass es zu wenig Ansatzpunkte 
gab, um das weiterzudenken. Es gab noch keine algorithmische 
Universalmaschine, noch keine digitale Form der Information, damit noch 
keine globale Netzwerkproduktion von Wissen usw. Der Postoperaismus hat 
versucht da anzuknüpfen, nur leider nicht analytisch, sondern 
soziologistisch und metaphorisch. Dass er es versucht hat, ist 
verdienstvoll. Aber im Sinne einer Kritik der politische Ökonomie des 
Informationskapitalismus ist es ein unerledigtes Projekt geblieben.

Das kommt mir sehr überspannt vor. Faktisch ist es Weitergabe von
nicht mehr Gebrauchtem, und das ist doch auch ok. Da kommen Leute ins
Nachdenken, vielleicht sogar über den (Schwach)Sinn von
Warenproduktion. Auch schön. Da wird aber nichts produziert - auch
nicht in einem weiten Sinne von produzieren, denn es fehlt der
re-produktive Bezug. Die ganzen Aspekte der immateriellen Arbeit die
Hardt/Negri herausheben haben einen eindeutigen Bezug: die
ReProduktion der Gesellschaft. Da können sich Umsonstläden
bestenfalls "dranhängen", sie können aber selbst - im Empire-Sinne -
nichts konstituieren, schon gar nichts Neues. Das ist der wesentliche
Unterschied zur FS.

Sehe ich anders. Wieso soll das nix neues sein, wenn man in der
Nachbarschaft nicht-wertförmige Brennpunkte etablieren kann?

Weil es keine andere Form der gesellschaftlichen ReProduktion 
konstituieren kann. Du kannst zwar nicht-wertförmige Nachbarschaften 
etablieren, vielleicht. Das bleibt aber immer nur die abgespaltene Seite 
der Verwertungslogik, der Ort, wo Verwertung nicht oder nicht mehr 
möglich ist. Es kann aber nichts Gesellschaftskonstitutives, eine Art und 
Weise, wie sich eine ganze Gesellschaft re/produzieren kann, 
hervorbringen. Es bleibt als Nichtwertförmiges negativ bezogen auf das 
Wertförmige (Weiternutzung der Gebrauchswerte).

Und was ist das sonst, wenn nicht re-produktion.

Es ist Weitergabe und Verbrauch, nicht Herstellung.

Da wird es doch super platt, etwa zu argumentieren, das da aber z.B. 
Kommunikation "produziert" würde. Wenn H/N das nennen, dann ist es immer 
auf industrielle Produktion bezogen: Die Produktion kann ohne die ganzen 
affektiven Netzwerke usw. nicht mehr funktionieren. Aber nur mit 
affektiven Netzwerken kannst du keine Gesellschaft versorgen.

FS hingegen verkörpert genau das: Es sind affektive Netzwerke und die sind 
praktisch oder potenziell auf industrielle Produktion bezogen - und das 
jenseits der Wertform. Industrie verschwindet doch nicht so wie die 
Landwirtschaft nicht mit der Durchsetzung des Kapitalismus verschwand. Du 
musst sie mitdenken, baue sie gedanklich in den Umsonstladen ein: der 
hängt am Ende der Kette. Insofern entspricht der Umsonstladen eher den 
Vorstellungen von Robert Kurz aus "Antiökonomie und Antipolitik", der den 
ganzen Scheiss von "den Enden", der Konsumtion, her aufrollen wollte - 
das nur btw., aber vielleicht findest du dort noch Argumente?

Schliesslich ist es ja nicht
mehr so, dass die Sachen nicht mehr gebraucht werden. Sie werden eben
nur von den Gebern nicht mehr gebraucht, von den Nehmern aber schon.

Ja, richtig. Ist ja auch gut so.

Das stimmt, aber sie hat sich gesellschaftlich verallgemeinert (im
Bereich der Software). Und sie hat IMHO eben Keimformcharakter, weil
das Prinzip auch ReProduktionsprinzip einer Freien Gesellschaft
werden kann. Das können Umsonstläden nicht werden.

Auch für FS gibt es ganz harte Grenzen, das man sie nicht mal eben so
locker-flockig verallgemeinern kann. Sonst wären wir hier ja weiter
(Siehe Franzens nette Kafkamail).

Ja richtig, das ist ja das ganze Diskutieren hier.

Sicher ist FS in einem ganz anderen
Stadium als Umsonstläden, das bestreite ich ja nicht.

Gut, du nennst es "anderes Stadium". Ich sage: Es ist das Endstadium 
dessen, was möglich ist. Das Umsonstladenprinzip ist genuin nicht 
verallgemeinerbar - im Unterschied zur FS. Ob es bei der FS gelingt, ist 
allerdings komplett unsicher (das haben alle Ansätze gemein).

Aber tröstlich ist doch auch, das wir das hier gar nicht entscheiden 
müssen, oder?

Aber die
Potentiale würde ich in beiden Fällen als ungefähr gleich gross
einschätzen. Umsonstläden haben ja nun viele Schwächen von FS nicht,
z.B. dass sie nicht rein immateriell, digital und high-tech sind.
Nicht das ich was gegen High-Tech habe, aber das Leben von vielen
Leuten dreht sich halt nicht nur darum woher sie die neueste Software
kriegen, sondern auch um andere interessante Dinge, z.B. woher sie
Babyklamotten oder Teetassen kriegen.

Sie kriegen sie aus der noch funktionierendeb Wertverwertung über den Weg 
des Umsonstladens. Das ist gut so. Aber eben nicht mehr.

Oekonux krankt ganz massiv
daran, dass hier nie Konsequenzen daraus gezogen wurden, dass
Nicht-Techies oft nur sehr wenig mit unserem Geschwätz anfangen
können.

Das stimmt, ist aber eine andere Frage.

Ja, auch richtig. Aber "Selbstorganisation an sich" bringt noch
überhaupt gar nichts.

Sehe ich anders. Man merkt es alleine schon daran, wenn man mal mit
Leuten redet, die irgendwann mal mitgekriegt haben, dass
Selbstorganisation funktionieren kann. Selbst wenn die sonst die
härtesten Aliens sind, haben die da was fürs Leben kapiert und werden
immer ein offenes Ohr haben. Umgekehrt können die straightesten
Linken, die solche Erfahrungen nicht haben, totale Tupfnasen sein,
wenn man ihnen mit sowas wie Oekonux kommt - weil sie eben keine
praktischen Erfahrungen haben.

_Das_ ist für mich _auch_ Keimform. Nicht nur eine abstrakte
polit-ökonomische Kategorie, sondern konkrete Erfahrungen von
konkreten Leuten, an denen man anknüpfen kann. Immanenz eben.

Ja, diese konkrete Erfahrung ist zentral, die hat nur eben ganz konkret 
sehr unterschiedliche Reichweiten und Gedankenformen. Und da ist es ein 
ganz praktischer Unterschied, ob du Tausch denken _musst_ (wie in 
Argentinien), ob es einfach nicht mehr brauchst.

Interessant ist nicht wer Recht hat, sondern wer am Ende den längeren
Atem hat. Keimformen wird es dann geben, wenn es genügend Leute (an
strategisch wichtigen Stellen) gibt, die das wollen. Alles, was eine
Keimform-Theorie leisten kann, ist die strategisch wichtigen Stellen
auszumachen.

Ja, genau! Und der Umsonstladen ist's halt nicht;-)
Aber lassen wir die Praxis entscheiden;-)

Und dazu gibt es eben verschiedene Ansätze. Der
Wertkritische Ansatz hat halt einfach das Problem, dass er nicht
weiterführt. Er ist nur-negativ.

Es gibt nicht "den" wertkritischen Ansatz (tm). Wenn du aber die 
Krisis-Kernthesen meinst, dann stimme ich dir zu. Das muss aber nicht so 
sein, es ist wertkritischen Ansätzen nicht immanent. Siehe mein Zeug.

Ciao,
Stefan

--
    Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
    Internetredaktion
    Potsdamer Platz 10, 10785 Berlin
-- 
    stefan.meretz verdi.de
    maintaining: http://www.verdi.de
    private stuff: http://www.meretz.de
-- 

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT05338 Message: 111/159 L19 [In index]
Message 06102 [Homepage] [Navigation]