Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft
- From: Thomas Uwe Gruettmueller <sloyment gmx.net>
- Date: Fri, 4 Oct 2002 00:10:07 +0200
Hi, Stefan!
Ich habe deinen Diskussionsbeitrag nun zweimal gelesen und komme
damit nicht klar. Irgendwie scheint ihm eine seltsame, nicht dem
alltäglichen Gebrauch entsprechende Definition des Begriffs
"Herrschaft" zu Grunde zu liegen.
Unter "Herrschaft" verstehe ich eine Teilung der Gesellschaft in
"Herrscher" und "Beherrschte", wobei erstere die Möglichkeit
haben und auch davon Gebrauch machen, letztere zu irgendetwas zu
zwingen, indem irgendwelche Greueltaten angedroht werden (z.B.
beim Militär: Hinrichtung bei Befehlsverweigerung). Diese nennst
du "Machtmittel" und schreibst selbst, daß es sie in
FS-Projekten, sowie im Oekonux-Forum (nahezu) nicht gibt.
On Tuesday 03 September 2002 22:02, Stefan Merten wrote:
Wichtig hier auch: Soll Machtgebrauch möglich sein, so muss es
Macht überhaupt erstmal geben. Wenn es wenig oder keine
Machtmittel gibt, dann kann es auch keinen Machtgebrauch
geben. Dann ist dieser Teil von Herrschaft nur schwach bzw.
gar nicht ausgeprägt.
Da ich immer noch der Meinung bin, dass es bei Freier Software
einerseits nahezu keine Machtmittel gibt (Freiwilligkeit der
Teilnahme, allgemeine Verfügbarkeit der Produktionsmittel),
ist die Frage des Machtgebrauchs hier schon eingeschränkt. Das
war mein wesentlicher Punkt in dem alten Thread zur Frage
"Freie Software und Herrschaft".
Ähnlich sehe ich es für Oekonux. Die Machtmittel vor allem
aber nicht nur von mir, beschränken sich darauf, dass ich
verhindern könnte, dass Leute auf die Listen posten - das
war's dann aber auch schon.
(Dies wage ich BTW zu bezweifeln. Du kannst nicht verhindern,
daß ein Ausgeschlossener mit neuer Identität wiederkommt. Dazu
müßtest du nämlich das Forum komplett abriegeln und eine
Aufnahme nur noch nach Ausweiskontrolle zulassen.)
Die Frage ist nun, wenn es keinen Machtgebrauch gibt, was bleibt
dann noch von der Herrschaft übrig? Nur der Herrschertitel, so
wie heutzutage der Adelstitel bei Adligen als Namensbestandteil?
Was ist deiner Definition von "Herrschaft" noch zusätzlich
enthalten???
- - - - -
Und nun noch ein paar Anmerkungen, die leicht Off-Topic, jedoch
zu Punkten sind, die in deiner Mail auftauchen:
1. Was ist das Oekonux-Projekt?
Bei deinen Beispielen hast du FS-Projekte und Oekonux getrennt
aufgelistet. Damit hast du eine interessante Frage aufgeworfen:
Was ist Oekonux für ein Projekttyp? Womit ist das vergleichbar?
Ein Unterschied zu FS-Projekten fällt stark ins Auge: Es fehlt
das Stück Code, an dem gemeinsam gewerkelt wird. Oberflächlich
könnte man zwar sagen, daß hier eine Theorie gemeinsam
erarbeitet wird, allerdings scheinen mir hier eher
Versatzstücke, d.h. Ideen und Meinungen, für viele individuelle
Theorien zu entstehen.
Am ehsten scheint mir der Vergleich mit LUGs zu passen, in
welchen es ebenfalls keinen Code zu bearbeiten gibt, jedoch eine
gewisse Infrastruktur (Website, Listen...) aufrecht erhalten
werden muß und gelegentlich Veranstaltungen organisiert werden.
2. Konsens
Zur Erinnerung: Konsens ist dann
erreicht, wenn niemensch mehr widersprechen muss.
Diese Definition stimmt nicht mit der überein, die ich aus dem
Schülerrat und aus der Fachgruppe Informatik her kenne. Nach der
ist Konsens nämlich dann erreicht, wenn in einem Punkt alle
einer Meinung sind, d.h. wenn eine Abstimmung 100% Ja- oder 100%
Neinstimmen und keine Enthaltungen ergäbe.
Nach deiner Definition wäre hingegen Konsens auch bei 100%
Enthaltung erreicht. Dies finde ich sehr lasch und nicht sehr
befriedigend.
3. Das "Wir"-Problem
Na, ich versuche ja schon immer brav Anführungszeichen zu
verwenden, wenn (mir) die Bezeichneten nicht ganz klar sind
;-( ...
Durch das "Wir" bezeichnest du alle 300 Leute, die an dem
Projekt teilnehmen; da helfen auch die Anführungszeichen nichts.
D.h. auch die Leute (Sabine, Hartmut, Dirk, Karl usw.), die in
mindestens einem Punkt anderer Meinung sind als du. Diese Leute
haben aber sicher etwas dagegen, wenn du trotz anderer Meinung
für sie mit sprichst.
Die Gruppe, die du mit "wir" meinst, ist deutlich kleiner, und
welche Namen auf der Liste auftauchen, ist mir nur in einem Fall
wirklich klar.
Anders sieht es natürlich in den Fällen aus, in denen wirklich
alle gemeint sind, z.B. bei organisatorischen Fragen: "Wie
können wir mit weniger Aufwand besser kommunizieren?"
4. Die Gepflogenheiten
Bei Oekonux haben wir ja mittlerweile sogar die
Gepflogenheiten
[http://www.oekonux.de/liste/intro.html#Gepflogenheiten]
aufgeschrieben, die sich auf der Liste ausgebildet haben und
die von den allermeisten Leuten hier zustimmend kommentiert
werden.
Die "Gepflogenheiten" haben nicht wir aufgeschrieben, sondern
du. Stefan Mz und Benni haben Verbesserungsvorschläge
eingebracht, was man als Zustimmung werten kann. Karl und
irgendein Uli sind hingegen dagegen; das ignorierst du
jedoch. "Die allermeisten Leute hier" haben sich zu den
"Gepflogenheiten" bisher enthalten. Daß du dies als Zustimmung
wertest, erinnert mich stark an deine "Konsens"-Definition.
Solche Gepflogenheiten haben schon einen normativen
Charakter - und das soll ja auch gerade so sein.
Und genau dies ist der Grund, warum ich gegen dieses Regelwerk
bin.
Um ein normatives Regelwerk aufzustellen, benötigst du
Machtmittel. Z.B. kann der Duden-Verlag nur deshalb die deutsche
"Rechtschreibung" festlegen, weil es gesetzlich festgelegt ist,
daß genau dieses Regelwerk in Schulen und sonstigen Behörden
anzuwenden ist. Außerhalb des Bereichs, wo es mit Zwang
durchgesetzt wird, ist es jedoch wertlos.
Derartige Machtmittel hast du aber nicht (s.o.), d.h. deine
Verhaltensregeln können allenfalls unverbindlicher Natur sein.
Dann sollten sie auch so gemeint und einem entsprechenden
Hinweis versehen sein, auf daß sie schließlich aus Einsicht in
ihre Sinnhaftigkeit und nicht aus bloßer Spießer-Mentalität
befolgt weren.
cu,
Thomas
}:o{#
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de