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Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft



Hi Benni und Liste!

Danke für deine Reaktion. Ich denke, dass du ein paar wichtige Punkte
aufgreifst, über genau die ich gerne sprechen würde. Deine Antwort hat
mir übrigens in der Tat schon wieder neue Erkenntnisse gebracht.

Yesterday Benni Baermann wrote:
ich wills jedoch kurz halten. Bei so einem Monster von Mail macht eine
Punkt-für-Punkt Betrachtung IMHO keinen Sinn mehr.

Ich denke, es war ganz gut, das mal im Zusammenhang darzustellen.
Einzelne Punkte hast du ja rausgegriffen.

Würde ich mich da
dran machen, müsste ich aber tatsächlich bei fast jedem Deiner Punkte
Einspruch erheben - das nur um klar zu machen, dass hier tatsächlich
wirklich grundlegende Differenzen begraben liegen.

Ich hoffe, dass ich klar machen konnte, dass ich an diesen Differenzen
sehr interessiert bin. Und wenn möglich im Detail. Aber es ist
vielleicht in der Tat besser, wenn wir erst mal die großen Felder
klären.

Gut das die endlich
ans Licht kommen.

Hier kommt nichts "endlich ans Licht". Ich habe ein Konzept zur
Diskussion gestellt - sonst nichts. Ich dachte, dass du deswegen
genauso auf der Liste bist wie ich und viele andere? Ich kenne meine
Position am Ende einer solchen Diskussion jedenfalls nicht. Du
scheinst dir da hingegen schon sehr sicher zu sein.

Ich will also versuchen, statt dessen einige generelle Einwände gegen
Dein Vorgehen zu bringen:

1) Das ganze ist nichts anderes als die moderne Version der Legende
vom "guten König".

Ja - nennen wir hier i.d.R. MaintainerIn. Die Freie-Software-Bewegung
sieht das ja auch so, wenn sie von friendly dictators spricht.

Aber du hast natürlich Recht: Wenn die Existenz des Phänomens
Herrschaft als solche anerkannt wird, dann müssen sich auch Leute
darüber Gedanken machen, die an einer emanzipatorischen Gesellschaft
interessiert sind. Und dann geht es exakt darum, Bedingungen zu
finden, unter denen Herrschaft in diese emanzipatorische Vision passt.
Nichts anderes war mein Anliegen.

Natürlich ist eine Herrschaft, die nur die
Interessen jedes Einzelnen vertritt kein Problem,

Schön, dass wir uns grundsätzlich einig sind, dass Herrschaft so
verstanden kein Problem ist. Da scheint mir eine gemeinsame Grundlage.

nur wird es eine
solche eben nicht geben.

Entschuldigung, aber das erinnert mich fatal an: "Der Mensch ist
nunmal des Menschen Wolf und deswegen wird es eine emanzipierte
Gesellschaftsformation eben nicht geben." Hat m.E. auch genau den
gleichen Gehalt.

2) Das ist der theoretisch wichtigste Punkt:

Auch hier stimmen wir überein - wie ich in der Mail selbst
hervorgehoben hatte.

Grundsätzlich zu
kritisieren ist der "Aussenstandpunkt" den Du sehr oft einnimmst und
als "Standpunkt des Sozialsystems" oder gar der "Sozialeinheit" (ein
besonders gruseliges Wort) bezeichnest.

Nun, der Außenstandpunkt ist nochmal etwas ganz anderes als der
systematische Standpunkt der Gruppe. Ein Außenstandpunkt ist eben ein
Standpunkt, der von außen an die Gruppe herangetragen wird - würde ich
jetzt mal so verstehen. Der Standpunkt der Gruppe *kann* m.E. nur als
Innenstandpunkt gedacht werden. Ich glaube, dass das sehr leicht klar
wird, wenn du den Text nochmal ausführlich liest.

Ach so: s/Sozialeinheit/Gruppe/g und das Gruseln sollte verschwinden.

Es gibt ihn nicht

Na ja, mensch kann ihn nicht anfassen - das ist klar.

Dennoch halte ich eine solche Begriffsbildung für sinnvoll, wenn sie
mir hilft die Wirklichkeit zu verstehen. Und ganz ehrlich: Mit diesem
Konzept im Kopf verstehe ich plötzlich einige Dinge, die ich vorher
schlicht nicht verstanden habe. D.h. ich konnte mir die beobachteten
Phänomene nicht mit einem theoretischen Modell erklären. Das geht mir
mit der Marx'schen Kapitalismusdefinition / -kritik genau so.

Warum z.B. Herrschaft begrüßt werden kann, wird mir mit diesem Konzept
plötzlich schlüssig. Sklavenmentalität, die du hier wohl in Anschlag
bringen würdest, halte ich für ein bisschen dünn als Erklärung. Ganz
abgesehen davon, dass eine solche Sichtweise ein Menschenbild
konstituiert, mit dem ich mir eine emanzipierte Gesellschaftsformation
schlicht nicht mehr vorstellen kann.

und seine
einzige Funktion ist und war in der gesammten Geschichte (insbesondere
der Moderne) die Legitimation von Herrschaft.

Wenn es ihn nicht gibt, dann kann er auch keine Funktion haben. Du
meinst vermutlich, seine ideologische Behauptung hat eine Funktion.
Auch hier: Wenn du wirklich vertrittst, dass die Menschen *völlig*
eine Ideologie fressen, ohne dass die Ideologie auch nur irgendeinen
für die Menschen rationalen Kern hat, dann konstituiert auch das ein
Menschenbild, in dem ich Emanzipation prinzipiell nicht mehr für
möglich halte. Ich halte die Menschen nicht für so vollkommen
bescheuert. Jede Ideologie muss m.E. an etwas anknüpfen, was vor der
Ideologie da ist. Und genau darum geht's mir, das genauer raus zu
kristallisieren und Bedingungen zu finden, unter denen (z.B.) mit dem
Phänomen Herrschaft Emanzipation befördert werden kann.

In der Tat ist der Standpunkt des Sozialsystems eine wichtige
Grundlage für Herrschaft. Es kommt halt darauf an, was mensch unter
Herrschaft versteht. Meinetwegen können wir das übrigens auch
Hutzliputzli nennen. Mir geht es nicht um Worte sondern um Inhalte.

Mir sind noch weitere Beispiele eingefallen, die m.E. Herrschaft im
dargestellten Sinne konstituieren, mit der ich auch aus
emanzipatorischer Sicht kein Problem habe: W3C (World Wide Web
Consortium), FSF (Free Software Foundation), RFCs (Request for
Comments).

Der W3C setzt Normen und diese Normen sind nicht nur ausdrücklich *im
Interesse* des Sozialsystems Internet, sondern auch nach meiner
Wahrnehmung ist das so. Der W3C nimmt damit als Institution den
Standpunkt des Sozialsystems ein und das wird auch von den
allermeisten so anerkannt. Du hast selbst schon betont, wie wichtig
Freie Standards sind. Nun ist eine der interessanten Dinge am W3C,
dass er - ähnlich wie bei Freie-Software-Projekten - über praktisch
keine Macht im Sinne von Zwangsmitteln verfügt, sich seine Normen aber
dennoch tendenziell durchsetzen.

Ähnliches gilt für die FSF in Bezug auf die Freie-Software-Gemeinde.
Wenn die FSF die GPL vor Gericht einklagt, dann setzt sie sogar über
den Staat vermittelt Dominationsmittel ein - das hat ThomasB ja
bereits hervorgehoben. Damit nimmt die FSF - und auch das formuliert
sie ziemlich explizit so - den Standpunkt des Sozialsystems
Freie-Software-Community (wofür sie ja im übrigen auch kritisiert wird
BTW).

In beiden Fällen gibt es übrigens auch einen nicht unerheblichen
repräsentativen Anteil bzgl. der jeweiligen Sozialsysteme.

Die RFCs, die bekanntlich wesentlich die Standards des Internet
bilden, spielen in der gleichen Liga. Auch hier handelt es sich um
Normen, die im Interesse des Sozialsystems Internet definiert werden.
Auch hier gibt es wenig oder gar keine Dominationsmöglichkeiten.
Dennoch handelt es sich m.E. in vielerlei Hinsicht um ein
Herrschaftsphänomen. Zumindest spielt hier der Standpunkt des
Sozialsystems eine wesentliche Rolle.

Mein Anliegen wäre, sich *exakt* diese Phänomene eingehend anzuschauen
und genauer zu kristallisieren, wie diese Dinge funktionieren.
Insbesondere: Wie schaffen es diese Systeme, sich ohne Domination
durchzusetzen und warum funktioniert das so?

Und dass das bei Software i.A. eben nicht selbstverständlich ist,
zeigt das Beispiel M$. M$ hat - was ja inzwischen aktenkundig ist -
massiv Domination angewendet um dahin zu kommen, wo es ist. Es scheint
also hinsichtlich des Herrschaftsbegriffs einen fundamentalen
Unterschied zu geben zwischen Freien Institutionen und
MarktteilnehmerInnen. Wo liegt der genau? Was können wir daraus
lernen mit Blick auf eine neue Vergesellschaftungsform?

Das betreibst Du jetzt
mit etwas postmodernem Flitter weiter.

Ich nehme mal zur Kenntnis, dass mein sehr ernstes Bemühen um einen
Erkenntnisgewinn bei dir nicht angekommen ist :-( .

In "Empire" von Hardt/Negri ist
die Kritisierung dieses Aussenstandpunktes als "Transzendenz" vs. die
"Immanenz" der Multitude ein zentraler Punkt.

Zu Außenstandpunkt hatte ich schon was gesagt. Wichtig wäre zu
klären, wann was vorliegt. Auch das Teil meines Anliegens.

Mein Verdacht ist, dass der Außenstandpunkt aus der Entfremdung eines
Innenstandpunkts herrührt. Die Entfremdungsphänomene an dieser Stelle
genauer zu analysieren wäre dann super-wichtig. Wann treten die auf
z.B.?

3) "Repräsentation" ist etwas extrem problematisches. Ich finde es
gibt kaum eine größere Anmaßung als die der Repräsentation. "Wer wagt
es für mich zu sprechen?" antworte ich allen Repräsentanten dieser
Welt.

Nun, die RepräsentantInnen, denen du es explizit zubilligst, können
doch wohl für deinen Anteil an einem Sozialsystem sprechen - oder? Für
dich als Person als Ganzes kannst sowieso bestenfalls du selbst
sprechen.

Aus praktischen Erwägungen heraus kann man das Prinzip der
Nicht-Repräsentation sicherlich für sehr eng umrissene Aufgaben
aufheben, aber dann muss man immer sehr genau aufpassen, was da
passiert und es muss immer möglich sein, die Verfahren und
Institutionen zu ändern.

Meine Rede. Genau das zu untersuchen gehört zu meinem Anliegen.

4) Herrschaft bedeutet immer zeitlich dauerhaft gemachte Macht, sonst
ist sie keine.

Da bin ich unsicher, ob es Sinn macht das so bruchlos zu behaupten.
Auch Teil meines Anliegens, das genauer zu diskutieren.

Vielleicht sehen wir mit dem Herrschaftsphänomenen bei Freier
Software, W3C, RFCs die emanzipative Variante den Systemstandpunkt
einzunehmen? Die aufgrund irgendwelcher, eben zu analysierender
Tatsachen (weitgehend) ohne Domination auskommt und damit eben dem
Ideal von Herrschaft entspricht? Wie geht das?

Die Rolle der in Technik gegossenen Domination, ist übrigens einer der
Punkte, die ich bei Lessig so spannend finde. Bei Software ist das
nämlich alle Nas' lang so.

Herrschaft ist zementierte Macht und somit das
Gegenteil von Freier Kooperation und damit auch von Selbstentfaltung.

Ich mag jetzt nicht schon wieder über Freie Kooperation diskutieren.
Für mich ist Freie Kooperation Faustrecht, bei dem die Stärkere sich
durchsetzt und dies hat m.E. nichts mit Herrschaftsfreiheit zu tun -
sondern ist bereits alltägliche Praxis.

Aber interessant: Genau das, was ich am dargestellten Konzept von
Herrschaft spannend finde, fehlt tatsächlich in der Freien Kooperation
vollständig - insofern ist deine Position konsistent. Erst die Gruppe,
die über den Standpunkt des Sozialsystems mitkonstituiert wird,
schafft eine Verbindung zwischen den isolierten Monadensubjekten, die
die Freie Kooperation eben unverbunden nebeneinander her laufen lässt.
Wenn du diese Unverbundenheit nicht irgendwie emanzipativ knackst,
dann bleibst du bei dem, was wir haben.

Zum Verhältnis zur Selbstentfaltung hatte ich einiges geschrieben.



Zum Schluss noch ein Plädoyer aus StefanMz' Mund: Auf der
Endbesprechung der letzten Konferenz hat StefanMz darauf hingewiesen,
wie wichtig es für Oekonux ist, die Irritationsfähigkeit zu erhalten.
D.h. für mich die Möglichkeit, auch mit unerwarteten Einwürfen
inhaltlich umzugehen und sie nicht einfach abzukanzeln, wie es in der
Linken ach so üblich (und ach so einfach!) ist. Die Offenheit, die
immer als wesentliche Qualität von Oekonux hervorgehoben wurde, steht
und fällt letztlich genau damit. Diese geistige Offenheit ist
letztlich der Garant dafür, dass "wir" nicht anfangen nur noch im
eigenen Saft zu schmoren - wie so viele der linken Sekten. Nun, ich
kann mich StefanMz' Plädoyer nur anschließen.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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