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[ox] Was kann man hier tun? (Gegenbilder-Buch)



Abschnitt aus: Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien
Vereinbarungen, Kapitel 2.3.C:
http://www.opentheory.org/gegenbilder_2-3/v0001.phtml#c

Was kann man hier tun?

(66) 1. Rausgehen aus Verwertungsstrukturen: Wenn wir erkennen, daß die
subjektlose Verwertungsmaschine des Kapitalismus unsere
Lebensbedingungen zerstört, können wir nicht die politische Arbeit gegen
den Kapitalismus auf seinen Verwertungsstrukturen aufbauen. Ein Beispiel
aus dem realen Leben: Zunächst sollte der Verkauf politischer Bücher die
politische Arbeit finanzieren, dann sollte der Verkauf politischer
Bücher den Verlag finanzieren und schließlich wurden die Krimis
entdeckt, die viel mehr Geld brachten als die politischen Bücher. Nun
muß jedes Buch selbst seine Kosten "erwirtschaften", denn auch die
(Selbst-) Angestellten wollten "bezahlt" sein, und die politischen
Bücher starben aus. - Andere Beispiele sind Abhängigkeit von Spenden
oder gar staatlichen Subventionen, um "den Laden am Laufen" zu halten.
Natürlich kostet politische Arbeit auch Geld, und Geld zu nehmen ist
nichts Verwerfliches. Doch der Rubikon wird überschritten, wenn die
eigene, individuelle Existenz von der Existenz der Gruppe abhängig wird,
was bedeutet, den Erhalt der Gruppe im eigenen partialen
Überlebensinteresse als Selbstzweck zu betreiben. Politische Gruppen
müssen ohne existenziellen Schaden ihrer Mitglieder untergehen können,
und Mitglieder müssen Gruppen verlassen können, ohne daß ihre Existenz
infrage steht. Das geht nur in autonomen Strukturen, die nicht nach
Verwertungsprinzipien funktionieren.

(67) 2. Individuelle Selbstentfaltung als Grundlage der Bewegung: Das
Dominant-werden von partiellen Individualinteressen auf Kosten anderer
und das Entstehen "informeller Eliten" können weder durch bürokratische
Verfahren (" Wahlen") noch moralische Appelle (" Du sollst nicht
instrumentalisieren") verhindert werden. Die einzige funktionierende
Grundlage ist die Selbstentfaltung der beteiligten Individuen, die
Durchsetzung ihrer allgemeinen Interessen. Das schließt ein, allen auch
die Chance, den Raum, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung zu lassen,
denn wer weiß schon von vornherein, wie das geht! Das "Möglichkeiten ...
lassen" ist jedoch nicht die "Verantwortung" bestimmter Personen - etwa,
der "Schlaueren". Gerade eine solche "Verantwortungshaltung" Weniger
festigt die personalisierten Strukturen, die sie zu bekämpfen meint: Es
gibt niemanden, der das "Recht" hat, anderen "Möglichkeiten zu lassen" -
genauso wie niemand das Recht hat "Möglichkeiten zu nehmen". Das eine
schließt das andere logisch mit ein! Es ist die "Verantwortung" aller
und jedes Einzelnen, Strukturen zu schaffen, in denen das Lassen und
Nehmen von Möglichkeiten keine Frage mehr ist! Dort, so sich Menschen
unbeschränkt entfalten, ist für "Eliten" kein Platz mehr.

(68) 3. Kritik und Reflexion der Bedingungen, nicht der Personen: Wir
schreiben immer wieder gegen die Moralisierung in emanzipatorischen
Bewegungen an. Wie aber sollen sich Subjektbeziehungen durchsetzen, wenn
es keine moralischen Leitlinien gibt, an die sich die Menschen halten
können? Subjektbeziehungen setzen sich nur dann durch, wenn ich es will.
Will ich die Selbstentfaltung, dann geht das nur in intersubjektiven
kooperativen Beziehungen. Was aber ist, wenn diese theoretische
Erkenntnis sich praktisch nicht durchsetzt? Dann gibt es keine andere
Chance, als die Gründe für das Unterlaufen anzusprechen, und die
strukturellen Ursachen, die das Unterlaufen nahelegen, aufzudecken. Das
geht nur in offener Kritik und Reflexion des eigenen Tuns. Jedes
Zurückhalten und Unterlassen von Kritik um der "Harmonie willen" ist
kontraproduktiv - jede Unterdrückung erst Recht. Eine unterbliebene
Kritik ist eine vertane Chance - für mich und alle. Problematisch ist
jedoch personalisierende Kritik. Es geht niemals um "Schuld", sondern
immer um die Gründe für mein Handeln. Es gibt kein unbegründetes
Verhalten, seies auch noch so daneben. Es gibt immer nur das
Noch-nicht-Kennen der Gründe für das Handeln des anderen. Über das
Kennenlernen der Gründe können wir die individuellen Prämissen für das
Handeln verstehen, die auf die Bedingungen verweisen. Um diese
Bedingungen geht es, ihre Rolle als strukturelle Handlungsvoraussetzung
ist aufzudecken. Gerade die Offenheit und Kritikfähigkeit entlastet mich
von der Notwendigkeit, die anderen auch zu "mögen". Dort, wo Gruppen nur
noch über Sympathien funktionieren, wo sich verschiedene
sympathiegetragene Klüngel bilden, ist etwas faul.

(69) 4. Kollektivierung von Entscheidungen: Die Beteiligung an oder
Gründung von Gruppen auf der Grundlage der individuellen Interessen ist
die eine Sache. Eine andere ist es, Entscheidungen für das gemeinsame
Handeln zu fällen. Nicht immer liegt auf der Hand, ob diese oder jene
Entscheidung im allgemeinen oder nur partiellen Interesse liegt. Dennoch
muss entschieden werden, will die Gruppe nicht zur einer "Gruppe auf dem
Papier" mutieren. Spehr schlägt ein "collective leadership" vor: "Es
reicht nicht, daß alle ihre Interessen formulieren und in ihrer
Unterschiedlichkeit einbringen; irgend jemand muß den jeweils nächsten
Schritt formulieren, der daraus folgt, und in einer freien Kooperation
sollte diese Fähigkeit soweit wie möglich kollektiviert sein" (Spehr
1999, 302). Kollektivierte Entscheidungsformen kann es viele geben,
wichtig ist, daß sie der Lage angemessen und leicht veränderbar sind:
Delegationen mit Mandat, Rotationen in Entscheidungspositionen,
zeitliche Befristungen für bestimmte Aufgaben etc. Wichtiges Merkmal ist
hierbei, daß nicht immer "alle alles" entscheiden, das wäre viel zu
uneffektiv, sondern das es ein transparentes Verfahren für gemeinsame
Entscheidungen gibt.

Spehr 1999 ist das "Alien-Buch"

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