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[ox] Die Säge der Benita Torres



[1  <text/plain; ISO-8859-1 (quoted-printable)>]
Benni hats erwähnt, gab wohl Stress mit der diskus-Beilage zur jungle world, 
aber inzwischen hab ich sie auch gekriegt.
Ich schick euch den Text, der von mir drin war, hiermit auch zu. Ist 
natürlich begrifflich noch unschärfer und suggestiver, als es mit GA schon 
war ...
Liebe Grüße und ich finde die Debatte zur FK auf der Liste äußerst spannend, 
ehrlich!

"Benita" ist frei, falls es jemand wo hinstellen mag oder so. Der Text gehört 
eigentlich in ein neues Buch, gewissermaßen eine Art Folge- oder auch 
Gegenband zu den "Aliens", das unter dem Arbeitstitel "Jenseits von 
Andromeda" läuft und von dem außer vielen Plänen noch nicht viel mehr Text 
existiert, als eben Benita ...



Die Säge der Benita Torres oder Die Wahrheit über den Vulkanier

Das Erste was einem auffällt, wenn man mit einem Shuttle auf dem Raumhafen 
von Tomos landet - einem kleinen, aber berühmten Planeten in den äußeren 
Spiralarmen der Andromeda-Galaxie - ist ein riesiger, durchgesägter Tisch, 
der sich als eine Art Denkmal neben der Landebahn erhebt. Der zweite 
bemerkenswerte Eindruck, nachdem man das Shuttle bereits mit etwas wackeligen 
Knien durch die Rutsche verlassen hat, ist das große Schild über dem Eingang 
zum Raumhafen-Gebäude, auf dem in überdimensionalen Lettern steht: 
"Bienvenido a la patria di Benita Torres".
Benita Torres ist so etwas wie die Nationalheldin von Tomos. Sie war unter 
den ersten EinwanderInnen, die nach Tomos kamen, weil sie von den anderen 
Planeten die Schnauze voll hatten. Die Legende erzählt, Benita Torres habe 
als Datentechnikerin in einem der schmuddeligen High-Tech-Sweatshops ihres 
Heimatplaneten gearbeitet. Sie war gerade dabei, mit einer Hochleistungs-Säge 
die Rückwand eines Datenspeichers zu öffnen - Benita konnte sich nie recht 
abfinden mit der Philosophie des geplanten Verschleißes, wonach man kaputte 
Geräte sofort wegzuwefen hat, damit die Wirtschaft floriert - als sie zu 
ihrem Chef gerufen wurde. Der Chef eröffnete ihr, er schätze ihre 
Arbeitsleistung wirklich außerordentlich, der Betrieb verdanke ihr viel, aber 
die konjunkturelle Lage - die Gewinnmargen - die Konkurrenz - kurzum, sie sei 
gefeuert.
Benita, in Latzhose und hochgekrempelten Ärmeln, die Säge immer noch in der 
Hand, sah den Chef ruhig an. Sie hatte so etwas oft genug erlebt. Dann trat 
sie an seinen Schreibtisch - eine wunderschöne, polierte Edelholzarbeit - und 
sägte ihn mitten durch. Der Tisch mit all den Geräten und Papieren stürzte 
mit ohrenbetäubendem Lärm zusammen. Benita nahm die kleinere Hälfte des 
Schreibtischs, mitsamt den zwei Tischbeinen, die da noch dranhingen, sagte: 
"Aber das gehört mir!", drehte sich um und ging.
Der Name des Chefs ist nicht überliefert. Es wird erzählt, seine Sekretärin 
habe ihn Stunden später gefunden, wie er immer noch mit unverwandtem Blick 
auf die offene Türe starrte, durch die Benita Torres hinausgegangen war.

Das war in gewisser Weise die Geburtsstunde des Tomismus. Benita Torres' 
Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wirkte wie ein Signal. 
Hölzerne Schreibtische kamen bei den Chefs in sehr kurzer Zeit aus der Mode. 
Was die Tomisten zusammenführte, war der Eindruck, dass es ganz gleich war, 
nach welchem System ihr Planet verwaltet wurde - repräsentativ, 
basisdemokratisch, sozialstaatlich, marktwirtschaftlich, staatssozialistisch, 
naom, kroptokrativ oder mombasisch -, im Endeffekt hatte man nirgends was zu 
sagen. Man konnte nichts mitnehmen, wenn man rausflog; und man flog leicht 
raus, weil man nichts mitnehmen konnte. Es war, fanden die Tomisten, ähnlich 
wie bei der Mülltrennung: auf allen Tonnen steht was Verschiedenes drauf, 
aber letzten Endes wird doch alles zusammengeschüttet. 
Die Planeten, die heute noch so regiert werden, werden von den Tomisten 
verächtlich Kühlschrankplaneten oder Knastplaneten genannt. 
Kühlschrankplaneten, weil man ständig etwas geliefert bekommt, was man ganz 
bestimmt nicht bestellt hat, nur weil man angeblich irgendwann vorgeburtlich 
unterschrieben hat. Man bekommt Verfassungen geliefert, Gesetze, 
Technologien, Umgehungsstraßen und Kriege, obwohl man schwören könnte, dass 
man nichts geordert hat und bestimmt nicht dabei war, als das ausgehandelt 
wurde. Knastplaneten, weil auf ihnen keine freie Kooperation herrscht, 
sondern erzwungene. Man steht drin und hat sie zu schlucken, wie sie ist. Man 
kann keinen Einfluss auf die Regeln nehmen, weil man seine 
Kooperationsleistung nicht verweigern oder einschränken darf, und weil es 
niemand interessiert, wenn man geht, weil der Schreibtisch ja da bleibt. 
Knastplaneten sind, sagen die Tomisten, wie Babuschkas: eine erzwungene 
Kooperation in der nächsten, ob Staaten, Betriebe, Schulen oder Familien, ein 
einziges System von kleinen, großen und mittleren Knästen. 
Natürlich bekannten sich auch die Kühlschrank- und Knastplaneten zu Freiheit, 
Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber das war, fanden die Tomisten, wenig wert. 
Gut für die, die immer mit den Schreibtischen zurückblieben; schlecht für 
die, denen gesagt wurde, der Schreibtisch geht euch gar nichts an. Die 
Tomisten nannten das "desking": Unterschlagen, dass auch der Schreibtisch 
Teil und Produkt einer Kooperation war; Herausschneiden von Teilen aus der 
kollektiven Kooperation, über die man dann nicht mehr verhandeln konnte. Ein 
anderer Begriff war "Gartenzwerging": auch wenn man ganz genau gleich groß 
gemacht wurde, stand man immer noch im Garten herum, im Schatten eines 
riesigen Hauses, blieb der größte Teil des kollektiven Reichtums der 
Gleichheit entzogen - da kam man nicht ran. 

Viele Jahre und viele zersägte Schreibtische später begann dann die 
Besiedlung von Tomos. Tomos galt allgemein als ein wenig brauchbarer Planet, 
aber für die Bedürfnisse der Tomisten war er ideal. Auf Tomos konnte man 
alles teilen, ohne dass es zu Katastrophen kam. Das lag daran, dass die 
Schwerkraft nicht richtig funktionierte; es gab schon welche, aber irgendwie 
deutete sie nicht so konsequent in eine Richtung. Deshalb kann man auf Tomos 
heute seine Wohnung im 1.Stock herausziehen und mitnehmen, wenn einem die 
Hausgemeinschaft nicht gefällt, und sich woanders anlagern, und das Haus 
fällt trotzdem nicht zusammen. Auch die Molekülstruktur ist auf Tomos ein 
wenig loser, so dass man auch Produktionsanlagen mit geringem Aufwand 
auseinander ziehen kann, wenn man sich über den weiteren Kurs eines Betriebes 
oder Projekts nicht mehr einig wird. 
Man kann Leute auf Tomos auch nicht schlagen oder erschießen. Also, man kann 
es versuchen, aber das Ergebnis ist unbefriedigend: das Gewebe weicht einfach 
aus. Nicht einmal einsperren kann man sie; sie krümeln sich einfach molekular 
nach draußen. Heute aus der Mode gekommen, aber in den frühen Jahren viel 
gebraucht ist die Möglichkeit, durch Schaben, Ziehen, Stauchen und Falten 
körperliche Merkmale wie Größe, Hautfarbe und Geschlecht umzugestalten - für 
den Fall, dass eine Gruppe, gestützt auf Absprachen über ihre gemeinsame 
Kooperationsleistung, versucht Schilder aufzustellen, "wir müssen leider 
draußen bleiben".
Man kann sich denken, welch ungeheuren Effekt diese Tatsachen auf die 
tomeische Gesellschaft haben. Die ungleiche Allokation von Gütern lässt sich, 
wenn die Anderen mit dieser Struktur der Kooperation nicht zufrieden sind, 
nicht verteidigen. Deshalb kann man Kooperation auch nicht dadurch erzwingen, 
dass man alles zu sich rafft und den Andern sagt, du bekommst nur was ab, 
wenn du dich mir zur Verfügung stellst oder für mich arbeitest - sie nehmen 
sich einfach, was sie brauchen. Man kann sich auch nicht nach bestimmten 
Eigenschaften zusammenrotten, um andere kollektiv aus Kooperationen 
auszuschließen, denn die Eigenschaften sind wandelbar. Das einzige 
Druckmittel, das es gibt, ist die Verweigerung oder Einschränkung der eigenen 
Kooperationsleistung; und dies steht allen zur Verfügung. 

Die konterrevolutionäre Propaganda der Kühlschrank- und Knastplaneten, wen 
wundert's, überschüttete die Galaxie mit markerschütternden Lügen über die 
grauenvollen Gebräuche der Tomisten. Alles würde verwahrlosen. Kultur und 
Zivilisation zerfielen. Nichts würde funktionieren, weil immer grade ein 
unzufriedener Arbeiter die Kurbelwelle oder den Generator mit nach Hause 
genommen hat, um eine neue Verhandlung zu erzwingen. Nie stehe ein warmes 
Essen auf dem Herd. Die Luft sei mit Blutgeruch erfüllt, weil die Leute sogar 
ihre Hunde und Katzen zersägten, wenn sie sich trennten. 
Okay. Es gab, in der Anfangszeit, Exzesse. Man kann auch sagen, dass manche 
Prozesse auf Tomos bis heute etwas langsamer ablaufen, weil man in den 
verschiedensten Kooperationen eben nicht einfach durchziehen kann. Und wahr 
ist, dass die Tomisten bis heute leidenschaftlich Schreibtische zersägen, und 
dass dies bei allem bemühten Verständnis ("eine symbolische Handlung, durch 
die man sich der historischen Grundlagen der eigenen Gesellschaft 
vergewisssert"), auf Außenstehende in höchstem Maße albern wirkt. Okay.
All die anderen Argumente dagegen, die von den Kühlschrank- und Knastplaneten 
mit großer Geste gegen den Tomismus vorgebracht wurden - der Tomismus könne 
nicht funktionieren, weil man ein Förderband oder eine Stahlbirne nicht 
teilen könne; alle würden sich nur noch in unendlichen Diskussionen über 
sämtliche Regeln ergehen; der Andromedaner sei dafür einfach nicht gemacht 
usw. - erscheinen heute im Rückblick genauso lächerlich wie seinerzeit auf 
Terra die Behauptung, Ehen dürften nicht geschieden werden, weil sonst die 
Kinder verelenden, die Haustiere unglücklich werden und die Männer jämmerlich 
verhungern würden, da Kochen nun mal nicht in ihrer Natur liege.

Je mehr und bessere Erfahrungen die Kolonisten auf Tomos mit ihrer neuen 
Gesellschaft machten, desto stärkere tomistische Bewegungen entstanden, die 
nicht mehr auswandern wollten, sondern die Kühlschrank- und Knastplaneten 
gleichfalls verändern. Wenn es die Molekularstruktur nicht hergab, mussten 
eben andere, gesellschaftliche und soziale Voraussetzungen für freie 
Kooperation geschaffen werden. Man konnte doch überlegen, durch welche 
Maßnahmen, Vereinbarungen und Veränderungen sich die molekularen Tatsachen 
auf Tomos auch für andere Planeten simulieren ließen. Und dann konnte man das 
doch machen.
Diese Auseinandersetzungen dauern bis heute an. Sägen sind in praktisch allen 
Baumärkten dieser Planeten verboten worden, aber die Bewegung hält das nicht 
auf. Das zentrale Manifest der neue tomistischen Interplanetare, das überall 
heimlich verteilt wird, gruppiert sich um zwei Parolen. Die eine lautet: Die 
Welt ist ein Knast, befreit euch! Die andere lautet: Ihr habt den Kühlschrank 
nicht bestellt, also braucht ihr ihn auch nicht zu bezahlen!
Viele Deserteure, die sich aus einem unsinnigen Krieg absetzen, malen als 
Abschiedsbrief einen Kühlschrank in den Sand. Es werden Unsummen verausgabt, 
um immer wieder aufs neue die Gitterstäbe abzuwischen, auszuspachteln oder zu 
übertünchen, die von unsichtbaren Händen auf Fabrikmauern, Parlamentsgebäude, 
Schultafeln und Supermärkte gemalt werden. Nicht wenige Chefs finden abends 
auf dem Parkplatz ihr Auto besprüht mit einer gezackten, sägeartigen Linie, 
und einen Zettel daneben: "Aber das gehört uns!"
In diesem Zusammenhang entstand auch eine populäre und häufig missverstandene 
Geste, das sogenannte "Fork". Man hebt dazu die Handfläche und spreizt 
Mittel- und Ringfinger auseinander, so dass eine Gabelung entsteht. Im 
tomistischen Gebrauch bedeutet das so viel wie "danke, wenn du das so siehst, 
dann teilen wir uns hier lieber, oder wir fangen nochmal neu an zu 
verhandeln." Viele Tomisten verwenden sie auch einfach als Gruß oder 
Erkennungszeichen. Die Geste soll auf einen vulkanischen Theoretiker 
zurückgehen, der sich auf seinen ausgedehnten Reisen in Galaxien, die nie 
zuvor ein Vulkanier betreten hat, bahnbrechende Beiträge zur Anwendbarkeit 
des Tomismus auf Systeme mit konventioneller Schwerkraft und Molekülstruktur 
geleistet hat. Die politischen Schriften dieses Vulkaniers weden auf Terra 
selbstverständlich unter strengstem Verschluss gehalten. Die Geste dagegen 
ist in einigen populären TV-Serien bis heute erhalten geblieben. 

Christoph Spehr

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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